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СТИХИ СИРОТЕ (2)

Обнимаю тебя кругозором
Гор, гранитной короною скал.
(Занимаю тебя разговором —
Чтобы легче дышал, крепче спал.)

Феодального замка боками,
Меховыми руками плюща —
Знаешь — плющ, обнимающий камень
В сто четыре руки и ручья?

Но не жимолость я — и не плющ я!
Даже ты, что руки мне родней,
Не расплющен — а вольноотпущен
На все стороны мысли моей!

...Кругом клумбы и кругом колодца,
Куда камень придет — седым!
Круговою порукой сиротства, —
Одиночеством — круглым моим!

(Так вплелась в мои русые пряди —
Не одна серебристая прядь!)
...И рекой, разошедшейся на две —
Чтобы остров создать — и обнять.

Всей Савойей и всем Пиемонтом,
И — немножко хребет надломя —
Обнимаю тебя горизонтом
Голубым — и руками двумя!

21-24 августа 1936



Verse an eine Waise (2)

Horizont für dich sein! Dich umtürmen!
Gipfelkranz dir, granitnes Massiv!
(Gegen Angst im Gespräch dich beschirmen -
Atme frei dann und schlafe mir tief!)

Deine Burg sein, mit mächtigen Flanken,
und ein Mantel, der grün sie umschließt -
ja, als Efeu, der Steine umrankend,
hundertvierarmig dich überfließt.

Doch ich bin weder Efeu noch Geisblatt.
Deine Arme sind meinen verwandt.
Dich umwuchern? - Oh nein, dir sei Freistatt
mein Gedank' der sich himmelweit spannt.

Dich, ein Beet oder Brunnen, umreiße
ich im Kreis: grauer Stein bis zum Grund.
Fühl dich sicher! - Auch ich bin ja Waise,
unsre Einsamkeit eint sich zum Rund.

(So hat mir sich manch silberner Streifen
in die hellbraunen Haare gemengt!)
Ach, ein Fluss zu sein, der, sich verzweigend,
eine Insel erschafft und umfängt.

Ach, ich fühle mein Rückgrat leicht knacken
als Savoyen und ganz Piemont.
Mit zwei Armen, so möcht ich dich packen
und umblauen als dein Horizont.

21.-24. August 1936

Thema dieses Gedichts ist Narzissmus, deshalb ist Voraussetzung zum Verständnis dieser Interpretation die Narzissmus-Definition auf meiner Homepage und die Interpretation eines Mandelstam-Gedichts, das narzisstischen Größenwahn schildert, ebendort.

Zu der narzisstischen Größenvorstellung, das Weltall auszufüllen wie der Fötus vor der Geburt seine Welt, die Gebärmutter, ganz ausfüllte, gehört offensichtlich bei schwangeren Frauen das erhebende Gefühl, ihr Ungeborenes in sich zu bergen und seine Welt zu sein. Dieses Gefühl grandioser Mütterlichkeit gestaltet Marina Zwetajewa in dem hier interpretierten Gedicht. Die mütterliche Sehnsucht, einen Menschen so mit Beschlag zu belegen, dass er wieder abhängig ist wie ein ungeborenes Kind, lebt sich in ihrem Gedicht Die Höhle aus. Das mütterliche lyrische Ich bietet dem Du liebende Umsorgung und Geborgenheit, aber nimmt ihm auch seine Freiheit und engt es ein. Unfreiheit, Eingesperrtsein, Einengung wird aber vom Ungeborenen nicht empfunden - so etwas kennt dieser selige Urzustand von Harmonie, Spannungsfreiheit, Geborgenheit nicht, das ist ja das Einmalige und Unwiederbringliche an ihm. Zwetajewas Gedicht stellt ihn in der Fantasie wieder her, indem das mütterliche Ich sich megaloman zu einer Welt weitet, zu einem Bergkranz (1), zu jemandes Horizont, ja zu einem Land, Savoyen und Piemont - so bietet es seinem Schützling Geborgenheit und Freiheit zugleich. Das ist natürlich eine Utopie, aber in jeder Mutter schlummert wohl solch eine narzisstische Erinnerung an Schwangerschaft, als sie ihr Ungeborenes in sich barg und seine Welt war und es nicht dabei einschnürte - deshalb ist es legitim, es dichterisch zu gestalten.

1) Im Original steht: "Ich umarme dich als Horizont (Gesichtskreis) / von Bergen, als granitener Kranz (Krone) von Felsen"

   
 
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