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Доблесть и девственность! — Сей союз
Древен и дивен, как Смерть и Слава.
Красною кровью своей клянусь
И головою своей кудрявой  —

Ноши не будет у этих плеч,
Кроме божественной ноши — Мира!
Нежную руку кладу на меч:
На лебединую шею Лиры.

27 июля 1918



Jungfrauen-, Heldentum, euer Bund
Ist alt und edel wie Tod und Ehre.
So will ich bei meinem Blute und
Meinem Haupte, dem lockigen, schwören:

Schultern will ich nur die eine Last:
Welt, du bist meine göttliche Bürde!
Zarte Frauenhand, so halt' gefasst
Als mein Schwert den Schwanenhals der Lyra!

27. Juli 1918

Warum gehören kriegerische Tapferkeit und Jungfräulichkeit zusammen wie Tod und Ehre? Krieger und Jungfrau opfern beide Großes: Er, wenn es sein muss, sein Leben, sie die Liebe. Zwetajewas Gedicht lässt natürlich an Schillers Drama Die Jungfrau von Orleans denken, in dessen Heldin sich ebenfalls Kriegertum und Jungfräulichkeit verbinden. Gleich einer Priesterin oder Prophetin, die Mittlerin zwischen den himmlichen Mächten und den Sterblichen ist, wird Jeanne d’Arc von Gott mit kriegerischem Geist inspiriert, den sie an die Franzosen weitergibt. Vom priesterlichen Menschen aber wird seit alters gefordert, der Liebe zu entsagen, damit der Geist, mit dem (ein) Gott ihn inspirieren will, in ihm ein reines Gefäß und Medium vorfindet, das nur von ihm und nichts anderem erfüllt wird und ihm mit ungeteilter Hingabe dient. So ist dem katholischen Priester das Zölibat auferlegt, und die römische Vestalin musste ihre Jungfräulichkeit wahren.
Deshalb fragt sich Johanna von Orleans, als Liebe zu einem Mann in ihr aufgekeimt ist, zu Recht mahnend:

Wer? Ich? Ich eines Mannes Bild
In meinem reinen Busen tragen?
Dies Herz, von Himmels Glanz erfüllt,
Darf einer ird’schen Liebe schlagen? (IV, 1 - 2542-2545)

Ist sie doch Seherin, Priesterin, heilige Prophetin und von Gott begeistert (hier bedeutungsverwandt mit griechisch mainestai "rasen", "inspiriert sein"). Aber als Liebe zu einem Mann sie erfüllte, taugte sie nicht mehr als Gefäß und Tempel für Gottes Inspiration und verlor die Macht, die Franzosen zum Widerstand gegen die Eindringlinge zu begeistern.
Mit dem Priester-Propheten ist der Dichter verwandt, denn beiden wird göttliche Inspiration zuteil. Den Seher befähigt sie zur Weissagung, den Dichter zum Lied. Prophet (Prorok) nennt Puschkin sein berühmtes Gedicht, das die visionäre Entrückung des inspirierten poeta vates schildert. Er lebt in der Wüste, denn vom Dichter und Propheten wird Absonderung von den Menschen verlangt, in ihrem Treiben darf er nicht aufgehen, sonst ist er nicht rein und frei für die Empfängnis der Inspiration. Auch in dem Gedicht An den Dichter (Poetu) fordert Puschkin eine unabhängige Lebensweise für den poeta vates. Und in Dichter (Poet) sucht der Dichter die Einsamkeit, weil er nur dort ungestört die Inspiration empfangen kann. Auch in Lermontows Prophet (Prorok) sondert der Dichter sich ab und lebt in der Wüste, womit er die Durchschnittsmenschen herausfordert. Sie werfen ihm Hochmut vor.
Diese Lebenshaltung des Sich-Bewahrens für die Inspiration ist mit der Art von Jungfräulichkeit, wie sie Zwetajewas Gedicht preist, verwandt: keine demütige, verzichtende Weltabgewandtheit einer Nonne, sondern stolze Jungfräulichkeit, die sich der Frauenrolle verweigert, um frei wie ein Mann künstlerische Werke zu erschaffen, und so mit dem männlichen Prinzip, dem männlichen Persönlichkeitsanteil der Autorin (vgl. Zwetajewa als Mann) einen "Bund" eingegangen ist, der "alt und edel" ist wie "Tod und "Ehre". Ihr Musikinstrument gleicht deshalb nicht nur einem Schwan, der ein altes Symbol für Musik und Dichtkunst ist (1), sondern auch einem Schwert, das für Männlichkeit und Heldentum steht.

1) Vgl. Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. Stichwort: Schwan

   
 
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