P.E. steht für Pjotr Efron, den Bruder von Marina Zwetajewas Ehemann Sergej Efron. Marinas Verhältnis zu Pjotr war innig, am Tod seiner noch sehr kleinen Tochter nahm sie Anteil und es entstand dieses Gedicht (1).
Als Schwalbe in einem Schwarm ist die Seele des Neugeborenen aus einem fernen Land gekommen, das man sich als Reich der Seelen vorstellen kann. Die Seele ist in den Babykörper eingegangen, ihre leiblich-irdische Existenz hat begonnen, doch sind die Brücken zu ihrem Dasein davor als pneumatisches (2) Wesen noch nicht abgebrochen, die Gemeinschaft mit den Gefährtinnen ihrer Reise aus dem Jenseits besteht noch, denn diese nisten am Haus und umgeben es mit ihrem Gezwitscher, das sich mit dem Babylallen mischt.
Schwalben in der Bläue schwimmen. Drunt' und drüber geht's im Haus: Kinderlallen, Vogelstimmen Und -gesaus.
Die Seele hat noch nicht völlig in der Erdenschwere Fuß gefasst, ist im Irdischen noch nicht mit Haut und Haar verhaftet, hat noch keinen Anteil am Wesen des Menschen, Falsch und Neid, genommen, die Unschuld der Tierwelt noch nicht verloren und ihr luftig-leichtes Wesen noch nicht ganz abgelegt, deshalb vermag sie, um mit ihren Gefährtinnen ins Seelenland zurückzufliegen, ohne Mühe, ohne Todesangst und -kampf, ohne Trennungschmerz wieder aus Fleisch und Erdenschwere zu scheiden - das ist der Trost, den das Gedicht dem Vater des Kindes schenken will.
Dass die Seele eines verstorbenen Menschen sich in ein fliegendes Tier verwandelt, bevorzugt in einen Schmetterling oder Vogel, ist archetypisch, das heißt, eine angeborene Vorstellung. Deshalb finden wir sie bei allen Völkern und in allen Zeiten. Jacob Grimm führt Beispiele an:
Nicht anders gilt die seele der kindlichen fantasie des volks für einen vogel, der aus des sterbenden munde geflogen kommt. darum sind in alten grabsteinen häufig tauben eingehauen, die der christliche glaube noch näher auf den geist bezieht. Ein schif versinkt, vom meerufer gewahrt man der untergegangenen seelen in gestalt weißer tauben aus der flut gen himmel steigen. die romanische legende von der gemarterten Eulalia sagt: ‘in figure de colomb volat a ciel’. ... Vor Mahomed glaubten die alten Araber, aus dem blut eines ermordeten werde ein klagender vogel, der um das grab fliege, bis für den todten rache genommen sei. ... Als der räuber Madej unter einem apfelbaum beichtete und seiner sünden entbunden wurde, flog ein apfel nach dem anderen in weiße taube verwandelt in die luft. es waren die seelen der von ihm ermordeten, nur ein apfel blieb übrig, die seele seines vaters, weil er dessen mord verhehlt hatte; als er endlich auch diese schwere schuld bekannte, flog der letzte apfel in graue taube verwandelt den übrigen nach." (3)
Auch Schmetterlinge stellt man sich als menschliche Seelen vor (4). Psyche, das griechische Wort für Seele, bedeutet zugleich Schmetterling, in Yorkshire heißt ein Nachtschmetterling soul (5) und das russische Wort für Schmetterling, babotschka, leitet sich von baba "Großmutter" ab, weil man ihn für die Seele einer Ahnin hielt (6). "In Irland hält man einen weißen Schmetterling für die Seele eines sündenreinen oder begnadigten Toten, der sich auf dem Wege zum Paradies befindet: sind die Flügel eines Schmetterlings gefleckt, so ist die Seele zum Fegefeuer verurteilt, doch muss sie noch eine Zeit lang auf Erden zubringen" (7).
In Zwetajewas Gedicht ist es die Seele eines Kindes, die zum Vogel wird. Kinder, die sterben, geflügelte Wesen werden und wegfliegen, kommen auch in einem Traum einer Patientin Sigmund Freuds vor (GW II/III, S. 259f.):
Eine Menge Kinder, alle ihre Brüder, Schwestern, Cousins und Cousinen tummelten sich auf einer Wiese. Plötzlich bekamen sie Flügel, flogen auf und waren weg.
Freud deutet diesen Traum richtig als Erfüllung des verdrängten, aber im Unterbewusstsein natürlich lebendig gebliebenen Wunsches eines eifersüchtigen Kindes, seine Geschwister mögen sterben und wegsein. Die Patientin träumte diesen Traum zum ersten Mal als Vierjährige, als sie in einer Kinderschar aufwuchs, die zwei Brüder in geschwisterlicher Gemeinschaft aufzogen. Weil die Kinder sich auf einer Wiese tummeln, liegt es nahe, sie sich als Seelenschmetterlinge vorzustellen, was Freud auch tut:
Dass sich die Kinder auf einer Wiese tummeln, von der sie wegfliegen, deutet kaum missverständlich auf Schmetterlinge hin, als ob dieselbe Gedankenverbindung das Kind geleitet hätte, welche die Alten bewog, die Psyche (8) mit Schmetterlingsflügeln zu bilden.
Dass Schmetterlinge als Seelen Verstorbener nicht nur im Traum einer Zeitgenossin, sondern auch in früheren Epochen auftauchen, ist Freud also bewusst. Es hätte ihn zu der Erkenntnis führen können, dass es sich um eine angeborene Vorstellung handelt, die allen Menschen gemeinsam ist. Er hat diesen Schluss jedoch nicht gezogen, sondern es C. G. Jung überlassen, der solche Vorstellungen als gemeinsames seelisches Erbe der Menschheit erkannte und archetypisch nannte (9). Hätte Freud im Seelenschmetterling eine angeborene Vorstellung gesehen, hätte er es nicht nötig gehabt, sich etwas wie dieses auszudenken, um zu erklären, wie ein 4-jähriges Mädchen zu der Assoziation kommt, dass Geflügeltwerden und Wegfliegen Sterben bedeuten:
Ich getraue mich folgende Analyse unterzuschieben. Bei dem Tode eines aus der Kinderschar - die Kinder zweier Brüder wurden in diesem Falle in geschwisterlicher Gemeinschaft aufgezogen - wird unsere noch nicht vierjährige Träumerin eine weise erwachsene Person gefragt haben: was wird denn aus den Kindern, wenn sie tot sind? Die Antwort wird gelautet haben: Dann bekommen sie Flügel und werden Engerln. Im Traum nach dieser Aufklärung haben nun die Geschwister alle Flügel wie die Engel und - was die Hauptsache ist - sie fliegen weg. Unsere kleine Engelmacherin bleibt allein, man denke, das einzige von einer solchen Schar!
Auch in christlichen Seelen ist der Archetypus Seelenvogel oder Seelenschmetterling lebendig. Doch weil christlicher Hochmut die Vorstellung nicht verträgt, der Mensch sei mit den Tieren verwandt und könne deshalb tierische Gestalt annehmen, mutierte der Vogel oder Schmetterling zum Engel, das Animalische wurde beseitigt, immerhin blieb die Seele ein geflügeltes Wesen. Ergreift dieser Archetypus als Inspiration einen wahren Künster, bleibt er unverfälscht. Das beweist Marina Zwetajewas Gedicht, das beweisen zahllose Gemälde oder Skupturen von Engeln, auf denen ihre Flügel gefiedert sind.
1) Anna Saakjanc: Marina Cvetaeva. Zhizn' i tvortschestvo. Moskva 1999, S. 63-68
3) Jakob Grimm: Deutsche Mythologie, S. 788 (Nachdruck S. 690-691)
4) Viele Beispiele, nicht nur aus Deutschland, bietet das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Stichwort Schmetterling, Kapitel 3: Seelenepiphanie.
5) Handwörterbuch a.a.O.
6) Handwörterbuch a.a.O.
7) Handwörterbuch a.a.O.
8) Freud meint die griechische Sagengestalt Psyche, ein schönes Mädchen mit Schmetterlingsflügeln, die als Allegorie der menschlichen Seele galt - vgl. W.H. Roscher: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Artikel Psyche, besonders S. 3237-3251
9) freilich in der Tradition von Forschern wie Jacob Grimm, Hermann Usener, Albrecht Dieterich und vielen anderen, denen nicht entging, dass ihr Studienobjekt, germanische bzw. griechische und römische Mythen, frappante Parallelen bei anderen Völkern haben.