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CELANS FADENSONNEN IM LICHTE THEMATISCH VERWANDTER DICHTUNG UND MYTHOLOGIE

FADENSONNEN
über der grauschwarzen Ödnis.
Ein baum-
hoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.

In dem poetologischen Gedicht geht es um Inspiration, die durch einen hieros gamos, eine göttliche Liebesvereinigung der Sonne mit einem Baum, zustande kommt.
Aber der Reihe nach! Was bedeutet poetologisch? Was ist ein hieros gamos? Wie vereinigt sich die Sonne in Liebe mit einem Baum?
Poetologisch nennen wir Lyrik über das Dichten. Und da die Ansicht vorherrscht, dass die Dichtkunst kein Handwerk ist, das theoretisch jeder erlernen kann (1), sondern eine seltene Gabe, die nur wenigen zuteil wird, ist das Thema der meisten poetologischen Gedichte Inspiration, die nach alter Auffassung von einer höheren Gewalt, von (einem) Gott, ausgeht und in der Seele des Künstlers das Werk zeugt. Und da nach dieser uralten Auffassung nicht nur Dichter, sondern auch Schamanen, Wahrsager, Propheten von einer Gottheit inspiriert werden, vergleicht man den Dichter gerne mit einem Priester oder Propheten und nennt ihn poeta vates, Dichter-Seher. Solch ein poetologisches Gedicht, das einen von Gott inspirierten Geistlichen schildert und damit (zugleich) einen Dichter meint, ist Der junge Mönch von Ernst Stadler:


Ich bin ein Halm, den meines Gottes Odem regt,
Ich bin ein Saitenspiel, das meines Gottes Finger rühren.

Ich bin ein durstig aufgerissen Ackerland.
In meiner Scholle kreist die Frucht. Der Regen
Geht drüber hin, Schauer des Frühlings, Sturm und Sonnenbrand,
Und unaufhaltsam reift ihr Schoß dem Licht entgegen.

Geschildert wird eine religiöse Inspiration. Ein Mönch empfängt von Gott, dem er sein Leben geweiht hat, eine höhere Erkenntnis oder Offenbarung, zum Beispiel in Gestalt einer mystischen Vision. Die Bildlichkeit des Gedichts beruht auf drei archetypischen, also allen Menschen angeborenen Vorstellungen, die in Inspirationsschilderungen häufig sind.
„Ich bin ein Halm, den meines Gottes Odem regt“ – der Inspirierte wird vom Wind, dem Atem Gottes, bewegt. Denken wir an den Grundsinn des Begriffes Inspiration: Lateinisch in-spir-atio leitet sich von spiritus ab, was sowohl „Geist“, als auch „Atem, Hauch, Lufthauch, Wind“ bedeutet. Dieser Atem oder Wind kommt von Gott, der ihn einem auserwählten Menschen einhaucht, und ist etwas Beseeltes, Lebendiges, Lebenzeugendes, mit dem Gott einem Sterblichen Anteil an seinem Wesen gewährt. Die Vorstellung von der Inspiration als Hauch oder Wind, der beseelt ist und von Gott kommt, beruht auf der archetypischen, also uralten und allen Menschen angeborenen Vorstellung vom Wind, dem zeugende Kraft zukommt. Ein Beispiel ist Eduard Mörikes Gedicht Jung Volkers Lied:

Und die mich trug im Mutterleib,
Und die mich schwang im Kissen,
Die war ein schön frech braunes Weib,
Wollte nichts vom Mannsvolk wissen.

Sie scherzte nur und lachte laut,
Und ließ die Freier stehen.
Möchte lieber sein des Windes Braut,
Denn in die Ehe gehen!

Da kam der Wind, da nahm die Wind
Als Buhle sie gefangen:
Von dem hat sie ein lustig Kind
In ihrem Schoß empfangen.

Ovid lässt in seinen Metamorphosen (VI, 702ff.) Boreas, den Nordwind, Orithyia rauben und befruchten:

Das sind die Worte, die Boreas spricht, oder ähnlich stolze;
Und dann schwingt er die Flügel: ihr Wehen durchbraust die gesamte
Erde, es schaudert die weithin sich dehnende Fläche des Meeres.
Über die Gipfel der Berge hin schleppt er den staubigen Mantel,
Fegt den Boden und, ganz in Dunkel sich hüllend, umfängt er
Orithyia, die bange Geliebte, mit fahlem Gefieder.
Während er fliegt, entbrennen noch heißer die Flammen der Liebe.
Erst als der Räuber zum Volk und der Stadt der Ciconen gelangt ist.
Zieht er die Flügel zurück und hemmt die Fahrt durch die Lüfte.
Und dort ward die acteische Jungfrau des eisigen Fürsten
Gattin und Mutter durch ihn…
(Übersetzung: Hermann Breitenbach)

Auch weibliche Tiere befruchtet der Wind. Boreas nimmt in Homers Ilias 20, 223ff. Pferdegestalt an und zeugt mit den Stuten des Erichtonios zwölf Füllen, die ohne Halme oder Ähren zu knicken über die Felder und sogar übers Meer dahinstürmen – diese Fähigkeit haben sie von ihrem Vater geerbt.
Der Wind hat also phallischen Charakter. Ihm wohnt Zeugungskraft inne, auch in sublimierter Form: wenn er in der Seele des Künstlers ein Kunstwerk oder in der Seele des Propheten eine Offenbarung zeugt. Zeugungskraft in zweifacher Form , konkret und sublimiert, kommt dem Heiligen Geist zu, der im Griechischen Pneuma Hagion heißt, also auch als „Heiliger Wind“ oder „Göttlicher Wind“ übersetzt werden kann (2). Mit dem heiligen Geist schwängert der christliche Gott Maria und inspiriert seine Apostel (Pfingstwunder in der Apostelgeschichte 2).

Zugleich ist in Stadlers Gedicht der Inspirierte „ein Saitenspiel, das meines Gottes Finger rühren“. Stadler gebraucht hier das traditionsreiche Symbol des Zupfinstruments, meist eine Leier oder Harfe, das für Dichtkunst und Musik steht, die früher noch zusammengehörten, da der Dichter seine Verse singend vortrug und sich dazu mit einer Leier oder Harfe begleitete; Leier hieß bei den alten Griechen lyra, wovon sich der Begriff Lyrik ableitet, und der Dichter heißt in älteren poetischen Texten auch Sänger.
Stadlers Vergleich des Dichters mit einem Zupfinstrument, auf dem Gott spielt, sagt auch etwas über die Rollenverteilung bei der Inspiration aus. Der Dichter hat den passiven Part inne, er ist Objekt, Empfangender, während Gott als der Urheber der Inspiration der Aktive ist, der auf dem Dichter spielt. Dieser Vergleich beruht auf der
archetypischen Vorstellung vom Musikinstrument als Frauenkörper, wonach Musikmachen sublimierte Erotik ist; hier nur ein Beispiel: In einem Gedicht von Thomas Moore, The Origin of the Harp, verwandelt sich eine Nixe aus erotischer Sehnsucht in eine Harfe:

‘Tis believ’d that this Harp, which I wake now for thee,
Was a Siren of old, who sung under the sea,
And who often at eve thro’ the bright waters rov’d,
To meet on the green shore a youth whom she lov’d.

But she lov’d him in vain, for he left her to weep,
And in tears, all the night, her gold tresses to steep,
Till heaven look’d with pity on true love so warm,
And chang’d to this soft Harp the sea-maiden’s form.

Still her bosom rose fair – still her cheeks smil’d the same -
While her sea-beauties gracefully form’d the light frame:
And her hair, as, let loose, o’er her white arm it fell,
Was chang’d to bright cords, uttering melody’s spell.

Hence it came, that this soft Harp so long hath been known
To mingle love’s language with sorrow’ sad tone:
Till thou didst divide them, and teach the fond lay,
To be love when I’m near thee, and grief when away!

Durch den Vergleich des Geistlichen mit einem Saitenspiel, auf dem Gottes Finger spielen, schildert Stadler Inspiration als Zeugungsakt in höherem Sinne. Das tut auch Plutarch, der die Priesterin des Orakels zu Delphi, Pythia, mit einem Musikinstrument vergleicht, auf dem der Gott Apoll spielt, wenn er sie dazu inspiriert, die Zukunft weiszusagen; auch dieser Vergleich atmet sublimierte Erotik:

Denn viele Verdrießlichkeiten und Störungen erfassen so, dass sie [die Pythia] es merkt, und noch mehr, ohne dass sie es merkt, ihren Körper und dringen zu ihrer Seele, und wenn sie davon erfüllt ist, dann ist es nicht gut, dass sie dahin geht und sich dem Gotte hingibt, weil sie dann nicht ganz rein ist wie ein wohlgestimmtes, schönklingendes Instrument, sondern von Leidenschaften getrübt und verstört.                     (2a)

Zurück zu Stadlers Gedicht! Sexuellen Charakter hat auch der dritte Vergleich:
„Ich bin ein durstig aufgerissen Ackerland. In meiner nackten Scholle kreist die Frucht.“ Diese Symbolik beruht auf der archetypischen Vorstellung von der Erde als Frau bzw. Mutter, die den Samen empfängt und die Frucht hervorbringt. Der Dichter gleicht also der Mutter Erde, die durch Inspiration schwanger geworden ist und in ihrem Schoß die Feldfrucht, das Kunstwerk, heranreifen lässt.
Ein anderes poetologisches Gedicht, das auch auf dieser archetypischen Symbolik vom Dichter als Acker, der den Samen empfängt und die Feldfrucht hervorbringt, beruht, stammt von der russischen Lyrikerin  Marina Zwetajewa:

Ich bin ein Blatt für deine Feder,
Empfange alles. Ich bin ein weißes Blatt.
Ich bin Hüter für dein Gut:
Ich zieh es groß und geb es reichlich vermehrt zurück.

Ich bin Dorf und Schwarzerde.
Du bist mir Sonnenstrahl und Regennass.
Herrgott und Gutsherr bist du mir, und ich
Bin Schwarzerde dir und weißes Blatt.

In dieser archetypischen Vorstellung von Inspiration hat Gott viel von dem bewahrt, was er ursprünglich, auf seiner ältesten, der naturreligiös-barbarischen Entwicklungsstufe war: Männlich-väterliche Potenz der oberen Naturgewalten, also Sonnen- und Himmelsgott, der mit seinem Licht, seiner Wärme, seinen Winden, Stürmen, Gewittern mit Regen, Donner und Blitz auf die untere weibliche Gottheit Mutter Erde einwirkt und so alles Leben erzeugt. Dieser oberste Himmelsgott war bei den Griechen Zeus. Sie nannten ihn „Megas Aither, Mächtiges Luftreich“ (3). Zeus war, bevor er Menschengestalt annahm, die Sonne und Bringer der Tageshelle, woran noch die etymologische Verwandtschaft seines Namens mit lateinisch dies „Tag“ erinnert (4).
Diese archetypische Vorstellung von der fruchtbaren Liebesvereinigung zwischen Himmel und Erde oder Sonne und Erde spricht ganz naiv der naturfromme Indianer Sitting Bull aus:

Seht, Freunde, der Frühling ist da. Die Erde hat sich freudig von der Sonne umarmen lassen, und bald werden wir die Kinder ihrer Liebe sehen. Jeder Same ist erwacht, jedes Tier lebt. Dieser göttlichen Kraft verdanken auch wir unser Dasein. Darum gestehen wir unseren Mitgeschöpfen, Menschen und Tieren, das gleiche Recht wie uns selber zu, dieses weite Land zu bewohnen.                                                                                    (5)

Da die Sonne mit ihrem Licht zeugend und wachstumsfördernd auf die Erde einwirkt, haben ihre Strahlen phallischen Charakter (wofür es hier mehr Beispiele gibt); so glaubten, wie Herodot (III,28) überliefert, die alten Ägypter, der heilige Apisstier sei von einem Sonnenstrahl gezeugt worden, der vom Himmel auf eine Kuh niederfuhr, die dann den Apis gebar.
Von oben kommt auch der Regen, ohne den kein Leben auf Erden gedeiht – in der archetypischen Vorstellungswelt sind Regentropfen deshalb Sperma des Himmelsgottes, was zum Beispiel Aischylos die Liebesgöttin Aphrodite aussprechen lässt:

Sehnt sich der hehre Himmel nach der Erde Schoß,
Fasst Sehnsucht auch die Erde, ihm vermählt zu sein.
Und Regen, der, umarmt er sie: vom Himmel strömt,
Schwängert die Erd‘, und sie gebiert dem Menschenvolk
Der Herden Weide und Demeters Frucht fürs Brot.
Der Bäume Blüte wird durch solcher Brautnacht Tau
Gedeihnde Frucht. Bei alledem bin ich am Werk.    (6)

Die alten Griechen riefen bei den Eleusinischen Mysterien nach oben blickend Hye! „Regne!“ und zu Boden blickend: Kye! „Empfange!“ (7). Der Himmelsgott Zeus wird beschworen, die Erde zu befruchten, und die Erde, schwanger zu werden.
Sitting Bulls Äußerung,  Aischylos‘ Fragment und die Eleusinische Beschwörung sind Beispiele  für die archetypische Vorstellung vom hieros gamos  – zu deutsch: „heilige Hochzeit“, genauer übersetzt: „göttliche Liebesvereinigung“; „göttlich“, weil Himmel (Sonne) und Erde in der vorchristlichen Religion Gottheiten waren.

Die beiden poetologischen Gedichte von Zwetajewa und Stadler vergleichen den Dichter mit der als weiblich gedachten Mutter Natur, auf die der Himmels- und Sonnengott befruchtend und lebenfördernd einwirkt. Zur Mutter Natur gehören auch
Bäume, die in der archetypischen Vorstellungswelt immer weiblich sind – hier nur einige Beispiele:
Der uralte Glaube, dass Bäume Mütter sind und Menschenkinder zur Welt bringen, klingt nach, als Penelope von Odysseus, der sich ihr noch nicht zu erkennen gegeben hat, wissen will, wer er ist:

Aber erzähl mir auch so deine Abkunft, wo du daheim bist;
Sicherlich stammst du nicht ab von uralten Eichen und Felsen. (8)

Oder wenn siebenbürgische Eltern ihren neugierigen Kindern, die wissen wollten, woher das neugeborene Geschwister kommt, erklärten, es stamme „vom knorrigen Bîrm (Birnbaum)“, wenn es ein Junge, und „vom schlanken Pelzm (Zwetschkenbaum)“, wenn es ein Mädchen war (9).
Redensarten wie „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ wurzeln in diesem Archetypus, von dem sich auch Shakespeare inspirieren ließ, als er in King Henry VI. (Dritter Teil V,6) seinen Bösewicht Richard III. als entarteten Sohn seiner Mutter charakterisierte:

Thy mother felt more than a mother’s pain,
And, yet brought forth less than a mother’s hope,
To wit, an indigested and deformed limp,
Not like the fruit of such goodly tree.

Die russische Dichterin Marina Zwetajewa , die mehrfach Mutter war, wurde von diesem Archetypus zu einem Gedicht inspiriert, dessen lyrisches Ich, eine hochschwangere Frau, sich im Traum als gebärenden Baum erlebt:

Fein und zart, ganz fein und zärtlich
Pfiff etwas im Tannenbaum,
Und ein Kind mit schwarzen Augen
Sah ich da in meinem Traum.

Schöne Tanne, ach du blutest
Heißes Harz in deinem Schmerz.
In der Nacht, der schönen, sägt mir
Eine Säge so durchs Herz.

Da Bäume zur weiblich-empfangenden Natur gehören, stehen auch sie in poetologischer Lyrik für den Dichter oder Propheten, der vom Himmels- oder Sonnengott inspiriert wird. So erscheint in Zwetajewas Gedicht Sibylle I ein männlicher Himmelsgott als Feuer, erfasst die Dichter-Seherin, die ein Baum ist, und inspiriert sie. Der brennende Baum wird „древо меж дев / Baum unter Jungfrauen“ genannt, was bedeutet: Die anderen Bäume des Waldes, mit denen der Himmelsgott sich nicht vermählt, sind nur Jungfrauen; der von ihm ergriffene Baum aber wird zur Frau gemacht – der sexuelle Ursprungscharakter des Inspirationsaktes ist nicht vergessen. Zwetajewas brennender Prophetenbaum erinnert an den brennenden Dornbusch, aus dem Gott im Alten Testament zu Moses spricht (2 Mose 3,2). Unter dem Himmelsgott kann man sich Zeus oder Apoll vorstellen, weil beide Weissagungen erzeugen, indem sie sich mit Bäumen verbinden. In Dodona, einem Orakel der alten Griechen, spricht Zeus „aus der hochgewipfelten Eiche“ (10), während Apoll „aus dem Lorbeer“ (11) weissagt; der Lorbeerbaum heißt altgriechisch daphne, was zugleich der Name eines jungen Mädchens, einer Nymphe ist, die von Apoll sexuell begehrt und verfolgt wurde und sich ihrer Vergewaltigung entzog, indem sie sich in einen Lorbeerbaum verwandelte. Laut Pausanias (12) war Daphne promantis, also Orakel verkündende Priesterin in Delphi.
Hesiod wurde zum Dichter und Künder religiöser Glaubensvorstellungen geweiht, indem die Musen „den herrlichen Zweig eines üppig grünenden Lorbeers“ brachen und ihm als Stab (skeptron) reichten (13). Es liegt nahe, sich das himmlische Feuer, das Zwetajewas Orakelbaum ergreift und in ihn eindringt, als Blitze vorzustellen, denn der Himmelsgott Zeus verkörpert nicht nur die Sonne und schickt Winde, sondern blitzt und donnert auch (14), und seine Blitzgestalt wird als „trockene Flüsse / сухими реками“ charakterisiert – dem himmlischen Feuer kommt zugleich die Assoziation des Flüssigen zu, was in Inspirationsschilderungen häufig ist. So dichtet Hölderlin in Wie wenn am Feiertage:

Und daher trinken himmlisches Feuer jetzt
Die Erdensöhne ohne Gefahr.

Und der christliche Gott verkündet in Joel 3,1 (wiederholt in Apostelgeschichte 2,17) :

Und nach diesem will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen Träume haben, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen.

Flüssig und trinkbar ist das himmlische Feuer, weil es Lichtsperma oder Feuersperma (15) ist – der sexuelle Ursprungscharakter der Inspiration  schimmert noch durch.
Dass Inspiration aus dem Zusammenwirken von himmlischem Feuer und einem Baum entsteht, sagt auch Tjutschew in seinem Gedicht auf den Tod Goethes Am hohen Baum der Menschheit: Er nennt den verstorbenen deutschen Dichter „das beste Blatt“ am „hohen Baum der Menschheit“, das „vom reinsten Sonnenstrahl zur Entfaltung gebracht“ und zugleich „mit dem reinsten Saft“ ernährt und großgezogen wurde. Mit letzterem ist der Saft des Baumes gemeint, den er mit seinen Wurzeln aus der Erdentiefe holt – obere und untere Kräfte haben sich vereint und Goethe zum Dichter aufgezogen.
Das Blatt, das in Tjutschews Gedicht für Goethe steht, „hielt prophetische Zwiesprache mit dem Gewitter (proroceski besedoval s grozoju)“, was bedeutet, dass ein Himmels- und Gewittergott durch Sturmwind, Regen  und himmlisches Feuer in Gestalt von Blitzen auf den poeta vates einwirkte und dichterische Kunstwerke zeugte.

Auch in Coleridges Ode Dejection steht eine der uranischen Naturpotenzen, der Wind, für in-spira-tio, während Bäume ebenso wie die Äolsharfe in der ersten Strophe (Zeile 7) die Seele des depressiven Dichters verkörpern, der belebende und erhebende Inspiration herbeisehnt (und zugleich als verheerende Gewalt fürchtet). Das Rauschen des Windes in den Wipfeln ist Musik, der Wind ein „mad lutanist“, die Bäume sind Musikinstrumente:

….                   Thou Wind, that rav’st without,
Bare crag, or mountain-tairn, or blasted tree,
Or pine-grove whither woodman never clomb,
Or lonely house, long held the witches’ home,
  Methinks were fitter instruments for thee,
Mad Lutanist! who in this month of showers,
Of dark-brown gardens, and of peeping flowers,
Mak’st Devils’ yule, with worse than wintry song,
The blossoms, buds, and timorous leaves among.
Thou Actor, perfect in all tragic sounds!
Thou mighty Poet, e’en to frenzy bold!

Mit dieser archetypischen Symbolik schildert auch  Percy Bysshe Shelley in seiner Ode to the West Wind das Inspirationserlebnis: „Make my thy lyre, even as the forest is“, fleht das lyrische Ich den Westwind an.

Aus einem hieros gamos, einer fruchtbaren Liebesvereinigung zwischen dem Sonnengott und einem Baum gehen auch in Celans Gedicht Fadensonnen Lieder, also Gedichte (16) hervor – nur, dass die Rollen vertauscht sind: Die phallischen Strahlen, mit deren Wärme und Licht der Sonnengott sonst auf Mutter Natur, auf Erde und Pflanzen, lebenzeugend einzuwirken pflegt, gleichen Fäden, hängen also schlaff und auch kurz, reichen nicht mehr hinunter, so dass dunkle Ödnis Himmel und Erde trennt, bis der Baum den aktiven Part übernimmt: Nicht die Sonnenstrahlen kommen von oben zu ihm herab, sondern er wächst zu ihnen hinauf und ergreift sie, wodurch sie sich spannen wie die Saiten eines Musikinstruments (17) und das Lied erklingen lassen, das die Ödnis vertreibt. Celans Fadensonnen entstand nach dem Zweiten Weltkrieg, als das männliche Prinzip sich gründlich desavouriert hatte. Aus dem Gedicht spricht Hoffnung auf Wiedererneuerung durch das Weibliche.

Die Vorstellung vom Dichter oder Propheten als Musikinstrument, die Fadensonnen – wenn auch mit vertauschten Rollen – zugrundeliegt, ist archetypisch, also allen Menschen angeboren, so dass sie sich in vielen Gedichten findet. Zum Beispiel bei Nietzsche:

VENEDIG

An der Brücke stand
jüngst ich in brauner Nacht.
Fernher kam Gesang:
goldener Tropfen quoll’s
über die zitternde Fläche weg.
Gondeln, Lichter, Musik -
trunken schwamm’s in die Dämm’rung hinaus…
Meine Seele, ein Saitenspiel,
sang sich, unsichtbar berührt,
heimlich ein Gondellied dazu,
zitternd vor bunter Seligkeit.
- Hörte jemand ihr zu? …

Nietzsche, der seine Philosophie oft mit dem Pathos eines Priesters und Religionsstifters verkündet, vergleicht seine Seele, wenn sie inspiriert wird, mit einem Saitenspiel. Die untere Natur, auf die das Licht einwirkt, ist in diesem poetologischen Gedicht kein Baum und nicht die Erde, sondern das Meer, das als Naturelement und Urschoß, aus dem das Leben kam, ebenfalls weiblich-mütterlich ist. Die goldenen Tropfen deuten wir als Lichtsperma. Das Meer als empfangender Urschoß hat mit der Seele des lyrischen Ichs gemein, dass es zittert („zitternde Fläche“), also sexuell erregt ist, es steht für den inspirierten Dichter – aus dem hieros gamos geht ein Lied hervor.

Ein anderes Beispiel ist Theodor Storms Ballade Der Sänger beim Mahle:

...
Der Harfner rührt das Saitenspiel;
Die Gäste allzumal
Verstummen bei des Alten Lied
Im hochgewölbten Saal.
Der Sänger singt, des Nordens Kraft
Braust durch die Saiten hin;
Die Harfe rauscht; dem Ritter dringt
Des Alten Lied zu Sinn.
...

Mit dem Norden ist der Nordwind, Boreas, gemeint, ein kräftiger rauer Wind. Während die Harfe gemäß dem Archetypus die Seele des Sängers ist, werden seine Finger mit dem Wind verglichen – hier wird es kompliziert. Bei dem Zeugungsakt der Inspiration hat der Dichter also nicht nur den passiven Part der Frau inne, sondern zugleich die aktive Rolle des männlichen Himmelsgottes. Damit verwandt ist die Inspiration des mythischen altrussischen poeta vates Bojan, den das Igorlied schildert:

Wenn der Seher Bojan einem ersinnen wollte ein Lied, breitete er sich aus und war in den Bäumen, war auf der Erde als grauer Wolf und als Adler, blau-grau, unter den Wolken. Und sooft er dessen gedachte, was man erzählt aus vergangenen Zeiten von Zwietracht, ließ er zehn Falken los auf eine Herde von Schwänen: der Schwan, den der erste Falke berührt, hob zu singen an, sang den greisen Jaroslaw, sang Mstislaw den Tapferen, der den Rededa zerhieb vor dem Kassogerheer oder er sang Roman den Schönen Swjätoslawitsch. Doch nein, Brüder, Bojan ließ nicht zehn Falken los auf eine Schar Schwäne; er warf seine erlauchten Finger in lebendige Saiten: die rauschten zum Ruhme der Fürsten.
(Übersetzung: Rainer Maria Rilke)

Bojans Seele ist das Musikinstrument, also passiv-empfangend, seine Finger aber gleichen Raubvögeln, die sich auf ihre Beute stürzen, sind also aktiv-männlich. Der Dichter kann sich offenbar aus seiner weiblich-erduldenden Rolle lösen, was dem Sänger in Storms Ballade und dem Bojan des Igorlieds zum Teil und dem Dichter in Celans Fadensonnen vollständig gelingt.

Phallisch wie die Finger des Sängers kann auch ein Plektron sein – bei Plutarch, De Pythiae oraculis 16,402a, lesen wir über Apoll und seine Lyra:

Sie (die Lyra) stimmt Jupiters Sohn, der schöne Apollo, er, der jeden Anfang, jedes Ende umfasst. In der Hand hält er das glänzende Plektron, das Licht der Sonne.

Hier schimmert noch durch, was der Lichtgott Apoll war, bevor er Menschengestalt annahm: die Sonne als Gottheit.

Hierher gehören auch die Verse Hölderlins:

Wo bist du? Trunken dämmert die Seele mir
Von all deiner Wonne; denn eben ists,
Dass ich gelauscht, wie, goldner Töne
Voll, der entzückende Sonnenjüngling
Sein Abendlied auf himmlischer Leier spielt‘;
Es tönten rings die Wälder und Hügel nach…                       (18)

Als Musikinstrument, auf dem die gerade untergegangene Sonne, verkörpert durch den Lichtgott Apoll, gespielt hat, lassen sich die Wälder und Hügel deuten, weil sie nachtönen. Mit diesen Wäldern ist die Seele des lyrischen Ichs gleichgesetzt, denn auch sie ist erregt („trunken“) durch den Sonnengott, so dass für sie in Erfüllung gegangen ist, was Shelley in seiner Ode erfleht: „Make me thy lyre, even as the forest is“.


1) Die Auffassung von der Dichtkunst als Kunsthandwerk ist freilich auch verbreitet – Beispiele bei Peter Thiergen: Imitation, Elaboration, Inspiration. Zum Problem der ‚literarischen Werkstatt‘ am Beispiel der russischen Literatur.  In: Rusistika – Slavistika – Lingvistika. Festschrift für Werner Lehfeldt zum 60. Geburtstag. München 2003

2) Pneuma ist Substantiv zu dem Verb pneo „atmen, wehen, blasen, hauchen“, seine Grundbedeutung ist also „Hauch, Luftstrom, Wind“, dann auch „Seele, Geist“.

2a) Plutarch: De defectu oraculorum / Über die eingegangenen Orakel 50 - Übersetzung: Konrat Ziegler

3) Sophokles: Ödipus auf Kolonos 1471 – Übersetzung: W. Willige

4) Der Nominativ Zeus, der lautgesetzlich aus *Djeus (Dehnstufe) entstand, zeigt die Verwandtschaft mit dies nicht mehr so gut wie die obliquen Casus, zum Beispiel der Genitiv Dios < *Di(v)os, der mit lateinisch divus „göttlich“ dem Adjektiv zu deus „Gott“, verwandt ist. Dass ursprünglich ein oberer Gott, Himmelsgott, gemeint war, zeigt dieses Adjektiv noch in Ausdrücken wie sub divo „unter freiem Himmel, im Freien“.

5) Charles A. Eastman: Indian Heroes and Great Chieftains (Reprint 1991. Originally published: Boston 1918), Kapitel 7: Sitting Bull

6) Fragment 55 (125), Übersetzung: Oskar Werner

7) Proklos: Kommentar zu Platons Timaios 293C. Vgl. auch Albrecht Dieterich: Mutter Erde. 3. Auflage 1925, S. 45f.

8) Homer: Odyssee 19,162f. - Übersetzung: Anton Weiher

9) J. M. Gassner: Aus Sitte und Brauch der Mettersdorfer. Ein Beitrag zur siebenbürgisch-sächsischen Volkskunde. Bistritz 1902, S. 5 – Weitere Beispiele bei Albrecht Dieterich: Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion. 3. Auflage 1925, S. 19 und 126f.

10) Homer: Odyssee 14, 327f. und 19,296f.

11) Homerischer Apollonhymnus 396

12) Pausanias: Beschreibung Griechenlands 10,5,3           

13) Hesiod: Theogonie 30 – Dieses Hexameterepos handelt vom Ursprung der Götter, ist also ein poetischer und zugleich religiöser Text und ein gutes Beispiel, dass früher Dichtung und Religion nicht streng geschieden waren; der Urheber solcher Texte war zugleich poeta und vates.

14) Himmlisches Feuer ist beides: Sonnenstrahlen und Blitze – mehr dazu hier

15) Zum Himmlischen Feuer als Phallos und Sperma vgl. auch Wolfgang Speyer: Die Zeugungskraft des himmlischen Feuers in Antike und Urchristentum In: Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. Ausgewählte Aufsätze. Tübingen 1989, S. 239ff.

16) In ältesten Zeiten wurden Gedichte gesungen, waren also Lieder. Der Dichter hieß deshalb im Altgriechischen aoidos „Sänger“. Diese Vorstellung hielt sich bis in die Neuzeit hinein: In der Goethe- und Puschkinzeit nannte man den Dichter in poetischer Sprache Sänger / pevec. Auch der vates, also der Seher, Priester, Schamane, trug, was er den Menschen zu verkünden hatte, singend vor, worauf die Etymologie des lateinischen Begriffs für „Prophezeiung, Weissagung“ vaticinium verweist. Er setzt sich zusammen aus vates und –cinium, dem Substantiv zu cano, ce-cini „singen“, meint also ursprünglich, was der Seher singt. Auch der Name der weissagenden römischen Göttin Carmenta (oder Carmentis) gehört etymologisch zu carmen - vgl. Plutarch: Quaestiones Romanae 56. Dichter und Priester waren also in ältester Zeit singende Schamanen. Diese Urbedeutung lebt noch in Goethes Drama Iphigenie auf Tauris fort: Der taurische König Thoas sagt zu seiner Artemis-Priesterin Iphigenie, die Unheilvolles weissagt: „Die heil’ge Lippe tönt ein wildes Lied“ (1821).

17) Die Deutung der Fäden als Saiten verdanken wir Marlies Janz: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. 1984, S. 204

18) Sonnenuntergang (Zweite Fassung); vgl. auch C.G.Jung: Symbole der Wandlung (= GW 5, §236ff.)

   
 
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