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GOETHES ERLKÖNIG IM LICHTE THEMATISCH VERWANDTER DICHTUNG UND MYTHOLOGIE

Man zählt den Erlkönig zu den naturmagischen Balladen (1), in denen die Natur belebt ist und verführerische oder unheimliche Naturnumina dem Menschen helfen oder gefährlich werden. So sieht die Fieberfantasie des kranken Kindes in einem „Nebelstreif“ den „Schweif“, also Schwanz eines offenbar tiergestaltigen Fabelwesens, das Erl(en)könig heißt, das Rauschen des Windes in den Baumkronen ist für ihn Erlkönigs Stimme, in „alten Weiden“ will er Erlkönigs Töchter erkennen, und diese numinos empfundene Natur übt eine magische Wirkung auf ihn aus. Beginnen wir mit den Bäumen: Dass sie Frauen sind und dazu mütterliche Frauen, die sich liebevoll um Kinder kümmern,  ist nicht nur Ausgeburt kindlicher (Fieber)Fantasie in Goethes Ballade, sondern ein Archetypus, also eine allen Menschen angeborene Vorstellung, die sich in zahllosen Mythen, Sagen, Märchen und Werken der Dichtkunst finden (ausführlich dazu hier). Einige Beispiele:
Bäume sind Mütter und bringen Menschenkinder zur Welt. Dieser uralte Glaube klingt nach, wenn Penelope von Odysseus, der sich ihr noch nicht zu erkennen gegeben hat, wissen will, wer er ist:

Aber erzähl mir auch so deine Abkunft, wo du daheim bist;
Sicherlich stammst du nicht ab von uralten Eichen und Felsen. (2)

Oder wenn siebenbürgische Eltern ihren neugierigen Kindern, die wissen wollten, woher das neugeborene Geschwister kommt, erklärten, es stamme „vom knorrigen Bîrm (Birnbaum)“, wenn es ein Junge, und „vom schlanken Pelzm (Zwetschkenbaum)“, wenn es ein Mädchen war (3).
Gelegenheit, den Archetypus Baumgeburt dichterisch zu gestalten, gab Ovid die Sage von Myrrha, die als Schwangere zur Strafe für den Inzest mit ihrem Vater in eine Myrrhe verwandelt wurde; als Baum bringt sie, unterstützt von der Geburtsgöttin Lucina,  Adonis zur Welt:

Doch das in Frevel empfangene Kind war unter der Rinde gewachsen und suchte einen Weg, die Mutter zu verlassen und ans Licht zu treten. Mitten im Baume schwillt der schwangere Leib. Die Last bedrängt die Mutter, doch die Schmerzen finden keine Worte, und die Gebärende kann Lucina nicht anrufen. Doch es ist, als krümme sich der Baum in Geburtswehen; oft ächzt er und wird von fallenden Tränen feucht. Gnadenvoll trat Lucina zu den schmerzgepeinigten Ästen, legte die Hände an das Holz und sprach einen Geburtssegen: da bekommt der Baum Risse, und durch einen Spalt in der Rinde entlässt er seine lebende Last; es wimmert ein Knabe. Naiaden haben ihn auf weiches Gras gebettet und mit den Tränen der Mutter gesalbt.   (4)

Als mütterliche Wesen nehmen sich Bäume aufwachsender Kinder an. So erzählt der Homerische Aphrodite-Hymnus, dass die griechische Liebesgöttin ihren neugeborenen Sohn Äneas Baumnymphen anvertraut:

Sieht es das Licht der Sonne, so sollen
Nymphen es mir erziehen im Gebirg, hochbrüstige Frauen,
die diesen heiligen, hohen Berg hier bewohnen und niemals
Menschen oder Unsterblichen folgen.

Kommen Nymphen zur Welt, so wachsen zusammen mit ihnen
Tannen und hochgewipfelte Eichen im nährenden Boden,
ragen empor im hohen Gebirg in sprossender Schöne:
Heilige Götterbezirke; so pflegt sie das Volk zu benennen;
niemals aber schlägt sie kahl ein menschlicher Axthieb.
Tritt dann aber die Moira heran und müssen sie sterben,
dann verdorren zuerst im Boden die herrlichen Stämme,
rundum stirbt das Laub, die Äste brechen herunter,
zugleich aber verlässt ihre Seele die strahlende Sonne.
Diese Göttinnen werden mein Söhnchen bekommen und nähren.   (5)

Amme des Helden und Gründers Äneas war die Natur, und zwar von Menschen nicht unterworfene, wilde Natur, ein Bergwald, was auch für die Heldenkinder Romulus und Remus, die Gründer Roms, gilt. Die ausgesetzten Zwillinge wurden bekanntlich von einer Wölfin gesäugt, haben also die ursprüngliche Kraft unverdorbener und ungezähmter Natur mit der Muttermilch in sich aufgenommen; weniger bekannt ist, dass sich im Mythos zugleich mit dem wilden Tier ein Baum der Kinder annimmt, ein Feigenbaum, den Plinius ausdrücklich nutrix, also „Säugerin, Ernähererin, Amme“ der beiden nennt, und von ihm sagt, dass er sie „beschirmte“ oder „beschützte“ (protexit); Mutter Natur nimmt sich nährend und beschützend der Zwillinge an in Gestalt einer Wölfin und eines Feigenbaums:

Colitur ficus arbor in foro ipso ac comitio Romae nata, sacra fulguribus ibi conditis magisque ob memoriam eius, quae nutrix Romuli ac Remi, conditorum imperii, in Lupercali prima protexit, Ruminalis appellata, quoniam sub ea inventa est lupa infantibus praebens rumim - , ita vocabant mammam - ;

Mit Verehrung gepflegt wird ein Feigenbaum, der auf dem Forum selbst, und zwar auf dem Versammlungsplatz in Rom gewachsen ist, heilig durch Blitze, die dort vergraben sind, und mehr noch durch das Andenken an den <Baum>, der als Amme des Romulus und des Remus, der Stifter des Reiches, als erster in der lupercalischen Höhle Schutz gewährte, Ruminalis genannt, weil man unter ihm die Wölfin fand, wie sie den Kindern die rumis, - so nannte man die Zitzen -, darbot;                                                                           (6)

Die archetypische Vorstellung, dass die Natur einem Menschen, dessen Amme sie ist, Potenzen einflößt, die ihn anderen Menschen überlegen machen und zu besonderen Leistungen befähigen, prägt auch eine Mythe, die Jacob und Wilhelm Grimm in ihren Deutschen Sagen (I, 108) überliefern, Die Wiege aus dem Bäumchen:

Bei Baden in Österreich stehen die Trümmer des alten Bergschlosses Rauheneck. In diesen soll ein großer Schatz verborgen liegen, den aber nur der heben kann, der als Kind in einer Wiege geschaukelt sein wird, die aus dem Holz des Baumes gezimmert sein wird, der jetzt nur erst als ein schwaches Reis aus der Mauer des hohen Turmes zu Rauheneck sprießt. Verdorrt das Bäumchen und wird es abgehauen, so muss die Hebung des Schatzes warten, bis es von neuem ausschlägt und wieder wächst.

Aus der archetypischen Vorstellung von Baum und Wald als nährender Mutter oder Amme erklärt sich auch, warum der Olivenbaum, dessen Früchte bei den alten Griechen Grundnahrungsmittel waren, paidotrophos „kindernährend, kinderaufziehend, Mutter“ hieß (7) und warum Artemis, der griechischen Göttin des Waldes, Personifikation der vom Menschen ungezähmten Natur, das gleiche Epitheton zukam  (8).

Soviel zunächst zu den weiblichen Wesen in der vom Knaben als numinos empfundenen Natur. In ihr lebt auch ein Mann, der Erl(en)könig. Er ist ein König, also Herr und Beschützer von Land und Leuten, die ihm untertan sind, und Vater der Baumfrauen, im Sinne der Freudschen Psychoanalyse also eine Vaterfigur. In der Welt der Mythologie entspricht ihm die archetypische Gestalt des genius loci als unheimlicher Schutzdämon eines bestimmten Bereichs der Natur, auf den wir jetzt näher eingehen.
Unter genius loci versteht man im ursprünglichen und engeren Sinne ein Wesen, das ein Stück unberührter (oder noch wenig berührter) Natur, zum Beispiel einen Wald, einen einzelnen Baum oder einen Sumpf, vor Übergriffen des Menschen bewacht; es verkörpert die Wehrhaftigkeit der Natur und ist deshalb oft ein ungezähmtes gefährliches Tier oder ein bedrohliches menschenähnliches Fabelwesen. Man übersetzt genius loci üblicherweise als Geist oder Schutzgeist eines Ortes, was problematisch ist, da man sich unter einem Geist ein körperloses Wesen, etwas wie ein Gespenst vorstellt. Der genius loci aber ist im Altertum durchaus ein Wesen aus Fleisch und Blut, ein Stück Natur eben, Teil der Natur, die er bewacht, auch wenn er fabelhafte Züge tragen kann. Oft ist der Ortsdämon eine Schlange – vielleicht deshalb, weil dieses Tier den vom Menschen unbeeinträchtigten Ursprungszustand der Natur, den es beschützen soll, wegen seiner Urtümlichkeit besonders gut verkörpert. Beispiele:
In einer Sage aus dem vorislamischen Arabien brennen Harb b. Omayya und Mirdas b. Abi Amir einen von Menschen noch unberührten Wald nieder, um Ackerland zu gewinnen. Zwei weiße Schlangen, die Schutzdämonen des Waldes, fliehen unter Klagegeschrei und sorgen dafür, dass die beiden Naturzerstörer bald der Tod ereilt (9).
Der Mensch macht sich den genius loci zum Feind, wenn er die von ihm bewachte Natur zerstören oder Raubbau an ihr treiben will. Behandelt er sie schonend, hat er nichts zu befürchten. Das zeigt Aelians Erzählung (10) von dem makedonischen Herrschersohn Pindus, der sich vor den Nachstellungen durch seine Brüder in einer waldreichen Gegend verbirgt und sich dort von der Jagd auf Tiere ernährt, wodurch der den genius loci, eine riesige Schlange, auf den Plan ruft. Das Tier gebietet seinem unmäßigen Jagdfieber Einhalt und wird von Pindus beschwichtigt und sogar zum Freund gewonnen, weil es von ihm regelmäßig einen Teil seiner Jagdbeute als Opfer erhält. Deshalb ergeht es dem Königssohn gut, das Glück begünstigt ihn auf der Jagd und als seine Brüder ihn aufspüren und ermorden, rächt sein Schlangen-Freund ihn, indem er sie tötet.
Nicht nur durch exzessives Jagen, auch durch großangelegtes Sammeln von Waldfrüchten fürchtet der Mensch, sich den Zorn der Schlangen, die er sich als Wächter des Waldes denkt, zuzuziehen. So beschwichtigten Kinder in Thüringen, die zum Beerensammeln in den Wald gingen, die Schlangen mit dem Versprechen:

Atter, Atter, beiß mich nich,
Ech bring der o viel Beäre mit!

und ließen einen Teil der gesammelten Beeren als Opfer im Wald zurück (11).
Oft bewacht eine Schlange als genius loci einen bestimmten Baum (12), so die Äpfel im Garten der Hesperiden, die Herakles raubt, nachdem er den genius loci getötet hat (13). Die Schlange, die den Baum bewachte, an dem das Goldene Vließ hing, wurde von Medea durch Drogen eingeschläfert (14). Dazu gehört natürlich auch die Schlange am Baum der Erkenntnis im biblischen Paradies, doch ist der Archetypus der Schlange, die einen Baum bewacht, hier christlich verformt. Adam und Eva dürfen von allen Bäumen Früchte essen, nur nicht vom Baum des Lebens und vom Baum der Erkenntnis – soweit entspricht die biblische Erzählung naturreligiöser Frömmigkeit, die dem Menschen erlaubt, sich von der Natur zu ernähren, aber nicht, Raubbau an ihr zu treiben. Der Baum der Erkenntnis ist ein heiliger Baum, der wie zum Beispiel die moriai, die heiligen Ölbäume der Athener, tabu ist. Aufgabe der Schlange ist es eigentlich, die Menschen vom Ausbeuten auch dieses Baumes abzuschrecken, doch sie tut das Gegenteil, sie lädt ihn zum Pflücken seiner Früchte auch noch ein. Die Ursünde des Raubbaus an der Natur wird also der Schlange angelastet, die deshalb „verstoßen“ und zusammen mit der Mutter Erde, deren Tier sie ist, „verflucht“ wird (15). Warum tritt die Schlange im Christentum nicht als wehrhafter Aspekt der Natur auf, warum wurde der Archetypus verfälscht? Damit man ihr die Ursünde anlasten konnte, weil sie einladend wirkte. Es erinnert an die beliebte Rechtfertigung angeklagter Vergewaltiger, die behaupten, ihr Opfer habe sie durch leichte Kleidung zu ihrer Tat eingeladen; ihre Früchte sollte die Natur am besten immer vor menschlicher Gier in Laub verbergen oder mit Stacheln oder Dorngestrüpp beschützen. Das Christentum wertet das Weibliche und die Natur nicht nur ab, es macht sie auch zum Sündenbock!
Beispiel für einen menschenähnlichen genius loci ist Sinis, ein Riese (16), der auf dem Isthmus, der Korinthischen Landenge, lebt und Wanderer tötet, indem er zwei Fichtenwipfel zur Erde niederbeugt, sein Opfer an ihnen befestigt und die beiden Bäume wieder hochschnellen lässt, so dass der Wanderer zerrissen und seine Körperteile in die Natur  zerstreut werden (17). Theseus tötet ihn auf die gleiche Weise und macht so diese Gegend für Reisende sicherer. Sinis‘ Tochter Perigune versteckt sich vor Theseus zwischen Spargelkraut und anderem Gebüsch und bittet es „arglos und kindlich“, sie zu verbergen und zu retten – zu diesen Pflanzen, mit denen sie spricht und bei denen sie unterkriechen will, verhält sie sich wie zu ihresgleichen, sie sind  ihr mitfühlende Mitgeschöpfe, Geschwister, sie empfindet sich also als Teil der Natur, und da Sinis ihr Vater ist, also ihr Beschützer, personifiziert sie die Natur, in die der männliche Held Theseus besitzergreifend eindringt, Sinis aber war der genius loci, den Theseus tötet und sich die Natur in Gestalt von Perigune aneignet:

Von Melanippos, dem Sohne des Theseus, entstammte dann Ioxos, der gemeinsam mit Ornytos die Kolonie in Karien gründete. Daher wurde es bei den Nachkommen des Ioxos zum heiligen Brauch, Spargelkraut und ähnliches Gesträuch nicht zu verbrennen, sondern hochzuhalten und zu ehren.

Der religiöse Brauch, „Spargelkraut und ähnliches Gesträuch“ mit Achtung zu behandeln, statt es zu zerstören, lässt sich als Beschwichtigung der von Theseus unterworfenen und geschändeten Natur deuten. Auch der Mythos, dass Theseus die Isthmischen Spiele, Wettkämpfe auf der Korinthischen Landenge, wo er Sinis tötete, gestiftet habe, um diesen Mord zu sühnen (18), verrät das archaische Schuldgefühl.
Dafür, dass in der ursprünglichen, noch nicht für zivilisiertes Empfinden verformten Gestalt des Mythos die „Touristen“ zu Recht von Sinis, dem genius loci, getötet wurden, weil sie den Menschen repräsentieren, der schuldhaft in unberührte Natur vordringt, spricht auch, dass in der Antike und im Märchen auf diese Weise Verbrecher hingerichtet wurden. Alexander der Große ließ den Verräter und Verwandtenmörder Bessos so hinrichten (19), der römische Kaiser Aurelian einen Ehebrecher (20) oder der König in einem
albanischen Märchen einen arglistigen Betrüger (21). Diese Hinrichtungsart könnte auf ein ursprüngliches Menschenopfer zurückgehen, denn Menschenopfer wurden oft an einem Baum befestigt – ausführlicher dazu hier. Abholzen von Wald zur Gewinnung von Ackerland oder Schiffsbauholz gehört zu den folgenreichsten Übergriffen des Menschen auf die Natur. Durch Befestigung des geopferten Menschen an einem Baum wird er gleichsam dem Wald zur Wiedergutmachung übergeben. Im Lichte dieser Deutung würden im Sinis-Mythos die hochschnellenden Fichten als Repräsentanten der geschändeten Natur an der Hinrichtung mitwirken und Sinis im Einklang mit der Natur, in ihrem Auftrag handeln.

Zurück zu Goethes Ballade! Deuten wir den Erlenkönig als genius loci, dessen Aufgabe die Bewachung der Baumfrauen ist, müssen wir uns den Einwand gefallen lassen, dass sein Verhalten für einen Schutzdämon untypisch ist. Denn er schreckt den Knaben, den es zu den Baumfrauen zieht, nicht etwa ab, sondern lädt ihn auch noch zu ihnen ein, tritt als Verführer auf. Dadurch erinnert er an die Schlange im biblischen Paradies, die Adam und Eva dazu verführt, sich am den Baum, der für sie tabu sein soll und den sie eigentlich bewachen soll, zu vergreifen. Zur Klärung dieses Widerspruchs bietet sich die Freudsche Psychoanalyse an, deren Kern der Ödipuskomplex ist. Denn die Personenkonstellation Kranker Knabe – Erlenkönig – Baumfrauen entspricht dem ödipalen Dreieck: Der Sohn will mit seiner Mutter (oder Schwester) sexuell verkehren und deshalb den Vater, der sie für sich beansprucht, als Konkurrenten auszuschalten, indem er ihn tötet oder kastriert. Zum Ödipuskomplex gehört auch die Angst des Sohnes, zur Strafe von seinem eifersüchtigen Vater kastriert zu werden. Diese ödipale Angst vor der strafenden Vaterfigur, deren Quelle ursprünglich die libidinösen Wünsche des Sohnes in Bezug auf seine Mutter (oder Schwester) sind, kann auch auf außerfamiliäre Situationen übertragen werden, wenn – besonders in patriarchalischen Gesellschaften – Konfrontation mit einem mächtigen Mann droht: Der Vater, der über eine begehrte Tochter, der Bruder, der über eine begehrte Schwester herrscht und sie beschützt, flößt Angst ein, die besonders heftig sein kann, da sie aus dem Ödipuskomplex stammt.
Um den Erlkönig psychoanalytisch zu deuten, benötigen wir noch den Begriff der Projektion. Was versteht man darunter? Projiziert werden eigene Wünsche, für die man sich schämt und die deshalb zumeist unbewusst sind,  in einen anderen Menschen. Als Beispiel bietet sich der schon erwähnte Vergewaltiger an, der sich damit rechtfertigt, sein Opfer habe ihn durch leichte Kleidung verführt, weil es vergewaltigt werden wollte. Der Vergewaltigungswunsch wird aus der eigenen Seele hinausverlagert und dem Opfer zugeschrieben, womit sich der Vergewaltiger von Schuld entlastet.
Nun zum Erlkönig! Der kranke Junge will von den Baumfrauen wie ein kleines Kind verhätschelt werden. Es sind Wünsche nach Regression, die einem Jungen durch die Erziehung nach und nach abgewöhnt werden wie man einem Kleinkind irgendwann den Schnuller abgewöhnt. Da diese regressiven Wünsche nach Einlullen und Verzärtelung verpönt sind, hat der Knabe sie verdrängt und projiziert sie in die Baumfrauen, von denen sie in seiner Fantasie ausgehen. Nun zur Rolle des Vaters. Als männliche Erziehungsinstanz ist es vor allem seine Aufgabe, den Jungen vor solcher Regression abzuschrecken (22). Der Erlenkönig tut aber das Gegenteil: Er lädt den Knaben  zu regressiver Verhätschelung durch seine Baumfrauen auch noch ein: „Meine Töchter sollen dich warten schön / Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn / Sie wiegen und tanzen und singen dich ein“.

Das Verwöhnen und Einlullen durch die Töchter, die der Vater dem Sohn verspricht, lässt sich also als unbewusste Sehnsucht des Knaben deuten, die er in die naturmagischen Gestalten projiziert, ihnen zuschreibt. Aber nicht nur die Verwöhnung durch die Töchter, sondern auch die versprochene Verwöhnung durch den Vater selbst „Gar schöne Spiele spiel ich mit dir / Meine Mutter hat manch gülden Gewand“ lassen sich ebenso als projizierte Sehnsüchte des Kindes, als kleiner Prinz verhätschelt zu werden, deuten. Zu dem, was der Erlkönig dem Jungen „verspricht“, gehört jedoch auch Beängstigendes: Der Vater nennt ihn „feiner Knabe“ und äußert ganz deutlich: „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt“, begehrt ihn also sexuell – stammt das auch aus dem Unterbewusstsein des Kindes? Wir zögern. Als Prinz verzogen und verzärtelt zu werden, und zwar nicht nur von den Frauen in der Familie, sondern auch vom Vater, können wir noch als unbewussten Wunsch des Kindes anerkennen, nicht aber, von ihm missbraucht, vergewaltigt zu werden. Doch von Freud haben wir gelernt, Unerträgliches in Betracht zu ziehen. Kehren wir zum Archetypus des genius loci zurück! Für den Menschen, der sich an der Natur vergreift, wird er bedrohlich, lässt sich aber durch Opfer beschwichtigen. Als Beispiele nannten wir Pindus, der sich den Schutzdämon seines Jagdreviers zum Freund macht, und die thüringischen Kinder, die im Wald Beeren sammeln, sich also verbotene Früchte von der Mutter Natur holen und deshalb Angst vor der Schlange, dem Wächter des Waldes, haben, diese Angst aber vermindern, indem sie ihr einen Teil der Beeren als Opfer überlassen. Diese Angst vor dem Schutzdämon und zugleich der Glaube, ihn durch eine Gabe beschwichtigen zu können, ist eine archetypische, also allen Menschen angeborene Vorstellung, die auch in der Seele des kranken Knaben nicht fehlt. Ihn treibt der unbewusste Wunsch, den Erlenkönig zu beschwichtigen, ihn günstig zu stimmen, indem er ihm etwas gibt. Aber was könnte das sein? Was hat ein kleiner Junge ihm zu bieten? Womit könnte er ihn bestechen? Die Vermutung drängt sich auf: Der Sohn will sich dem Vater als Sexualobjekt anbieten, damit dieser die Verhätschelung durch die Frau(en) in der Familie toleriert, ja sich beteiligt. Bei diesem Vorhaben, den Vater durch seine „schöne Gestalt“, seine Knabenreize zu bestechen, dürfte auch die homoerotische Libido gegenüber dem Vater, die im Unterbewusstsein jedes männlichen Kindes vorhanden ist und eine „zärtliche, feminine Einstellung zum Vater“ (23) erzeugen kann, mitwirken. Zugleich fürchtet sich der Junge, der noch im zarten Alter ist, vor der Brutalität der Sexualität des erwachsenen Mannes  – deshalb erscheint ihm der Vater als verlockender und zugleich unheimlicher Dämon.

Der Erlkönig, der seine Baumfrauen verführerisch anbietet, statt sie zu bewachen, gleicht der Baumschlange im biblischen Paradies, die eigentlich ihren Baum bewachen soll, damit sich niemand an ihm vergreift, aber Adam und Eva zum Genuss der verbotenen Frucht auch noch einlädt. Adam und Eva fürchteten deshalb den Biss der Schlange nicht, als sie den Apfel pflückte und beide ihn aßen. Doch der Knabe in Goethes Ballade spürt von Seiten des genius loci eine Attacke, die weh tut und sich als sexueller Übergriff und zugleich als Strafe, zum Beispiel in Form von Kastration, für sein Verlangen nach der verbotenen Frucht deuten lässt (24).

Die biblische Geschichte von Adam und Evas Vertreibung aus dem Paradies wird gerne als Gleichnis für das Ende der (frühen) Kindheit gedeutet (25): Das Kind muss erwachsen werden und hinaus aus der mütterlichen Umsorgung ins feindliche Leben treten und dort seinen Mann stehen. Die Sehnsucht des kranken Knaben zurück ins Kindheitsparadies, zurück zu Verwöhnung und Verhätschelung  durch die Mutter oder große Schwester ist regressiv, ist verpöntes und besonders vom Vater mit Strafe bedrohtes Streben zurück zur inzwischen verbotenen Frucht. Deshalb hat der Sohn den unbewussten und auf den Erlkönig projizierten Wunsch, sich beim Vater lieb Kind zu machen, indem er sich ihm als mädchenhaftes Sexualobjekt anbietet; dadurch will er den Vater bestechen, damit dieser Regression und Verwöhnung des Sohnes toleriert, statt dagegen einzuschreiten, was doch seine Aufgabe als männliche Erziehungsinstanz wäre.
Ziel der Erziehung weg von Regression ist es, dass der Junge seine Libido nach außen wendet, ins feindliche Leben hinaustritt und sich eine fremde Frau, keine Blutsverwandte, erobert. Wäre der kranke Knabe in Goethes Ballade groß und stark, würde er handeln wie Theseus, der den genius loci Sinis tötet und sich dessen Tochter Perigune nimmt – auch diesem Mythos liegt das ödipale Dreieck zugrunde: Sinis ist der Vater, der seine Tochter beschützt, Theseus der rebellische Sohn, der den Vater-Konkurrenten tötet und Perigune, Verkörperung der Natur, erobert. Der Mythos berichtet jedoch auch von Schuld, die Theseus, Personifikation des erobernden, Natur und Frauen unterwerfenden Mannes, dadurch auf sich lädt. Diese ödipale Schuld ist laut Freud der Kern des Über-Ichs, des Gewissens (26). Das Schuldgefühl, das Theseus wegen der Unterwerfung ungezähmter Natur und das der Knabe im Erlkönig wegen seines unbewussten Wunsches nach inzestuösem Übergriff auf Natur, die Weiden, empfinden, fließt offenbar nicht nur aus dem Ödipuskomplex, sondern auch aus dem archaischen Schuldgefühl, das der Mensch hat, weil er sich von der Natur entfremdet, sich über sie erhoben und sie sich unterworfen hat; nicht ohne Grund spricht man von unberührter, jungfräulicher Natur, an die der Mensch Hand anlegt, die er schändet. Im Gegensatz zum Menschen habe die Tiere kein Gewissen, brauchen es auch nicht wie dieser als korrigierende Instanz, weil sie ihren Instinkten treu geblieben sind, weil ihr Charakter nicht entartet ist, weil sie keine unnatürlich regressiven, inzestuösen Wünsche haben. Diese Entartung des Menschen dürfte eingetreten sein, als er sich kraft seines Bewusstseins und seiner ratio über die Natur, auch die Natur in ihm, die gesunden Instinkte, erhob – Übergriffe auf Mutter Natur und die eigene Mutter (wenn auch nur als verdrängter Wunsch) sind deshalb verwandt.
Diese Wesensverwandtschaft von Inzest und Baumfrevel liegt auch der Sage von Amphissos, Lotis und Dryope zugrunde, die Ovid in seinen Metamorphosen (9,355ff.) erzählt. Mit ihrem Sohn Amphissos auf dem Arm , der an ihrer Brust saugt, geht Dryope spazieren und pflückt Blüten von einem Lotosbaum, um ihrem Sohn eine Freude zu machen – da tropft Blut aus den abgerissenen Blüten; Dryope hat, ohne es zu wissen, die Nymphe Lotis verletzt, die sich in diesen Baum verwandelt hat, um den Nachstellungen durch Priapos zu entgehen. Zur Strafe für diesen Baumfrevel wird Dryope selber in einen Baum verwandelt, „ihre Hand füllte sich mit Laub: Laub bedeckte ihr Haupt über und über. Doch der Knabe Amphissos … spürte, wie die mütterliche Brust hart wurde; und wenn er sog, folgte keine Flüssigkeit mehr“ (27). Bevor auch Dryopes Gesicht ganz verholzt ist, ruft sie ihrer Schwester noch zu:

Hunc tamen infantem maternis demite ramis
et date nutrici nostraque sub arbore saepe
lac facitote bibat nostraque sub arbore ludat.
cumque loqui poterit, matrem facitote salutet,
et tristis dicat: ‘latet hoc in stipite mater.’

Doch nehmt diesen Knaben von den mütterlichen Ästen, gebt ihn einer Amme, lasst ihn oft unter meinem Baum seine Milch trinken, oft unter meinem Baume spielen. Wenn er dann sprechen kann, lasst ihn seine Mutter begrüßen und traurig sagen: ‚In diesem Stamm ist die Mutter verborgen.‘                                                    (Übersetzung: Michael von Albrecht)

„Latet in hoc stipite mater / In diesem Baum ist die Mutter verborgen“ – dieses archetypische Empfinden beherrscht auch die Fantasie des Kindes im Erlkönig.
Nun könnte man einwenden: Der Baum, zu dem Dryope wird, ist nicht mehr mütterlich, nicht mehr paidotroph: Das Holz, in das sich ihre Brust verwandelt hat, stillt ihr Kind nicht mehr. Doch ist dieser Gegensatz nur oberflächlich: Die Sehnsucht, ihr Kind weiter zu stillen, spricht aus ihren Abschiedsworten, und das Recht, Amphissos wenigstens mütterlich schirmend Schatten zu spenden, wenn er von einer anderen Frau gestillt wird, ist ihr Ersatz für diese Sehnsucht; der Archetypus des kindernährenden, paidotrophen  Baumes gehört als unerfülltes Verlangen zur Seele dieser Geschichte, Verlangen, das vom Baum ausgeht und vom Menschen: Für Amphissos wird der Baum sein ganzes Leben hindurch ein Wesen sein, das ihn früher gestillt hat, seine Mutter -  „latet hoc in stipite mater“ wird er später traurig sagen; Amphissos steht für den Menschen überhaupt, zu dessen kollektivem Unbewussten der Archetypus Baum als Mutter gehört.

Ovids Dryope-Amphissos-Erzählung ist mit dem Mythos vom verlorenen Paradies verwandt. Adam und Eva werden aus dem Paradies, das voller Fruchtbäume ist, gewiesen, Amphissos muss zu seiner in einen Baum verwandelten Mutter zumindest auf eine gewisse Distanz gehen: Sie kann ihn noch beschirmen, aber nicht mehr stillen. Nun gilt letzteres für jedes Kind – irgendwann muss es der Brust entwöhnt werden.  So lässt sich Ovids Dryope-Amphissos-Geschichte wie das Schicksal Adams und Evas als Gleichnis für das Ende der frühen Kindheit – und der Kindheit überhaupt – verstehen: Das Kind muss erwachsen werden und hinaus aus der mütterlichen Umsorgung ins feindliche Leben treten, um dort im Schweiße seines Angesichts seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auslöser für die Vertreibung aus dem Paradies ist der Sündenfall: Die Menschenkinder Adam und Eva werden von Gott, ihrem Vater, aus dem Garten Eden gewiesen, nachdem sie die verbotene Frucht vom mütterlichen Baum gepflückt haben: den Apfel, ein Sexualsymbol. Die (laut Freud schon in der Kindheit) erwachende Sexualität des Sohnes richtet sich auf seine Mutter, deshalb muss er auf Distanz zu ihr gehen und sich anderen Frauen zuwenden, damit er sich nicht inzestuös auf seine Mutter fixiert und ein Muttersöhnchen wird. Diese Gefahr droht auch Amphissos, denn seine Mutter pflückt, um ihn zu erfreuen, Blüten von einem verbotenen Baum – die
Blume oder Blüte pflücken aber ist ein uraltes archetypisches Symbol für Entjungferung  (da seine Mutter ja keine Jungfrau mehr ist, ist damit die Gefahr gemeint, dass Amphissos durch inzestuöse Fixierung auf seine Mutter seine kindliche Unschuld verliert – die Blüten des Lotosbaumes  sind wie die Baumfrucht in der Bibel Symbol sexueller Verführung), und die Blumen am Strand, die der Erlkönig dem Knaben verspricht, und die wohl darauf warten, geplückt zu werden, lassen sich auch so deuten. Durch die Verwandlung seiner Mutter in einen Baum wird diese Gefahr abgewendet: Er kann nicht mehr ihre Milch saugen, sondern muss diese Befriedigung bei einer anderen Frau, einer Amme, finden, sein (allmähliches) Erwachsenwerden wird eingeleitet.
Die Abnabelung von der Mutter, also die Vertreibung aus dem Kindheitsparadies, haben wir jetzt ontogenetisch, als notwendigen Entwicklungsschritt im Leben eines einzelnen Menschen geschildert. Sowohl die biblische Erzählung von Adam und Eva, als auch Ovids Dryope-Amphissos-Geschichte lässt sich auch phylogenetisch deuten: Als Erwachsenwerden der Menschheit, wozu sie aus ihrem Kindheitsparadies, nämlich dem Entwicklungsstadium des Naturzustandes, vertrieben werden musste. Unsere Affenvorfahren – und weitgehend auch der Urmensch – lebten mehr oder weniger auf Bäumen, deren Früchte sie nährten und die ihnen Zuflucht vor wilden Tieren (und der Sonnenhitze) boten; die Menschheit erlebte in ihrer Frühzeit die Bäume als mütterliche Wesen und die archetypische Vorstellung Baum als Mutter ist eine phylogenetische Erinnerung an diese Frühzeit. Um sich aber kulturell höher zu entwickeln, musste der Mensch seine Unschuld gegenüber den Bäumen – wie gegenüber der gesamten Natur – aufgeben: Er rodete Wälder, um Ackerland zu gewinnen oder das Holz als Baumaterial für Geräte, Waffen, Brücken, Häuser, Schiffe zu benutzen. Statt in Harmonie mit den Bäumen zu leben, tritt er ihnen als Ausbeuter und Zerstörer gegenüber und treibt Raubbau wie Adam und Eva, die sich nicht mit dem begnügen, was zu pflücken ihnen erlaubt ist,  sondern auch vor dem verbotenen Baum nicht haltmachen. Zu Recht fürchtet Dryope, die als Baum weiterleben muss, von solchen Menschen Übergriffe, so dass sie mit ihren Abschiedsworten ihre Verwandten beschwört:

Care vale coniunx et tu, germana, paterque,
qui, siqua est pietas, ab acutae vulnere falcis,
a pectoris morsu frondes defendite nostras.

Leb wohl, lieber Mann, lebt wohl, Schwester und Vater!
Schützt – bei eurer Liebe! – mein Laub vor Verwundung durch das scharfe Gartenmesser
 und vor den Bissen des Viehs.

Die pietas ihrer Verwandten, an die Dryope appelliert, ist hier ein Schlüsselbegriff. Pietas bedeutet „Frömmigkeit“ und zugleich „zärtliche Liebe/Anhänglichkeit unter Verwandten“ und insbesondere „kindliche Liebe zu Vater und Mutter“, bezeichnet also eine von Verehrung, Scheu und Liebe geprägte Haltung sowohl gegenüber Gottheiten, als auch gegenüber Menschen – wie übersetzt man es an dieser Ovid-Stelle  richtig? „Frömmigkeit“ wäre nicht falsch, da pietas hier auch religiösen Sinn hat, denn es geht um Baumkult ; Ovid will mit diesem Mythos erklären, warum Bäume für den Menschen heilig-unantastbar sein sollen. Aber auch „Liebe“ (unter Verwandten, insbesondere des Kindes zur Mutter) – wie Michael von Albrecht übersetzt – ist richtig: Der Mensch, der Hand an einen Baum legt, verletzt ein ihm verwandtes Wesen, denn archetypisch ist – wie eingangs festgestellt – der Glaube, der Mensch sei von einem Baum geboren und lebe nach seinem Tod als Baum weiter. Pietas hat hier beide Bedeutungen, was auch religionsgeschichtlich aufschlussreich ist: Der Frühmensch hat Bäume als mütterliche Wesen erlebt, das wirkt im Baumkult weiter. Und: Der Mensch, der an den mütterlichen Bäumen Raubbau betreibt, sie verletzt oder gar fällt, überschreitet eine Grenze wie ein Sohn, der seiner Mutter zu nahe tritt. Solch eine Grenze möchte in seinem Unterbewusstsein auch das kranke Kind im Erlkönig überschreiten: gemeint ist die verbotene Rückkehr ins Kindheitsparadies.



1) Einordnung und Definition bei Walter Hinck: Die deutsche Ballade von Bürger bis Brecht,   S.14-16

2) Homer: Odyssee 19,162f.; Übersetzung: Anton Weiher

3) J. M. Gassner: Aus Sitte und Brauch der Mettersdorfer. Ein Beitrag zur siebenbürgisch-sächsischen Volkskunde. Bistritz 1902, S. 5 – Weitere Beispiele bei Albrecht Dieterich: Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion. 3. Auflage 1925, S. 19 und 126f.

4) Ovid: Metamorphosen, X, 503ff. – Übersetzung: Michael von Albrecht (zweisprachige Reclam-Ausgabe)

5) Homerischer Aphroditehymnus 264ff. – Übersetzung: Anton Weiher

6) Plinius: Naturgeschichte XV,77 – zitiert aus der zweisprachigen Tusculum-Ausgabe; Herausgeber und Übersetzer: Roderich König

7) Zum Beispiel bei Sophokles: Ödipus auf Kolonos 701

8) Pausanias: Beschreibung Griechenlands IV, 34,6

9) William Smith: Religion of the Semites, S. 133

10) Aelianus: Tiergeschichten 10,48

11) Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Artikel Schlange, Spalte 1140

12) Zur Baumschlange als genius loci ausführlich Carl Boetticher: Der Baumkultus der Hellenen. 1856. Kapitel XIV.: Schlangen als Hüter des heiligen Baumes

13) Bibliothek des Apollodor 2, 113 und 121

14) Bibliothek des Apollodor 1, 131

15) Vgl. 1 Moses 3,14-15: „Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang.“ Und 1 Moses 3,17: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen“ – Mit „Acker“ ist bei Luther übersetzt: ge „Erde“ (Septuaginta), bzw. terra (Vulgata); verflucht wird die vorchristliche Gottheit Mutter Erde.

16) Ludwig Radermacher: Mythos und Sage bei den Griechen (S. 245) charakterisiert den Sinis-Mythos zu Recht als „Riesensage. Denn um Fichten herabzubiegen, muss man nicht nur sehr stark, sondern auch hochgewachsen sein“.

17) Plutarch: Theseus  8; Ovid: Metamorphosen VII, 440ff.

18) Plutarch: Theseus 25

19) Plutarch: Alexander 43

20) Historia Augusta. Aurelian 7

21) Weitere Beispiele bei Radermacher a.a.O.

22) Wir gehen über die enge Freudsche Auffassung des Ödipuskonflikts als rein sexuelle Angelegenheit hinaus – vgl. auch Fußnote 25

23) Sigmund Freud: Das Ich und das Es (Gesammelte Werke XIII, 261) und Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert (Gesammelte Werke XIII), wo die homophil-feminine Sehnsucht eines Sohnes nach dem Vater, der als Teufel erscheint, behandelt wird. Freud spricht vom Teufelspakt – so könnte man auch nennen, wonach der Knabe im Erlkönig unbewusst strebt: sich mit seinem Vater erotisch einzulassen, denn der Böse hat durchaus etwas zu bieten: „Warum verschreibt man sich dem Teufel? Dr. Faust fragt zwar verächtlich: Was willst du armer Teufel geben? Aber er hat nicht Recht, denn der Teufel hat als Entgelt für die unsterbliche Seele allerlei zu bieten, was die Menschen hoch einschätzen: Reichtum, Sicherheit vor Gefahren, Macht über die Menschen und über die Kräfte der Natur, selbst Zauberkünste und vor allem anderen: Genuss, Genuss bei schönen Frauen“ (S. 324). Dieser Freudsche Aufsatz ist für die Deutung des Erlkönigs auch deshalb fruchtbar, weil Freud daran erinnert, dass der christliche Vatergott als überwachende und strafende Gewissensinstanz Weiterentwicklung des realen Vaters ist. Der negative Aspekt dieser Vaterfigur, sein Schatten (wie C.G.Jung sagen würde), also Verkörperung des unmoralischen, kinderschänderischen Vaters, wäre dann ein Dämon wie zum Beispiel der Teufel, als der er dem von Freud analysierten Maler des 17. Jahrhunderts erscheint. Das Christentum hat die heidnischen Götter, die es besiegt hat, oft dämonisiert, verteufelt (S. 330ff.) – zu ihnen gehörte der genius loci (der oft eine Schlange war, die im Christentum Verkörperung des Bösen wurde – vgl. Fußnote 15). Solch ein Dämon, der aus einem genius loci entstand, ist der Erlkönig, der dem Knaben den bösen Aspekt seines Vaters verkörpert.

24) Vgl. zum Beispiel James Simpson: Freud and the Erl King, Oxford German Studies 27 (1998), S. 43 und 46:
“Indeed, one of the things witch seems so sinister about the Erl King is that, by offering mother and daughters as part of his appeal to the child, he calls up and apparently sanctions the very feelings towards mother and sister for witch a male child, according to Freud, has come to fear a dreadful punishment – castration.

Thus, if we allow any status at all to ‘Kastrationsangst’ in the poem, it could as plausibily be located here as in the more familiar context of the punishment of incestuous wishes.”

25) zum Beispiel von dem Psychoanalytiker und Narzissmusforscher Béla Grunberger: Vom Narzissmus zum Objekt, Frankfurt a.M. 1976, S. 35: „Aus dem ehemaligen narzisstischen Parasiten muss nun ein aktives Individuum werden, das künftig die Last seiner Existenz  selber trägt (das Kind ist aus dem Paradies vertrieben und muss ‚im Schweiße seines Angesichts‘ für seine Bedürfnisse aufkommen).“

26) Dazu Freud:

„Das regelmäßige Ergebnis der analytischen Arbeit lautete, dass dieses dunkle Schuldgefühl aus dem Ödipus-Komplex stamme, eine Reaktion sei auf die beiden großen verbrecherischen Absichten, den Vater zu töten und mit der Mutter sexuell zu verkehren. … Man muss sich hier daran erinnern, dass Vatermord und Mutterinzest die beiden großen Verbrechen der Menschen sind, die einzigen, die in primitiven Gesellschaften als solche verfolgt und verabscheut werden. Auch daran, wie nahe wir durch andere Untersuchungen der Annahme gekommen sind, dass die Menschheit ihr Gewissen, das nun als ererbte Seelenmacht auftritt, am Ödipus-Komplex erworben hat.“                                       Freud: GW X, 390f.

„Es ist ganz unzweifelhaft, dass man in dem Ödipuskomplex eine der wichtigsten Quellen des Schuldbewusstseins sehen darf, von dem die Neurotiker so oft gepeinigt werden. Aber noch mehr: in einer Studie über die Anfänge der menschlichen Religion und Sittlichkeit, die ich 1913 unter dem Titel „Totem und Tabu“ veröffentlicht habe, ist mir die Vermutung nahe gekommen, dass vielleicht die Menschheit als Ganzes ihr Schuldbewusstsein , die letzte Quelle von Religion und Sittlichkeit, zu Beginn ihrer Geschichte am Ödipuskomplex erworben hat.                                                                                                              Freud: GW XI, 344

27) Übersetzung: Michael von Albrecht (Reclam)


   
 
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