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TJUTSCHEW: ВОСТОК БЕЛЕЛ.../ DER OSTEN SCHIMMERTE HELL..

Восток белел. Ладья катилась,
Ветрило весело звучало, —
Как опрокинутое небо,
Под нами море трепетало…

Восток алел. Она молилась,
С чела откинув покрывало, —
Дышала на устах молитва,
Во взорах небо ликовало…

Восток вспылал. Она склонилась,
Блестящая поникла выя, —
И по младенческим ланитам
Струились капли огневые…

Der Osten schimmerte hell. Das Schiff glitt dahin,
Das Segel tönte heiter, -
Wie ein umgestürzter Himmel,
Bebte unter uns das Meer…

Der Osten schimmerte rot. Sie betete,
Ihren Schleier hatte sie von der Stirn gezogen, -
Auf ihren Lippen atmete das Gebet,
In ihren Blicken frohlockte der Himmel…

Der Osten entbrannte. Sie beugte sich nieder,
Ihr blanker Hals neigte sich, -
Und auf den kindlichen Locken
Flossen Feuertropfen…

Ein sehr junges Mädchen wendet sich auf einem Schiff der aufgehenden Sonne zu und begrüßt sie mit einem Morgengebet. Das Gedicht atmet heidnischen Geist, denn die Anbetung der Sonne, ihre Verehrung als mächtigster der Himmelsgötter, dem sich das Leben auf Erden verdankt, ist vorchristlich, naturreligös.
Das Meer als Urschoß, aus dem das Leben stammt, ist weiblich (1), während
Himmel und Sonne männlich sind – hier nur ein Beispiel: Der naturfromme Indianer Sitting Bull sagt über die Sonne und ihre zeugende Potenz:

Seht, Freunde, der Frühling ist da. Die Erde hat sich freudig von der Sonne umarmen lassen, und bald werden wir die Kinder ihrer Liebe sehen. Jeder Same ist erwacht, jedes Tier lebt. Dieser göttlichen Kraft verdanken auch wir unser Dasein. Darum gestehen wir unseren Mitgeschöpfen, Menschen und Tieren, das gleiche Recht wie uns selbst zu, dieses weite Land zu bewohnen.                                      (2)

In Tjutschews Gedicht spiegelt sich der Himmel im Meer, die obere männliche Hälfte des Kosmos hat sich mit der unteren weiblichen Hälfte in Liebe vereint, und von dieser Vereinigung ist das Meer erregt, es bebt:

Как опрокинутое небо,
Под нами море трепетало…

Wie ein umgestürzter Himmel,
Bebte unter uns das Meer…

Der Himmelsgott, die aufgehende Sonne, spiegelt sich auch in den Augen des Mädchens: „Во взорах небо ликовало…/ In ihren Blicken frohlockte der Himmel…“ – das Mädchen wird mit dem Meer gleichgesetzt.

Zum Bereich des Himmels, zum Äther, gehört natürlich die (bewegte) Luft, die als Wind das Segel zum Tönen bringt und als Morgengebet auf den Lippen des Mädchens atmet: „Дышала на устах молитва / Auf ihren Lippen atmete das Gebet“. Nicht nur im Meer gespiegelt und im Blick des Mädchens lebt der Himmel, sondern auch als Atem in ihren Lungen, zwischen ihren Lippen. Und der siegreich aufgehende Sonnengott gießt sein Lichtsperma, die „капли огневые / Feuertropfen“ auf das Mädchen – zu der archetypischen Vorstellung, dass Sonnenstrahlen, mit denen der männliche Himmelsgott auf die untere weibliche Hälfte des Kosmos, auf Mutter Erde oder das Meer, zeugend und wachstumsfördernd einwirkt, so dass sein Licht Samen gleicht, Lichtsperma ist, hier nur zwei Beispiele:
In der griechischen Sage hält Akrisios seine Tochter Danae in einem gruftartigen Verließ gefangen, sperrt sie weg vom „Licht des Himmels“ (3), damit sie nicht schwanger wird und ihm keinen Enkel gebiert. Doch der
Himmelsgott Zeus, der ursprünglich die Sonne war, dringt zu ihr durch in Gestalt von Sonnenlicht und schwängert sie. Sein zeugendes Licht stellt man sich als Sperma vor, also flüssig, und spricht deshalb vom Goldregen des Zeus – Sophokles nennt es „goldenströmendes Sperma / gonas chrysorythous“; der Sonnen- und Himmelsgott Zeus ist personifizierte Naturpotenz, die die Machenschaften des perversen Vaters, der die Natur seiner Tochter an ihrer Entfaltung hindern will, durchkreuzt.
In Homers Ilias (14,346ff.) wohnt Zeus seiner Gattin Hera bei und bewirkt dadurch, dass aus dem Flecken Erde, der ihr Liebeslager ist, verschiedene Pflanzen spießen:

Also Zeus, und umarmte voll Inbrunst seine Gemahlin.
Unten nun spross die heilige Erd‘ aufgrünende Kräuter,
Lotos mit tauiger Blum‘, und Krokos, samt Hyakinthos,
Dichtgedrängt und weich, die empor vom Boden sie trugen:
Hierauf ruheten beid‘, und hüllten sich rings ein Gewölk um,
Schön und strahlend von Gold; und es taueten glänzende Tropfen.   (4)

Hera verkörpert als Gemahlin des Zeus Mutter Erde/Mutter Natur, auf die der Himmels- und Sonnengott befruchtend und wachstumsfördernd einwirkt. Damit niemand den Liebesakt beobachtet, erzeugt Zeus eine verhüllende Wolke. Diese Wolke glänzt golden, ist also die Ausstrahlung der Sonne. Die „leuchtenden Tautropfen“, die aus dieser Wolke auf die Erde „herabfallen“ (wörtlich übersetzt), sind Lichtsperma (5).

In Tjutschews Gedicht hat sich der Himmelsgott also dreifach mit dem Mädchen vereint: Er spiegelt sich in ihren Augen, atmet als Morgengebet aus ihrem Mund und fließt als Tropfen Himmlischen Feuers auf ihren Locken.
Solch eine Vereinigung ist natürlich erotisch – ein neuer Morgen bedeutet die Wiedergeburt der lebenspendenden Sonne aus dem mütterlichen Schoß des Meeres, verheißt neues Leben, das auch das Mädchen schenken wird – es wird Mutter werden; das Gedicht ist nicht christlich, sondern naturreligiös: Der Mensch erhebt sich nicht über die Natur, indem er die Natur in sich, zu der auch die Sexualität gehört, verteufelt und unterdrückt, sondern fühlt sich als Teil von ihr – deshalb öffnet sich das Mädchen wie das Meer oder Mutter Erde dem zeugenden Licht der Sonne.


1) Vgl. C.G.Jung: Symbole der Wandlung (Gesammelte Werke 5), §§ 307-311, 319-320, 500-501

2) ) Charles A. Eastman: Indian Heroes and Great Chieftains (Reprint 1991. Originally published: Boston 1918), Kapitel 7: Sitting Bull

3) Sophokles: Antigone 944ff.

4) Übersetzung: Johann Heinrich Voß

5) Weitere Beispiele für Lichtsperma hier

   
 
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