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GOGOL: VIJ

In Gogol’s Erzählung Vij springt eine alte Hexe dem jungen Seminaristen Choma Brut, dem „Philosophen“ (1), auf den Rücken und reitet auf ihm, was er zunächst als lustvoll empfindet. Doch aus Angst, von ihr in den Tod geritten zu werden, befreit er sich von ihr und vertauscht die Rollen: Er reitet sie, und zwar so brutal, dass er sie tötet; sterbend erweist sich die dämonische Reiterin als schönes Mädchen. Am nächsten Tag wird Choma Brut zu einem Landgut geholt, weil die Tochter des Gutsherrn, die pannotschka (2), auf einem Spaziergang außerhalb des Guts so brutal zusammengeschlagen worden ist, dass sie im Sterben liegt und als letzten Wunsch geäußert hat, der Seminarist solle in drei Nächten an ihrem Sarg Totengebete lesen. Choma Brut erkennt in ihr die Hexe, und in der dritten Nacht, die er allein an ihrem Sarg in der Kirche verbringen muss, wird er zusammen von ihr und von dämonischen Wesen, zu denen auch das männliche Monster Vij gehört, getötet. Gogol’s Vij wird oft im Lichte der Psychoanalyse Sigmund Freuds interpretiert, wozu besonders der dämonische Ritt einlädt, der sich als Symbol für einen inzestuösen Sexualakt deuten lässt. Die Hexe, die den Jüngling als altes Weib bespringt und sich später als verführerisch schöne junge Frau erweist, verkörpere die Mutter, die den Wunsch des Sohnes nach inzestuöser Vereinigung erfülle: „There is an old woman who is at the same time a young girl – her love has made him anxious, but he has nevertheless answered it with a feeling of bliss and terror. Externally, she represents his ideal of beauty. We are confronted by an unmistakable repetition of the Oedipus situation” (3). Für diesen Inzest sei Choma Bruts Tod die Strafe: “But since this ‘ride’ is itself an obviously sexual act, he too must pay the penalty, and the woman is the executioner. She returns from the dead with allies from among the powers of darkness, and poor Xoma Brut is literally frightened to death by the vij … “ (4). “Dieser Vij, dessen Blick genügt, um den Philosophen zu töten, ist niemand anders, als die Imago des Vaters, der seine sexuellen Wünsche sieht, das, was andere nicht sehen und auch nicht sehen können (der Vater-Gott, der alles sieht)” (5).  Der Freudsche Ansatz verführt zu biographischer Deutung: Vij repräsentiere den Vater des Autors Gogol’, dessen Strafe er wegen inzestuöser Wünsche gefürchtet habe. Gogol’s Vater, der verstarb, als Gogol‘ 15 war, komme zur Bestrafung des Sohnes, der seine Mutter begehre, aus dem Grab: „The basis must then be: the identification of Gogol with Homa Brut. … There is a man who is covered with earth – let us assume that he comes out of the grave.  … Viy with his iron face is the image of an inexorable father who comes to avenge his son’s incest” (6).

Die Freudianer deuten Choma Bruts Tod also als Strafe für einen verbotenen Übergriff auf eine Frau: auf die pannotschka, die für seine – oder Gogol’s – Mutter steht, das heißt, als Strafe für Inzest oder Inzestwünsche. Als Strafe für einen verbotenen Übergriff des Helden auf eine Frau, die pannotschka, deuten auch wir seinen Tod, und auch für uns verkörpert die pannotschka eine Mutter, aber nicht nur die persönliche Mutter der Hauptfigur oder des Autors Gogol‘, sondern auch Mutter Natur.
Es ist eine uralte, in Mythen erhaltene archetypische, das heißt allen Menschen angeborene Vorstellung, dass von Menschenhand unberührte Natur, zum Beispiel ein Wald, mütterlich ist und dem Menschen wie eine Mutter ihrem Kind Schutz und Nahrung bietet. Dieser
Archetypus Wald als Mutter Natur geht wohl auf unsere Affen-Vorfahren zurück, die mehr oder weniger auf Bäumen lebten und dort nicht nur Früchte zur Nahrung, sondern auch Schutz vor Raubtieren und – besonders in heißen Ländern – vor der Sonne fanden, die den Wald also als mütterlich erlebten. Treibt der Mensch jedoch aus Habgier Raubbau an der Natur, indem er zum Beispiel exzessiv Jagd auf die Tiere des Waldes macht, systematisch Baumfrüchte aberntet oder gar ganze Wälder abholzt zur Gewinnung von Ackerland oder Bauholz, vergeht er sich an der Mutter, und dieser Frevel wird  auch als ein Inzest, als verbotener Übergriff auf die mythische Mutter Natur empfunden.
Für den Menschen, der sich an der Mutter Natur vergeht und dafür grausam bestraft wird, steht in Mythologie und Dichtung oft ein rücksichtsloser Jäger – unser Beispiel ist Aktaion. Ovid schildert in seinen Metamorphosen (7), wie er mit seinen Jagdgefährten und Jagdhunden wieder einmal hemmungslos sein Jagdfieber auslebt, so dass schon ein ganzer Berg „gefärbt vom Blut verschiedener Tiere“ ist. Da trifft er auf Artemis (die bei den Römern Diana heißt), Göttin und Schutzherrin des Waldes und der Tiere, die in ihm leben und zu ihm gehören (8). Sie badet zusammen mit ihren Nymphen in einem verborgenen Winkel des Waldes, in den Aktaion von der Neugierde des Jägers getrieben eindringt. Die überraschte und erzürnte Göttin verwandelt den Jäger in einen Hirsch, der von seinen eigenen Jagdhunden zerrissen wird. Artemis ist Jungfrau, weil sie die vom Menschen unberührte „jungfräuliche“ Natur verkörpert. Dass Aktaion in ihren Wald eindringt und sie nackt sieht, steht symbolisch für einen sexuellen Übergriff. Freudianer deuten die jungfräuliche Göttin Artemis als Mutter, die für den Sohn wegen des Inzestverbots tabu ist. So deuten wir Artemis auch, aber nicht nur als persönliche Mutter Aktaions (oder Ovids),  sondern auch als Mutter Natur, an der sich der Mensch nicht frevelnd vergreifen soll. Der Aktaion-Mythos besteht also aus zwei Freveln: Aktaion vergeht sich am Wald und seinen Tieren als hemmungsloser Jäger. Und er tritt Artemis, der Göttin des Waldes, sexuell zu nahe, indem er in ihr Reich, den Wald, eindringt und sie nackt sieht. Beide Frevel gehören zusammen: Der Jäger vergreift sich an Mutter Natur.

Zurück zu Gogol’s Erzählung. Choma Brut ist Seminarist an einer geistlichen Schule und kein Jäger, hat aber das Zeug zu einem solchen, denn die Gedanken, die ihm angesichts der Natur um das Landgut der pannotschka durch den Kopf gehen, verraten, dass er die Natur als Ausbeutungsobjekt betrachtet:

“Welch herrliches Stück Erde”, sagte der Philosoph, “wie schön ließe sich’s hier leben; im Dnjepr und in den Teichen könnte man Fische fangen, und mit Gewehr und Netz nach Schnepfen und Zwergtrappen jagen; übrigens wird es in diesen Wiesen auch andere Trappen geben. Man könnte in Hülle und Fülle Früchte trocknen und sie in der Stadt verkaufen, oder noch besser Schnäpse daraus machen, denn Fruchtschnaps geht doch noch über Branntwein.
(S. 513)                                                                              (9)

In Choma Brut steckt ein Aktaion, und die von ihm so brutal behandelte pannotschka entspricht der Artemis, der weiblichen Gegenspielerin des männlichen Ausbeuters der Natur. Denn wie die antike Göttin ist die pannotschka Herrin der wilden Tiere, auf die Männer wie Aktaion und Choma Brut gerne Jagd machen, denn solche Tiere, vor allem Vögel, versuchen in der zweiten Nacht, in die Kirche einzudringen, was ihnen in der dritten Nacht gelingt, um zusammen mit ihrer toten Herrin Choma Brut zu töten:

Nach ihren Worten erhob sich ein Sturm in der Kirche, ein Lärm wie von unzähligen Flügeln, die durch die Luft rauschten. Er hörte, wie die Flügel gegen die Fensterscheiben und eisernen Fensterrahmen der Kirche schlugen, er hörte es winseln und an dem Eisen kratzen, eine ungeheuere Kraft stieß donnernd gegen die Tür und wollte sie aufbrechen.        (S. 530)

Unterdessen aber hörte er, wie die Dämonen um ihn herumtobten, sie streiften ihn fast mit ihren Flügeln und berührten ihn mit ihren widerlichen Schwänzen.                                                                 (S. 537)

Mit den Vögeln, deren Schutzherrin sie ist, wird die pannotschka auch durch ihren Vater identifiziert, der sie liebevoll mit einer –vom Menschen gern gejagten – Wachtel vergleicht (S. 517).
Auch der Wald, deren Verkörperung die pannotschka-Artemis ist, marschiert in der Kirche gleichsam drohend gegen Choma Brut auf:

Er bemerkte nur, dass ein riesiges Ungeheuer, das so lang wie die Wand war, vor ihm stand: Ein dichter Wald von gräulichen, durcheinandergewirrten Haaren hüllte es ein, durch das Geflecht der Haare aber blickten zwei grausige Augen hervor …                                                              (S. 537)

Die Erzählung endet mit dem Triumph der vom Menschen ungezähmten Natur über Choma Brut: Die Stätte seines Wirkens, die Kirche, hat der Wald zurückerobert:

So blieb denn die Kirche mit den in den Fenstern und Türen festgebannten Ungeheuern in alle Ewigkeit leer. Wald, Wurzeln, Steppengras und wilde Dornhecken überwucherten sie, - und niemand wird je wieder den Weg zu ihr finden.                                                                             (S. 538)

Vergeht der Mensch sich an der Natur, zieht er den Zorn der Schutzherrin Artemis auf sich, und dieser Zorn war in ältesten, barbarischen Zeiten so ungeheuer, dass er nur durch Menschenopfer gestillt werden konnte. Bekanntestes Beispiel dafür ist Agamemnon, der auf der Jagd einen Hirsch getötet hatte, der Artemis teuer war und unter ihrem Schutz stand. Agamemnon musste seine Tochter Iphigenie opfern, um den Zorn der Göttin zu beschwichtigen (10).
Als die Menschheit zivilisierter wurde, wurden diese archaischen Bräuche abgemildert. So wurde der Altar der Artemis Orthia im alten Sparta ursprünglich mit Blut bespritzt, das von Menschen stammte, die für die Göttin geschlachtet wurden. Das Ritual der Besprengung wurde beibehalten, doch zur Erlangung des Blutes wurde nicht mehr getötet, sondern nur noch gegeißelt; Pausanias überliefert:

Und darauf erging ein Spruch an sie, den Altar mit Menschenblut zu bespritzen. Als geopfert wurde, wen das Los traf, ersetzte Lykurgos das durch die Geißelung der Epheben, und so wird der Altar ebenfalls mit Menschenblut bespritzt. Die Priesterin steht mit dem Holzbild daneben. Das ist sonst leicht durch seine Kleinheit, wenn aber jemand aus Rücksicht auf Schönheit oder Rang eines Epheben vorsichtig schlägt, dann wird das Bild für die Frau zu schwer und nicht mehr leicht tragbar. Sie beschuldigt die Geißelnden und sagt, sie werde ihretwegen bedrückt. So ist es dem Kultbild von Tauris her geblieben, sich immer noch an Menschenblut zu freuen.                  (11)

Die Statue der Artemis ist – wie Pausanias hier überliefert – aus Holz, denn sie ist die Göttin des Waldes. Der spartanische Brauch der Menschenopfer und später der Ephebengeißelung wurzelt also im Baumkult.
Und im Artemis-Heiligtum im attischen Brauron wurde Männern mit einem Schwert die Haut am Hals geritzt, so dass Blut floss, wodurch ursprüngliche Menschenopfer ersetzt worden sind (12).
Menschenopfer verlangt auch die pannotschka, und da sie ihr in christlichen Zeiten nicht mehr dargeboten werden, holt sie sie sich. So erzählt der Kosake Dorosch, wie die pannotschka, die als Hexe gilt – vorchristliche Gottheiten lebten im Christentum oft als Dämonen oder Hexen weiter – einem Kind die Kehle durchgebissen und ihm das Blut ausgesaugt hat.
Die Sitte, Menschenopfer durch nicht-tödliche Blutopfer zu ersetzen, so dass Menschen für die Göttin nicht mehr sterben, sondern nur noch bluten müssen, scheint sich auch in diesem von einem anderen Dorfbewohner über die pannotschka erzählten Märchen zu spiegeln:

Das Hexenthema war unerschöpflich, ein jeder brannte darauf, etwas zu erzählen. … vielen Mädchen im Dorfe hatte sie die Zöpfe abgeschnitten, und andern das Blut eimerweis ausgesogen.                          (S. 524)

Worin besteht der tiefere Sinn solcher Opfer? Sie fließen aus dem archaischen Schuldgefühl des Menschen, der sich über die Natur erhoben hat und sie ausbeutet. Für das Holz, die Baumfrüchte, Beeren und erlegten Tiere, die sich der Mensch im Raubbau aus dem Wald, eigentlich einem unberührten Stück Natur, holt, muss er etwas als Ersatz zurückgeben, etwas Organisches, also Erntefrüchte, Tiere, Menschen oder Blut, das als Dünger dient, damit Mutter Natur weiterhin mütterlich sein, das heißt neues Leben gebären und nähren kann; es ist uraltes naturreligiöses Kreislaufdenken, das sich so ausdrücken lässt:

Die absolute Unabhängigkeit und Totalität der göttlichen Virgo verlangt dieses ständig sich wiederholende Opfer als Voraussetzung für ihre lebenschaffende und -erhaltende Wirksamkeit als Mήτηρ und Kουροτρόφος.                (13)

Auch den Choma Brut begehrt die Göttin als Opfer und bekommt ihn schließlich in der dritten Nacht mit Hilfe Vijs und ihrer Tiere. Choma Brut stirbt als Menschenopfer und gleicht deshalb Christus (14), der sein Leben am Kreuz hingegeben hat, um Gottes Zorn über die Sündhaftigkeit des Menschengeschlechts zu beschwichtigen – das legen in Gogol’s Erzählung verschiedene Anspielungen auf Bibelstellen nahe. So wird Choma Bruts Gehrock bei einem Fluchtversuch von einer Dornenhecke, im Original ternovnik, zerrissen – ternovnik ist Synonym zu tern, das eigentlich „Schlehdorn“ bedeutet, aber im Neuen Testament für die Dornen steht, die das Haupt Christi zerkratzen (15): ternovyj venec bzw. venec iz terna heißt im Russischen die Dornenkrone.
Bewacht wird die Hinrichtung Christi und der beiden anderen zur Kreuzigung Verurteilten von römischen Soldaten, die einem Offizier unterstehen, einem Centurio (griechisch ἑκατόνταρχος), dessen Rang in der russischen Bibel  mit sotnik wiedergegeben ist (16). Ein sotnik ist auch der Gutsherr, der Choma Brut zwingt, die Totengebete in der Kirche zu sprechen. Seine Untergebenen sind einfache Kosaken, also wie er (Ex)Soldaten. Sie holen Choma Brut ab, bringen ihn zu dem Ort, an dem er den Tod finden soll, und hindern ihn daran, sich auf und davon zu machen. Auch durch brutale Drohungen schreckt der alte sotnik Choma Brut davon ab, von seinem fatalen Auftrag zurückzutreten.
Die Sünde, die Gottes Zorn erregt und durch Christi Opfertod beschwichtigt wird, ist mit dem Sündenfall in die Welt gekommen, als Adam und Eva eine Frucht vom Baum der Erkenntnis aßen. Eva gilt deshalb als femme fatale, die Adam zu etwas Verbotenem verführt hat. Diese Baumfrucht, die auf Gemälden alter Meister fast immer ein Apfel ist, heißt deshalb „verbotene Frucht“, russisch zapretnyj plod oder zapreschtschonnyj plod. Dieser Begriff kommt auch in Gogol’s Vij vor, und zwar in einem Zusammenhang, der ungewöhnlich ist, so dass der Leser darüber stolpern müsste. Auf dem Weg von Kiew zu dem Landgut steigen die Kosaken mit Choma Brut in einer jüdischen Herberge ab und bestellen unter anderem Wurst aus Schweinefleisch, die der jüdische Gastwirt ihnen gleichsam mit spitzen Fingern serviert, weil Schweinefleisch für ihn aus religiösen Gründen tabu ist – das wird in der Erzählung so beschrieben: Der Jude legt die Wurst aus Schweinefleisch seinen Gästen auf den Tisch und

wendet sich sofort von dieser im Talmud verbotenen Frucht ab.        (17)

Fleisch als verbotene Frucht zu bezeichnen ist ungewöhnlich, so dass der Leser hier aufmerksam werden soll. Das Stichwort „Schwein“ ist in der Erzählung ja schon gefallen, als das alte Weib sich dem Jüngling in Gestalt eines Schweines nähert, was zu Recht als Symbol für „schweinische“, also verpönte sexuelle Wünsche interpretiert wird (18). Schweinefleisch als verbotene Frucht verweist also auf verbotene Fleischeslust, da die pannotschka als Mutterfigur für Choma Brut ein verbotenes inzestuöses Sexualobjekt ist, eine „verbotene Frucht“. 
Die biblische Erzählung vom Sündenfall lässt sich aber auch aus uraltem Baumkult erklären. Adam und Eva durften Früchte von allen Bäumen im Paradies essen, nur nicht vom Baum des Lebens und vom Baum der Erkenntnis.  Diese beiden Bäume gleichen deshalb heiligen Bäumen, die vorchristliche Menschen als unantastbar verehrten, um ihr schlechtes Gewissen zu beschwichtigen, das entstand, weil sie Raubbau an der Natur trieben, zum Beispiel ganze Wälder rodeten, um Ackerland oder Bauholz für Kriegs- und Handelsschiffe zu gewinnen – der Sündenfall besteht nach dieser Interpretation in der Gier, die keinen Baum verschont. Die Mentalität eines rücksichtslosen Ausbeuters der Natur hat ja auch Choma Brut, was seine Gedanken bei der Betrachtung der paradiesischen Natur, in die das Landgut eingebettet ist, verraten – das Zitat sei hier wiederholt:

„Welch herrliches Stück Erde“, sagte der Philosoph, „wie schön ließe sich’s hier leben; im Dnjepr und in den Teichen könnte man Fische fangen, und mit Gewehr und Netz nach Schnepfen und Zwergtrappen jagen; übrigens wird es in diesen Wiesen auch andere Trappen geben. Man könnte in Hülle und Fülle Früchte trocknen und sie in der Stadt verkaufen, oder noch besser Schnäpse daraus machen, denn Fruchtschnaps geht doch noch über  Branntwein.  (S.513)

Aus Choma Brut spricht der alte Adam – man könnte auch sagen: ein moderner, gesteigerter Adam! Genussvoll malt er sich aus, wie die Baumfrüchte nicht nur gepflückt und gesessen, sondern systematisch abgeerntet, zum Konsum verarbeitet und vermarktet werden. Die Natur, verkörpert durch die pannotschka, die er zu Tode vergewaltigt hat, ist für ihn Jagd- und Ausbeutungsobjekt – darin besteht seine Ursünde, für die er bestraft wird.
Eine Vorahnung, von der Natur als Opfer geschluckt zu werden, in ihren Kreislauf wieder einzugehen, hat Choma Brut schon am Anfang der Erzählung, nachdem er mit seinen Kumpanen vom rechten Weg abgekommen und in die Natur eingedrungen ist:

„Mütterchen, lass uns hier übernachten; wir haben uns verirrt, im Freien ist es ebenso schlimm wie in einem leeren  Magen."                        (S.500)

Choma Bruts Schicksal, von der Natur gefressen (18a) zu werden, klingt auch als drohendes Omen in den Worten, die der trauernde Vater an seine aufgebahrte Tochter richtet und die Choma Brut mitbekommt:

… ich klage darüber, dass ich nicht weiß, welcher grimme Feind deinen Tod verursacht hat. Wüsste ich, wer es gewagt hat, dich zu beleidigen, oder nur ein böses Wort über dich zu sagen … seine Leiche sollte den Vögeln und wilden Tieren der Steppe zum Fraße dienen!                        (S.516f.)

Da Choma Brut den Tod der pannotschka verursacht hat, gilt diese Drohung im Grunde ihm und erfüllt sich in der dritten Nacht in der Kirche, als die dämonischen Tiere sich auf ihn stürzen, um ihn zu zerfleischen und zu fressen. Diese dämonischen Tiere vollstrecken den Willen der pannotschka, wie die Jagdhunde, die Aktaion zerfleischen, den Willen der Göttin Artemis vollstrecken.
Hier könnte man einwenden: Artemis ist die Herrin der wilden Tiere, Jagdhunde aber sind gezähmte Tiere – hier ist der Mythos in sich nicht stimmig! Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Hunde sind ja Nachkommen von Wölfen, die der Mensch sich gezähmt hat, also von wilden Tieren, die zu Artemis‘ Reich gehören. Und diese ursprüngliche Wildheit hat der Mensch seinen Jagdhunden nicht ganz ausgetrieben, sondern was davon erhalten ist, für sich abgerichtet, in seinen Dienst gestellt, um es gegen die übrige ungezähmte Natur einzusetzen. Artemis, die bewirkt, dass die Jagdhunde ihren Herrn zerfleischen, hat damit deren Abrichtung durch den Menschen rückgängig gemacht – Aktaions Hunde wurden wieder Wölfe.
Hunde und Wölfe spielen auch in Gogol’s Vij eine Rolle. Choma Brut hat Angst vor Wölfen (S. 499), so dass ihn schon am Anfang der Ereignisse, als die Burschen den Weg verlassen haben und in die Natur eingedrungen sind, ein aus der Wildnis schallendes „schwaches Stöhnen, das einige Ähnlichkeit mit dem Heulen eines Wolfes hatte“ (S. 499), erschreckt. Angst einjagendes Wolfsgeheul begleitet auch Choma Brut, als er zum dritten Mal in die Kirche gehen und dort Gebete sprechen muss, was er nicht überleben soll:

Es war eine höllische Nacht. Scharen von Wölfen heulten in der Ferne, selbst das Gebell der Hunde klang unheimlich.
„Es hört sich fast an, als wären das, was dort heult, gar keine Wölfe“, sagte Dorosch.                                                                          (S. 536)

Mit einem Male trat in der Kirche eine tiefe Stille ein. Aus der Ferne vernahm man das Heulen der Wölfe  ...                                              (S. 537)

Das Wolfsgeheul kommt „aus der Ferne“, also aus der Natur, die das Landgut umgibt und in der Choma Brut so gerne auf die Jagd gehen wollte. Das Geheul der Wölfe wird begleitet vom Gebell der Hunde, die auf dem Landgut leben – offenbar erfasst die Angriffslust der Wölfe auch ihre vom Menschen gezähmten Artgenossen. Als Choma Brut zum zweiten Mal zur von ihm getöteten pannotschka in die Kirche geht, muss er sich zusammen mit seinen Begleitern der Aggressivität der Hunde erwehren:

… sie gingen also zu viert zur Kirche – Spirid und Dorosch kamen auch mit – und wehrten mit ihren Peitschen die Hunde ab, die in Massen auf der Dorfstraße herumlungerten, bellten und sich wütend in die Peitschengriffe verbissen.                                                          (S. 524)

Wie Artemis es auf den Jäger Aktaion, der mit seinen vielen Hunden ihre Waldtiere tötet, abgesehen hat, so die pannotschka auf Mikita, der als besonders fähiger Hundeführer an den Jagden seines Gutsherrn teilnahm. Wie Artemis durch ihre göttliche Macht bewirkte, dass Aktaions Hunde ihrem Herrn nicht mehr gehorchten, so verdrehte die pannotschka als femme fatale Mikita den Kopf und bewirkte durch ihre Hexenkünste, dass der gerühmte Piqueur seine Hunde nicht mehr im Griff hatte, sie zum Beispiel verwechselte:

Das Fräulein brauchte ihn nur anzusehen, und die Zügel glitten ihm aus den Händen. Den ‚Räuber‘ nannte er ‚Brauner‘, er stotterte fortwährend und trieb weiß Gott was für einen  Unsinn.        

Zur Natur, die der Mensch ausbeutet und vergewaltigt und deshalb heftige Schuldgefühle empfindet, gehören neben Bäumen, die er fällt, und Waldtieren, die er jagt, auch Getreidehalme, die er bei der Ernte abschneidet (19). Die Naturgöttin, die für das Getreide zuständig war, hieß bei den Griechen Demeter und bei den Römern Ceres. Ihr Zorn über die brutalen Verletzungen musste mit Opfergaben besänftigt werden: „Spelt aber säten die Alten, aus Spelt bestand ihre Ernte; was man als erstes an Spelt schnitt, wurde Ceres geweiht“ – erinnert Ovid an den alten Brauch, der Muttergöttin die Erstlinge geernteter Feldfrüchte zu opfern (20). Auch aus dem alten Ägypten wird ein Erntebrauch überliefert, durch den Bauern bei der Getreideernte Schuldgefühle und Reue gegenüber der Muttergöttin Isis zum Ausdruck brachten:

Für die Entdeckung jener Früchte soll ein Gebrauch zeugen, der sich in Ägypten aus der alten Zeit erhalten habe: Noch jetzt rufen die Einwohner in der Ernte die Isis an, indem sie die ersten  geschnittenen Ähren niederlegen, und neben der Garbe stehend sich selbst schlagen.              (21)

Den Getreidepflanzen wird nicht nur vom Menschen, der sie aberntet, brutale Gewalt angetan, sondern auch von seinem Haustier, dem Schwein, das sie gerne aus ihrer Mutter, dem Erdboden, herauswühlt. Den Zorn der Schutzherrin Ceres, Repräsentantin  der vom Menschen bebauten Erde, des Ackers, muss der Bauer deshalb mit dem Blut des Übeltäters beschwichtigen, das heißt, er muss ihr eines seiner Schweine als Opfer darbringen – das überliefert Ovid in seinen Fasti:

Ceres erfreute zuerst sich am Blut des gefräßigen Schweines,
Die durch des Schädlings Tod rechtmäßig rächte die Saat.
Denn – so erfuhr sie – im Lenz, als die saftigen Pflänzchen den zarten Furchen entsprossen,
Wühlte das borstige Tier sie mit dem Rüssel heraus.
Büßen musste das Schwein.                                 (21a)

Wie die wilden Tiere des Waldes, die der Mensch jagt, schutzbefohlene Kinder der Muttergöttin Artemis sind, so sind die Getreidehalme, die aus dem Schoß der Mutter Erde wachsen, Kinder der Demeter, und das Schwein, das sie auswühlt, vergeht sich an Mutter und Kindern. Beide Muttergöttinnen müssen mit dem Blut der Übeltäter beschwichtigt werden (21b).
Zurück zu Gogols Erzählung: In Gestalt eines Heuschobers, also als Verkörperung brutal abgeschnittener Pflanzen, soll auch die pannotschka Dorfbewohnern erschienen sein und sie erschreckt haben:

Das Hexenthema war unerschöpflich, ein jeder brannte darauf, etwas zu erzählen. Zu dem einen war die Hexe in Gestalt eines Heuschobers bis dicht an die Tür gekommen ... (S. 524)

Aus solchen Fantasien spricht das Schuldgefühl des christlichen Menschen, der die Natur ausbeutet und im Gegensatz zu seinen heidnischen Vorfahren keinen Naturkult kennt, um dieses Schuldgefühl durch versöhnende Opferbräuche zu vermindern. Die Natur, deren Feind der Mensch ist, setzt sich in dem verwildernden Grundstück, das Choma Brut bei seinem Fluchtversuch durchquert, der Sense des erntenden Menschen gleichsam zur Wehr:

Hinter dem Zaune, der den Garten abschloss, zog sich ein wahrer Wald von Steppengras dahin, um das sich offenbar niemals ein Mensch bekümmerte. Und hätte eine Sense ihre Schärfe an den dicken, hart verholzten Stängeln prüfen wollen, sie wäre sicherlich in tausend Stücke gesprungen und zerschellt.                                                                          (22)

Diese Auflehnung der Natur gegen den Menschen kann symbolisch als Vorspiel oder Omen verstanden werden: Wenig später wird die Natur mit ihren Dornen Choma Bruts Gehrock zerkratzen und ihn am Schluss der Erzählung töten und die Stätte seines Wirkens, die Kirche, zurückerobern.

Wir haben die pannotschka als Nachfolgerin einer vorchristlichen Muttergottheit gedeutet, die denjenigen Menschen feindselig gesonnen ist, die sich die Natur, die sie verkörpert, unterwerfen wollen. Was aber ist mit Vij, ohne dessen Hilfe die pannotschka den feindlichen Menschen nicht besiegen kann und dessen Name der Erzählung den Titel gibt?
Vij ist ein Männername, offensichtlich ist sein Träger eine männliche Ergänzung zum weiblichen Naturdämon. Solch ein Fabelwesen, das – wie Vij der pannotschka – der unberührten Natur zu Hilfe kommt, um einen menschlichen männlichen Eindringling zu besiegen, gibt es in der vorchristlichen Mythologie: es ist der genius loci. Darunter versteht man im ursprünglichen und engeren Sinne ein Wesen, das ein Stück unberührter (oder noch wenig berührter) Natur, zum Beispiel einen Wald, einen einzelnen Baum oder einen Sumpf, vor Übergriffen des Menschen bewacht; es verkörpert die Wehrhaftigkeit der Natur und ist deshalb oft ein ungezähmtes gefährliches Tier oder ein bedrohliches menschenähnliches Fabelwesen. Oft ist der genius loci eine Schlange - vielleicht deshalb, weil dieses Tier den vom Menschen unbeeinträchtigten Ursprungszustand der Natur, den es beschützen soll, wegen seiner Urtümlichkeit besonders gut verkörpert. Beispiele:
In einer Sage aus dem vorislamischen Arabien brennen Harb b. Omayya und Mirdas b. Abi Amir einen von Menschen noch unberührten Wald nieder, um Ackerland zu gewinnen. Zwei weiße Schlangen, die Schutzdämonen des Waldes, fliehen unter Klagegeschrei und sorgen dafür, dass die beiden Naturzerstörer bald der Tod ereilt (23).
Der Mensch macht sich den genius loci zum Feind, wenn er die von ihm bewachte Natur zerstören oder Raubbau an ihr treiben will. Behandelt er sie schonend, hat er nichts zu befürchten. Das zeigt Aelians Erzählung (24) von dem makedonischen Herrschersohn Pindus, der sich vor den Nachstellungen durch seine Brüder in einer waldreichen Gegend verbirgt und sich dort von der Jagd auf Tiere ernährt, wodurch der den genius loci, eine riesige Schlange, auf den Plan ruft. Das Tier gebietet seinem unmäßigen Jagdfieber Einhalt und wird von Pindus beschwichtigt und sogar zum Freund gewonnen, weil es von ihm regelmäßig einen Teil seiner Jagdbeute als Opfer erhält. Deshalb ergeht es dem Königssohn gut, das Glück begünstigt ihn auf der Jagd und als seine Brüder ihn aufspüren und ermorden, rächt sein Schlangen-Freund ihn, indem er sie tötet.
Nicht nur durch exzessives Jagen, auch durch großangelegtes Sammeln von Waldfrüchten fürchtet der Mensch, sich den Zorn der Schlangen, die er sich als Wächter des Waldes denkt, zuzuziehen. So beschwichtigten Kinder in Thüringen, die zum Beerensammeln in den Wald gingen, die Schlangen mit dem Versprechen:

Atter, Atter, beiß mich nich,
Ech bring der o viel Beäre mit!

und ließen einen Teil der gesammelten Beeren als Opfer im Wald zurück (25).
Oft bewacht eine Schlange als genius loci einen bestimmten Baum (26), so die Äpfel im Garten der Hesperiden, die Herakles raubt, nachdem er den genius loci getötet hat (27). Die Schlange, die den Baum bewachte, an dem das Goldene Vlies hing, wurde von Medea durch Drogen eingeschläfert (28).
Mit der Schlange, die so oft genius loci ist, hat Vij die enge Beziehung zur Erde gemeinsam:
In Naturreligionen sind Schlangen heilige Tiere der Mutter Erde, also chtonische Wesen. „Für die Griechen war die Schlange in erster Linie das Tier in der geheimnisvollen Erdentiefe. … Wohin kein Mensch dringt, in die Himmelshöhen der Götter, schwingt sich der Adler auf, und  in den Schlünden und Schlüften der Erde, wo die Unterirdischen hausen, verschwindet die Schlange. … In der Tiefe walten die Dämonen, die die Kräfte des Erdbodens ausüben, einerseits böse Gase, Nebel, Stürme, Vulkane, anderseits gute Gaben, wie Quellen, Heilkräuter, Fruchtbarkeit, Schätze, Träume usw.“ (29).
Als Tiere, die zur Erde gehören, gelten Schlangen, weil sie sich kriechend fortbewegen, wobei sie enger mit der Erde verbunden bleiben als die meisten anderen ungeflügelten Tiere, und weil man glaubte, sie wohnten bevorzugt in der Erde: in Schlüften, Höhlen. „Kind der Erde“ nennt Herodot die Schlange (30); die Erde Äthiopiens galt als Mutter besonders großer Schlangen (31); Plinius spricht von Schlangen, „quos terra nasci proditur“, übersetzt: „die, wie es heißt, von der Erde geboren werden“, oder „die, wie es heißt, aus der Erde wachsen“ (32); „erdentsprossenes Scheusal“ nennt Euripides die Pythonschlange, die genius loci in Delphi war (33). Auch Vij ist ein Kind der Erde, die ihn noch ganz bedeckt, weil sie ihn gerade erst geboren hat (34); seine Augenlider sind ihr noch verhaftet und die Fortbewegung zu Fuß, die Menschen und vierbeinige Tiere von den Schlangen unterscheidet, fällt ihm noch schwer, er geht unbeholfen, muss von den dämonischen Tieren geführt werden wie ein noch sehr kleines Kind, das laufen lernt – trotz dieser Kindlichkeit ist er furchteinflößend, so dass man ihn  - wie Euripides den Python – als „erdentsprossenes Ungeheuer“ bezeichnen kann.

Oft ist der genius loci ein Riese, der ein Stück Natur vor menschlichen Eindringlingen bewacht. Unser Beispiel ist der Riese Sinis, der auf dem Isthmus, der Korinthischen Landenge, lebt und Wanderer tötet, indem er zwei Fichtenwipfel zur Erde niederbeugt, sein Opfer an ihnen befestigt und die beiden Bäume wieder hochschnellen lässt, so dass der Wanderer zerrissen und seine Körperteile in die Natur  zerstreut werden (35). Theseus tötet ihn auf die gleiche Weise und macht so diese Gegend für Reisende sicherer. Sinis‘ Tochter Perigune versteckt sich vor Theseus zwischen Spargelkraut und anderem Gebüsch und bittet es „arglos und kindlich“, sie zu verbergen und zu retten – zu diesen Pflanzen, mit denen sie spricht und bei denen sie unterkriechen will, verhält sie sich wie zu ihresgleichen, sie sind  ihr mitfühlende Mitgeschöpfe, Geschwister, sie empfindet sich also als Teil der Natur, und da Sinis ihr Vater ist, also ihr Beschützer, personifiziert sie die Natur, in die der männliche Held Theseus besitzergreifend eindringt, Sinis aber war der genius loci, den Theseus tötet - wie Apoll die Pythonschlange - , und sich die Natur in Gestalt von Perigune aneignet:

Da aber Theseus sie hervorrief und ihr das heilige Versprechen gab, er werde wohl für sie sorgen und ihr nichts zuleide tun, kam sie hervor, verband sich mit Theseus und gebar den Melanippos, und später gab Theseus sie dem Deioneus … zum Weibe.                   (36)

In Plutarchs Wiedergabe ist der ursprünglich brutale Mythos von Perigunes Vergewaltigung und Versklavung durch Theseus geglättet und beschönigt, an zivilere Zeiten angepasst. Dass es sich aber um einen rohen männlichen Gewaltakt handelt, der sich gegen unberührte Natur richtete und zu Recht ein archaisches Schuldgefühl verursachte, geht daraus hervor, wie die Geschichte bei Plutarch fortgesetzt wird:

Von Melanippos, dem Sohne des Theseus, entstammte dann Ioxos, der gemeinsam mit Ornytos die Kolonie in Karien gründete. Daher wurde es bei den Nachkommen des Ioxos zum heiligen Brauch, Spargelkraut und ähnliches Gesträuch nicht zu verbrennen, sondern hochzuhalten und zu ehren.                                                                                   (36)

Der religiöse Brauch, „Spargelkraut und ähnliches Gesträuch“ mit Achtung zu behandeln, statt es zu zerstören, lässt sich als Beschwichtigung der von Theseus unterworfenen und geschändeten Natur deuten. Auch der Mythos, dass Theseus die Isthmischen Spiele, Wettkämpfe auf der Korinthischen Landenge, wo er Sinis tötete, gestiftet habe, um diesen Mord zu sühnen (37), verrät das archaische Schuldgefühl.
Theseus verkörpert den Typus des Wanderers oder Reisenden, des „Touristen“, der besitzergreifend und zerstörend in unberührte Natur eindringt; zu diesem Typus gehört auch Choma Brut, der mit seinen Gefährten vom Weg abkommt, in die Natur eindringt - einer von ihnen köpft mutwillig Disteln - und erst an die pannotschka-Artemis und zum Schluss an den genius loci Vij gerät. Der Sinis-Mythos ist ein Beispiel dafür, dass der genius loci oft – wahrscheinlich unter dem Einfluss des Ödipus-Komplexes – Züge einer strafenden Vaterfigur annimmt, die den männlichen Eindringling wegen seines Übergriffs auf die Mutter Natur tötet – das gilt auch für Vij, den Freudianer als rächenden Vater deuten.  Der Kampf zwischen Sinis und den „Touristen“ symbolisierte den Machtkampf zwischen der Natur und dem Menschen, der schließlich in der Gestalt des Kulturheros Theseus siegt und sich die Natur unterwirft (wodurch er sich schwere Schuldgefühle einhandelt, die er durch religiöse Riten wie zum Beispiel Opfer beschwichtigen muss). Das gilt auch für den Kampf zwischen Choma Brut und der pannotschka. Der Ritt, bei dem zuerst die zur Hexe dämonisierte Naturgöttin obenauf ist, bis der Jüngling den Spieß umdreht, steht nicht nur für einen Sexualakt zwischen einem Mann und einer Frau, sondern auch für den Kampf zwischen dem Menschen und der Natur, die schließlich besiegt wird. Perigune, Verkörperung der als weiblich empfundenen Natur, braucht zu ihrem Schutz den genius loci Sinis. Artemis, eine Naturgöttin aus älteren Zeiten, als der Mensch der Natur noch wenig überlegen war, braucht solch einen männlichen Beschützer nicht, da sie selber wehrhaft ist, denn sie führt Pfeil und Bogen, ein männliches Attribut, mit sich, und bringt damit regelmäßig ihren Tieren – und auch Menschen -  den Tod, der zum Kreislauf des Werdens und Vergehens in der Natur gehört. Solch ein Attribut männlicher Wehrhaftigkeit hat auch die pannotschka. Es sind die Wimpern, die Choma Brut an Pfeile erinnern:

Vor ihm lag ein wunderbar schönes Mädchen , mit einem herrlichen, zerzausten Zopf, und  Wimpern, die so lang waren wie Pfeile.                                         (Übersetzung von mir, G.H.W.)

… lange Wimpern senkten sich wie eine Schar spitzer Pfeile auf die vom Feuer geheimer Wünsche geröteten Wangen ...                         (S. 518)

Hier kommen wir zur symbolischen Bedeutung der Augen, denn die Wimpern gehören zu den Lidern und die Lider sind Bestandteil der Augen (wie Fensterläden Bestandteil der Fenster sind). Trotz ihrer wehrhaft-männlichen Wimpern ist die pannotschka ihrer Sehkraft beraubt, so dass sie ihren Widersacher Choma Brut nicht sehen und nicht angreifen kann, sondern einen männlichen Dämon zu Hilfe rufen muss, der sehen kann, den Vij. Die Sehkraft ist hier eine Waffe, und Choma Brut hat die pannotschka, als er sie besiegte, offenbar entwaffnet, in der Symbolsprache der Freudschen Psychoanalyse: er hat sie kastriert, das heißt, wieder zur Frau gemacht, nachdem sie sich in die Rolle des Mannes aufgeschwungen hatte. Wir folgen hier – zunächst - Freud, der den Verlust der Sehkraft als Entmannung deutet und als Beispiel unter anderem die Ödipus-Sage anführt: Als Ödipus erfährt, dass er seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet hat, blendet er sich selbst, was Freud als Ersatz für die auf Inzest stehende Strafe der Kastration sieht (38).  Der vom Menschen besiegten, entwaffneten, kastrierten Natur, verkörpert durch die pannotschka, kommt Vij zu Hilfe, der sehen kann und den Menschen besiegen hilft. Hier kommt eine weitere symbolische Bedeutung der Sehkraft ins Spiel. Die Sehkraft symbolisiert das Bewusstsein beziehungsweise den Verstand, durch dessen Erlangung sich der Mensch von den Tieren und der übrigen Natur unterscheidet, sich über sie erhebt, weil er nicht mehr „blind“ seinen Instinkten folgen muss (39), sich aber auch der Natur entfremdet und sich aus dem Paradies des Naturzustands vertrieben fühlt. Als in Schuld verstrickender Akt der Bewusstwerdung  - mit anschließender Vertreibung aus dem Paradies - lässt sich die biblische Erzählung vom Sündenfall deuten. Für die Erlangung des Bewusstseins steht in der Genesis das Sich-Öffnen der Augen:

An dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.

Auch Vijs Augen öffnen sich, genauer: Sie werden von den Tieren aufgetan, weil sie sich aus eigener Kraft nicht öffnen, denn seine Lider reichen auf den Boden hinab,  haben sich also von Mutter Erde noch nicht gelöst. Offenbar ist Vij zwar ein männliches Geschöpf, aber eines, das mit seiner Mutter, der Erde, die es gerade ausgebrütet hat, so eng verbunden bleibt, dass er sich nicht über seine Mutter, die Natur, erheben wird, wie das der Mensch, verkörpert durch Choma Brut, getan hat. Vij ist eine Waffe, die Mutter Natur jederzeit von neuem ausbrüten kann; Vij gleicht einem der todbringenden Pfeile der Artemis, mit denen sie sich wehren kann, mit Pfeilen werden deshalb die Wimpern der pannocka-Artemis verglichen. In der Sprache der Ukraine, in der die Erzählung spielt, heißt Wimper vija, und Vij ist dazu die männliche Form - die vom Menschen besiegte, entwaffnete – a la Freud ausgedrückt: kastrierte - Mutter Natur hat sich wieder eine Waffe ausgebrütet, mit der sie den Eindringling töten kann (40), sie hat sich aus eigener Kraft regeneriert.
Doch nicht nur, weil Vij dazukommt, wird Choma Brut besiegt, sondern auch aus eigener Schuld. Denn er liefert sich aus, weil er Vij anblickt, obwohl eine innere Stimme ihn davor warnt. Vij gleicht der Medusa, einer Naturgöttin der griechischen Mythologie. Wer ihr ins Gesicht blickt, ist verloren, erstarrt zu Stein. Doch was hat den „Philosophen“ dazu getrieben, sich über die Warnung seiner inneren Stimme hinwegzusetzen? Neugier? Wohl auch. Aber mehr noch Sehnsucht. Uneingestandene Sehnsucht, die aus seinem Unterbewusstsein heraus wirkt, erotisches Verlangen nach der femme fatale, das bereits in seinem Blick glühte, als er die aufgebahrte pannotschka-Artemis zum ersten Mal betrachtete:

… lange Wimpern senkten sich wie eine Schar spitzer Pfeile auf die vom Feuer geheimer Wünsche glühenden Wangen ...                           (S. 518)

Es sind Choma Bruts geheime, das heißt verdrängte erotische Wünsche, die er auf die pannotscha projiziert. Beim Betrachten der schönen Toten regt sich unterdrücktes, ins Unterbewusstsein verbanntes erotisches Verlangen und will sich befreien:

Er spürte, wie sich in seiner Seele ein Wehklagen erhob, als ob im Wirbel eines ausgelassenen Festes und einer sich im Tanze drehenden Menge irgendjemand plötzlich ein Lied über das unterdrückte Volk angestimmt hätte.       (Übersetzung von mir, G.H.W.)

Eros und Thanatos gehören zusammen. Denn Sterben bedeutet Entsühnung und Erlösung durch Rückkehr in den Schoß der Erde, in die Mutter Natur. Für diese besonders in der Dichtung der Romantik häufige Todessehnsucht kann man seit Freud auch den Begriff Todestrieb verwenden. Etwas in Choma Brut, sein Todestrieb, will, dass sich die von ihm, dem Menschen, entwaffnete Mutter Natur, verkörpert durch die pannocka-Artemis, regeneriert, damit sie ihn besiegen und wieder in sich aufnehmen, mit ihren wilden Tieren verschlingen kann. Denn in die Mutter zurückkehren, um die Urschuld der Bewusstwerdung und Entfremdung von der Natur abzubüßen und die  Ureinheit wiederzuerlangen, ist seine verdrängte Sehnsucht, die ihn aus dem Unterbewusstsein heraus antreibt, trotz allem den Vij, den todbringenden Pfeil der pannotschka-Artemis, anzusehen, um von ihm dahingerafft zu werden – so blickt der Mensch der mit Schlangen bewehrten Medusa ins Gesicht, um zu sterben, um als Stein wieder Teil der großen Mutter zu sein.
Dieser Todestrieb wirkte schon einmal aus Choma Bruts Unterbewusstsein heraus, als die Gelegenheit zur Flucht günstig war, aber von ihm nicht ergriffen wurde, weil er zu betrunken war und sich wie gelähmt fühlte:

Übrigens wäre ihm die Flucht kaum gelungen, denn als der Philosoph sich vom Tisch zu erheben suchte, fühlte er, dass seine Beine wie aus Holz waren, und er glaubte, im Zimmer so viele Türen zu erblicken, dass er kaum die rechte gefunden hätte.       (510f.)

Der trinkfeste Bursche ist unfähig, den rettenden Ausgang ins Auge zu fassen und fühlt sich wie festgewurzelt – in dieser Unfähigkeit zur Flucht, die aus seinem Inneren kommt, äußert sich sein Todestrieb, der ihn zurück an den Ort seines Verbrechens führt. Nicht (nur) der Alkohol, sondern (auch) seine geheime Sehnsucht nach Rückkehr zur Muttergöttin, nach Rückkehr in sie, hat ihn eingelullt, in diese verhängnisvolle lähmende Lethargie versetzt. Ähnliches geschieht auch in Bram Stokers Roman Dracula mit dem Vampirjäger Van Helsing, diesem Repräsentanten der von Selbstkontrolle, Verstandeskraft und Naturbeherrschung geprägten Männerwelt des Viktorianischen England, als er sich anschickt, drei verführerisch schöne Vampirfrauen in ihren Särgen zu töten:

Es war ohne Zweifel ein Zauber, dass ich durch die Gegenwart einer dieser Frauen in Erregung geriet, die in ihrem vom Alter zerfressenen und dicht mit jahrhundertealtem Staub bedeckten Sarge schlief, obgleich der grässliche Geruch auch hier herrschte wie in den Schlupfwinkeln des Grafen. Ja, ich war erregt – ich, Van Helsing, mit allen meinen Vorsätzen und all dem grimmen Hass; es erfüllte mich ein Verlangen, das meine Kräfte zu lähmen und auf meiner Seele zu lasten schien. Vielleicht war es das natürliche Schlafbedürfnis, vielleicht auch die seltsam drückende Luft, was mich überwältigte. Jedenfalls verfiel ich in Schlaf, in einen Schlaf mit offenen Augen, wie einer, der sich einem süßen Zauber hingibt.      (41)

Was Van Helsing als Zauber, der von den Vampirfrauen ausgeht, empfindet, ist in Wirklichkeit seine eigene verdrängte Sehnsucht, die er auf diese femmes fatales projiziert (42). Und diese Sehnsucht wird bei Choma Brut und Van Helsing bereits durch das Anblicken der Vampirfrau gefährlich aktiviert:

Da raffte ich mich auf, um mein furchtbares Werk zu vollenden. Ich fand, als ich die Sargdeckel abhob, eine andere der Schwestern, die zweite Dunkelhaarige. Ich wagte es nicht sie anzusehen, wie ihre Schwester, damit ich nicht wieder diesem bestrickenden Zauber verfiele.               (43)

Gogol’s Vij mit Stokers Klassiker der Vampirliteratur zu vergleichen ist angemessen, weil auch die pannotschka Vampirzüge trägt: Dass sie Dorfbewohnern eimerweise Blut aussaugt, haben wir erwähnt. Aber auch ohne dieses Vampirmotiv wäre unser Vergleich richtig, denn pannotscha-Artemis verkörpert Mutter Natur, die sich ihre Menschenkinder wieder einverleibt, zum Beispiel, indem sie sie durch ihre Wölfe, bzw. Hunde fressen lässt. Einverleibt werden die Menschen auch von den Vampiren, denn in dem Blut, das sie trinken, ist das Leben: „Anima enim omnis carnis in sanguine est“ (44) - die Vampire, besonders die weiblichen, sind chtonische (45) Wesen und mit vorchristlichen Muttergöttinnen wie Artemis verwandt (46).

                                                                                               

1) Er ist Internatszögling an einer geistlichen Lehranstalt in Kiew, der „bursa“, und bereits in eine der höheren Klassen, deren Schüler „Philosophen“ heißen, vorgerückt, weshalb er auch „Philosoph“ genannt und als „Herr Philosoph“ angeredet wird.

2) Pannotschka ist die Zärtlichkeitsform zu panna „Fräulein, Tochter eines adeligen Gutsherrn“.

3) F.C.Driessen: Gogol as a Short-Story Writer. A Study of his Technique of Composition. 1965, S. 164

4) Hugh McLean: Gogol’s Retreat from Love: Toward an Interpretation of Mirgord, in: American Contributions to the Fourth International Congress of Slavistists. Moscow, September 1958, S. 235

5) Ivan D. Ermakov: Ocerki po analizu tvorcestva N.B.Gogolja (Organicnost’ proizvedenij Gogolja) 1923, S. 27

6) Driessen, a.a.O., S. 164f.

7) Ovid: Metamorphosen III, 138ff.  - Übersetzung: Michael von Albrecht

8) „Dea silvarum / Göttin der Wälder“ heißt sie bei Ovid, Metamorphosen III,163; „potnia theron / Herrin der wilden Tiere“ in der Ilias XXI,470

9) Wir zitieren meistens aus der Übersetzung von Lolly König in: Gogols sämtliche Werke in fünf Bänden. Herausgegeben von Otto Buek. Erster Band. Auf diese Übersetzung beziehen sich die Seitenangaben.

10) Sophokles: Elektra 563ff.; Hyginus: Fabulae 98; Bibliothek des Apollodor: Epitome III,22

11) Pausanias: Beschreibung Griechenlands III, 16,9 – Übersetzung: Ernst Ziegler

12) Euripides: Iphigenie im Taurerlande 1458ff.

13) Der Kleine Pauly, Artikel Artemis, Spalte 622 - Mήτηρ bedeutet "Mutter", Kουροτρόφος "Kinder nährend, Kinder aufziehend"

14) Zu Christus als Menschenopfer ausführlicher hier und bei Wolfgang Speyer: Töten als Ritus des Lebens. Zum Sinn des Opfers, in: Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. Kleine Schriften II, S. 46ff.

15) Matthäus 27,29; Markus 15,17; Johannes 19,2

16) Matthäus 27,54; Markus 15,39; Lukas 23,47

17) Übersetzung von mir, G.H.W., weil Lolly König die “verbotene Frucht” durch „verbotenes Gericht“ wiedergibt. Interessant ist die Übersetzung von Johannes von Guenther (Aufbau Verlag Berlin 1952), der Gogol’s Anspielung auf die verbotene Frucht des Alten Testaments offenbar verstanden hat und als Ironie auffasst (aber leider weglässt, dass die Würste aus Schweinefleisch sind):
„Der Jude schleppte eine Ladung Bratwürste herbei … und legte sie mit abgewandtem Kopfe auf den Tisch – er wollte diese ihm vom Talmud streng verbotenen Paradiesesfrüchte nicht einmal mit den Augen streifen.“

18) Vgl. Simon Karlinsky: The Sexual Labyrinth of Nikolai Gogol, S. 89

18a) Wolfgang Speyer erinnert in seiner fundierten Arbeit Töten als Ritus des Lebens. Zum Sinn des Opfers (S. 32) daran, dass Mutter Natur nicht nur gebärt und nährt, sondern auch tötet und verschlingt, und zitiert dazu aus Goethes Werther (1. Buch: Am 18. August):
"Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabs. Kannst du sagen: Das ist. Da alles vorübergeht? ... Ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer."

19) Vgl. Wolfgang Speyer: Töten als Ritus des Lebens. Zum Sinn des Opfers, in: Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. Kleine Schriften II, S. 39ff.:
„Der Gewissenskonflikt wurde ferner dadurch verschärft, dass die frühen Ackerbauern die unbelebte und belebte Natur zunächst nicht anders als die Jäger und Sammler als Offenbarung der heiligen Macht und nunmehr der in den verschiedenen Bereichen der Natur waltenden Gottheiten erlebten. Jede Rodung, jedes Ackern, jeder Halmschnitt musste ihnen deshalb zugleich auch als Angriff auf die alles bestimmenden göttlichen Mächte erscheinen. Als Reaktion fürchteten sie so den Zorn oder den Fluchaspekt der Götter dieser Bereiche, von denen  ihr Leben und ihr Wohlergehen abhingen.

20) Ovid: Fasti, II,519f. – Übersetzung: Wolfgang Gerlach / Niklas Holzberg

21) Diodor I,14

21a) Ovid: Fasti I,349ff. – Übersetzung (von mir, G.H.W., leicht abgewandelt): Niklas Holzberg; vgl. auch Hyginus: Fabulae 277, Aelianus: Tiergeschichten X,16, Ovid: Metamorphosen XV, 111-113

21b) Doch nicht nur das Schwein wird bestraft, sondern auch der Bauer, der es opfert, da er auf ein Stück seines Reichtums an Vieh verzichtet. Vorchristliche Bauern  empfanden Schuld, wenn sie mit dem Pflug die Erde verletzten, sie aufrissen (Vgl. z.B. Ovid: Metamorphosen I,101f.) – die Schweine, mit deren Blut Demeter entschädigt wird, lassen sich auch als Ersatz für ursprüngliche Menschenopfer deuten, denn der wahre Übeltäter, der die Erde mit dem Pflug verletzt, intensiv ausbeutet und durch intensive Viehhaltung in die Natur eingreift, ist der Mensch.

22) Übersetzung: J. von Guenter, a.a.O., S. 234f.

23) William Smith: Religion of the Semites, S. 133

24) Aelianus: Tiergeschichten 10, 48

25) Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Artikel Schlange, Spalte 1140

26) Zur Baumschlange als genius loci ausführlich Carl Boetticher: Der Baumkultus der Hellenen. 1856,  Kapitel XIV.: Schlangen als Hüter des heiligen Baumes

27) Bibliothek des Apollodor 2, 113 und 121

28) Bibliothek des Apollodor 1, 131

29) Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (Pauly-Wissowa), Artikel Schlange, Spalte 509 (enthalten ist ein Zitat von O. Crusius)

30) Herodot: Historien I, 78

31) Aelianus: Tiergeschichten II, 21

32) Plinius: Naturgeschichte VIII, 84

33) Euripides: Iphigenie im Taurerlande 1248; Übersetzung: Ernst Buschor. Wörtlich übersetzt: „Scheusal der Erde“; da der Genitiv im Altgriechischen auch die Abstammung bezeichnen kann, ist Ernst Buschors freiere Übersetzung richtig.

34) Auch F.C. Driessen (Gogol as a Short-Story Writer, S. 164f.) ist der Meinung, dass Vij gerade aus der Erde gekommen ist, weil er noch ganz mit ihr bedeckt ist. Da er jedoch im Gegensatz zu uns den Vij nicht mythologisch-archetypisch, sondern nach Freud und aus der Biographie des Autors deutet, sieht er in ihm Gogols verstorbenen Vater, der aus seinem Grab kommt, um den inzestuösen Sohn zu bestrafen:
„There is a man who is covered with earth – let us assume that he comes out of the grave. He cannot see, his eyelids hang down to the ground – I think because he has died so long ago. When he sees, recognizes and is recognized, he kills. Vij with his iron face is the image of an inexorable father who comes to avenge his son’s incest.”

35) Plutarch: Theseus  8; Ovid: Metamorphosen VII, 440ff.

36) Plutarch: Theseus 8 – Übersetzung: Konrat Ziegler

37) Plutarch: Theseus 25

38) Sigmund Freud: Das Unheimliche, in: GW XII, 243ff.

39) Auch Wilhelm Busch vergleicht das Bewusstsein mit einem Werkzeug, mit dem der Mensch besser sehen und so die Natur besser beherrschen und ausbeuten kann, wobei die Unbewusstheit der Tiere mit der Nacht, d.h. mit Nicht-Sehen, mit Blindheit gleichgesetzt wird:

Wie dunkel ist der Lebenspfad,
Den wir zu wandeln pflegen.
Wie gut ist da ein Apparat
zum Denken und Erwägen.

Der Menschenkopf ist voller List
Und voll der schönsten Kniffe;
Er weiß, wo was zu kriegen ist,
Und lehrt die rechten Griffe.

Und weil er sich so nützlich macht,
Behält ihn jeder gerne.
Wer stehlen will und zwar bei Nacht,
Braucht eine Diebslaterne.

40) Die Natur hat sich einen Sohn als Waffe geboren – vgl. C.G.Jung: Symbole der Wandlung, GW 5, § 439:
„Der Pfeil hat männliche Bedeutung. Auf dieser Bedeutung beruht die orientalische Sitte, tapfere Söhne als Pfeile und Wurfspieße der Eltern zu bezeichnen. ‚Scharfe Pfeile machen‘ ist eine arabische Redensart für ‚tapfere Söhne zeugen‘. Um die Geburt eines Sohnes anzuzeigen, hängte der Chinese Pfeil und Bogen vors Haus. Daher erklärt sich auch die Psalm-Stelle (127,4): ‚Wie Pfeile in der Hand des Helden, so sind Söhne der Jugendkraft.‘“

41) 27. Kapitel - Dr. Van Helsings Memorandum – Übersetzung: Heinz Widtmann

42) Schlaf, Bewusstlosigkeit oder lethargische Zustände gehören in Dracula mit Vampirfrauen motivisch zusammen. So fällt Jonathan Harker im 3. Kapitel in einen lähmenden Schlaf, der ihn wehrlos den Vampirfrauen ausliefert. Auch in Sacher-Masochs Vampirgeschichte Die Toten sind unersättlich weckt die Vampirfrau in ihrem männlichen Opfer regressive Schläfrigkeit, die in Bewusstlosigkeit übergeht:

„Ich schenkte einen derselben voll mit glutrotem Burgunderwein und reichte ihn ihr. Sie setzte ihn an und schlürfte das Blut der Reben ebenso gierig wie meine Küsse, und als ich das Glas auf ihren Wink zurückgestellt hatte, legte sie den Arm um meinen Nacken und saugte sich fest an meinen Lippen. Eine wundersame Mattigkeit kam über mich, sie schien mir Atem, Leben und Seele zu nehmen, ich meinte zu sterben, der Gedanke, in den blutgierigen Händen eines weiblichen Vampirs zu sein, flog wie ein Schatten über mich, aber es war zu spät, ich hatte mich in ihren Locken verwickelt, meine Hände wühlten in ihrem dämonischen Haare, und ich verlor das Bewusstsein.“

43) 27. Kapitel - Dr. Van Helsings Memorandum – Übersetzung: Heinz Widtmann

44) 3. Mose 17,14: „Denn das Leben allen Fleisches ist im Blut“ – anima, das hier mit „Leben“ wiedergegeben wird, kann auch mit „Seele“ oder „Lebenshauch, Odem“ übersetzt werden; was anima hat, ist ein animal, ein „Lebewesen“.

45) Chtonisch leitet sich von griechisch chton „Erde“ ab und bezeichnet Götter oder Dämonen, die zu Mutter Erde/Mutter Natur gehören; in Stokers Dracula ist der Vampir an das Erdreich gebunden, das er in Kisten nach England mitnimmt. Das Schiff, das ihn und seine Heimaterde befördert, heißt „Demeter“, trägt also den Namen einer vorchristlichen Naturgöttin, die – wie wir gezeigt haben – dem Menschen wegen der Ausbeutung der Mutter Erde zürnt und durch Opfer beschwichtigt werden will.

46) In Sacher-Masochs Vampirgeschichte spielt ein Gemälde im Vampirschloss auf Aktaions Schicksal an, der durch einen Zauber der Artemis – die bei den Römern Diana heißt -  von seinen Hunden zerrissen wurde:

„Das lebensgroße Porträt … hängt in einem düstern getäfelten Zimmer des Schlosses, dessen Decke ein großes Gemälde, >Diana im Bade, den sie überraschenden Aktäon in einen Hirsch verwandelnd<, darstellt.“

Das Gemälde spiegelt die erotisch gefärbte regressive Sehnsucht des Helden, durch Zerrissenwerden oder Eingesaugtwerden in den Schoß der Mutter, in den Zustand vor der Geburt zurückzukehren – für diese Sehnsucht passt der von Freud populär gemachte Begriff „Todestrieb“.

   
 
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