SÖHNE UND TÖCHTER DES SONNENGOTTS IN JOHN WYNDHAM KUCKUCKSKINDERN
In John Wyndhams Roman Midwich
Cuckoos, der 1957 erschien und 1960 als Village
of the Damned verfilmt wurde, werden in dem fiktiven englischen Dorf
Midwich alle Menschen und Tiere in einem Kreis von zwei Meilen Durchmesser für
einen Tag bewusstlos und alle Frauen in gebärfähigem Alter schwanger, was ein
UFO bewirkt hat, das in Midwich gelandet und vor dem Ende der allgemeinen
Bewusstlosigkeit wieder weggeflogen ist. Wie sah das UFO genau aus? Was hatte
es für eine Besatzung? Hatte es einen oder mehrere Insassen? Wie wurden
Menschen und Tiere in Schlaf versetzt? Wie wurden die Frauen geschwängert?
Durch Insemination? Durch geheimnisvolle Strahlen? Das alles erfährt der Leser
nicht, so dass er sich in seiner Fantasie alles Mögliche ausmalen kann. Einige
Rückschlüsse auf den oder die mysteriösen außerirdischen Besucher sind aber
durch die Kinder möglich, die in Midwich als Folge dieses Ereignisses geboren
werden, da sie Eigenschaften ihres Erzeugers geerbt haben.
Übermenschlich sind zum Beispiel ihre Lernfähigkeit und ihr Vermögen, Tieren oder Menschen durch
Telepathie ihren Willen aufzuzwingen, die sich nur durch ihre außerirdische
Abkunft erklären lassen. Und ihre Augen und andere, weniger markante Merkmale.
Zugleich sind sie Menschenkinder, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch:
Ihr kindlich-spontanes Verhalten und ihre Vorliebe zu Pfefferminzbonbons lassen
sie menschlicher und weniger dämonisch erscheinen:
Before I could open the car door to get out, the front
door of the house was pulled violently back, and a dozen or more of the
Children ran excitedly down the steps with a scattered chorus of 'Hullo, Mr
Zellaby.' They had the rear doors open in a moment, and two of the boys began
to hand things out for the others to carry. Two girls dashed back up the steps
with the microphone, and the roller screen, another pounced with a cry of
triumph on the jar of bullseyes, and hurried after them.
…
There was nothing odd or mysterious about the Children now unless it was the
suggestion of musical-comedy chorus work given by their similarity.
Sie haben also sowohl menschliche als auch übermenschliche
Eigenschaften, was ja auch ihrer Abkunft entspricht: Ihre Mütter sind Menschen,
ihr Vater (oder ihre Väter) ein den Menschen überlegenes Wesen. Dadurch stehen
sie in der Tradition antiker Sagengestalten wie Herkules, Äskulap, Aeneas oder
Romulus und Remus, die man Heroen nennt oder auch Halbgötter, da oft ein
Elternteil ein Mensch und das andere Elternteil, meistens der Vater, eine
Gottheit ist. So ist Herkules‘ Vater der oberste Gott Zeus, seine Mutter
Alkmene, Gattin des Amphitryon. Äskulaps Vater ist Apoll, seine Mutter die Königstochter
Koronis. Aeneas‘ Vater ist der trojanische Fürst Anchises, seine Mutter die
Liebesgöttin Aphrodite. Vater von Remulus und Remus ist der Kriegsgott Mars,
ihre Mutter die Priesterin Rhea Silvia. Solche Halbgötter werden zu Wohltätern
wie Herkules, der die Menschheit von Ungeheuern befreit, oder Äskulap, der als
Heilgott Kranke gesund macht, zu Führern wie Aeneas, der Trojaner, die den
Untergang ihrer Stadt überlebt haben, zu einer neuen Existenz in ein gelobtes
Land, Italien, führt, oder zu Gründern wie Romulus und Remus, die Rom gründen.
In die Reihe dieser Halbgötter oder Heroen gehört – aus der Sicht der
vergleichenden Religionswissenschaft – auch Jesus, denn seine Mutter Maria ist
ein Mensch, sein Vater (ein) Gott. Auch er ist Höherem bestimmt, zum Messias.
Seine übermenschliche Potenz offenbart er wie auch der Nachwuchs des Aliens in
Midwich schon als Kind, wodurch er nicht nur die Bewunderung der Mitbewohner in
seinem Dorf erregt, sondern ihnen auch unheimlich, ja verhasst wird – davon
berichtet das apokryphe Kindheitsevangelium nach Thomas.
Besonders in folgenden Episoden erinnert das göttliche Kind an seine Nachfolger
in Midwich:
Jesus tötet einen Mitmenschen, von dem er sich angegriffen fühlt (Kapitel 4),
was auch die goldäugigen Kinder mit Jim Pawle machen, der mit seinem Auto eines
von ihnen versehentlich angefahren hat:
Jesus ging
wieder einmal durch das Dorf, als ein Junge angelaufen kam und ihn anrempelte. Er
wurde wütend und sagte: „Du sollst deinen Weg nicht weiter gehen!“ Sogleich
fiel der Junge um und war tot. (1)
Auch Angehörige des Toten fallen dem Knaben zum Opfer, als
sie gegen ihn vorgehen. Im Kindheitsevangelium
schlägt das Jesuskind die Eltern des Mordopfers mit Blindheit, weil sie sich
bei seinem Vater Joseph beschweren, in den Kuckuckskindern
trifft es David, den Bruder von Jim. Ihn zwingen die Kinder zum Selbstmord, als
er zur Vergeltung eines von ihnen erschießen will (Kapitel 4-5):
Und die
Eltern des toten Jungen liefen zu Joseph. Sie machten ihm Vorwürfe und sagten:
„Du kannst mit so einem Kind nicht bei uns im Dorf wohnen. Bring ihm doch
lieber bei, zu segnen, anstatt zu verfluchen. Denn er bringt unsere Kinder um!“
Da rief Joseph seinen Sohn zu sich, nahm ihn sich vor und maßregelte ihn:
„Warum tust du so etwas? Die Leute müssen leiden und dann verabscheuen und
verfolgen sie uns.“ Jesus sagte zu ihm: „Ich weiß, dass dies nicht deine Worte
sind. Dennoch sage ich lieber nichts, weil du es bist. Diese Menschen aber
sollen ihrer Strafe nicht entgehen!“ Er hatte es kaum gesagt, da erblindeten
die Leute, die ihn beschuldigt hatten. Und alle, die es sahen, bekamen große
Furcht.
Als der Lehrer Zachäus dem Jesuskind Unterricht erteilen
will, macht es ihm mit seiner übermenschlichen Intelligenz Angst, so dass er es
loswerden will, was auch für Zellaby, einen gebildeten Einwohner von Midwich,
gilt, der die goldäugigen Kinder unterrichtet und es alsbald für notwendig
hält, sie zu beseitigen (Kapitel 7):
Als der
Lehrer diese komplizierte und ausgeklügelte Erläuterung des ersten Buchstabens
aus dem Mund des Jungen hörte, wurde er in Anbetracht seiner gelehrten
Beweisführung verlegen und sagte zu den anderen Zuhörern: „Ach, ich
Unglücksvogel, jetzt bin ich aber in die Enge gedrängt. Da habe ich etwas
angerichtet, als ich dieses Kind unterweisen wollte. Nimm ihn bitte wieder mit
nach Hause, Joseph. Ich ertrage seinen strengen Blick nicht, auch nicht seine
gefühllose Art zu reden. Dieser Junge ist nicht von dieser Welt. Er kann auch
Feuer bezwingen.
Einen Erwachsenen, der ihn ohrfeigt, lässt er in Kapitel 14
ohnmächtig werden, was an das Schicksal des für Midwich zuständigen
Polizeipräsidenten erinnert, der einen der goldäugigen Jungen verhört und dabei
beschimpft und bedroht, um ihn einzuschüchtern. Das Kind versetzt ihn in einen
Krampfanfall, wodurch er die Respektsperson zur Schnecke macht. Durch solche
Maßnahmen erregen die göttlichen Kinder den Zorn ihrer irdischen Mitmenschen,
wodurch sie in Gefahr geraten, gelyncht zu werden, was auch für das Jesuskind
gilt:
Joseph sah,
dass Jesus älter, reifer und
vernünftiger wurde und so beschloss er noch einmal, dass er das Schreiben
lernen sollte. Er ging mit ihm zu einem anderen Lehrer. Dieser sagte zu Joseph:
„Ich will ihm erst Griechisch, dann Hebräisch beibringen.“ Der Lehrer hatte von
den Kenntnissen des Knaben gehört und fürchtete sich vor ihm. Dennoch schrieb
er ihm das Alphabet auf und las es ihm eine Weile immer wieder vor, doch Jesus
schwieg. Später sagte Jesus: „Wenn du wirklich Lehrer bist und die Buchstaben
genau kennst, dann erkläre mir etwas über die Bedeutung des Alpha. Danach
erkläre ich dir dann das Beta.“ Der Lehrer war verletzt und gab Jesus eine
Ohrfeige. Da das dem Jungen wehtat, verfluchte er den Lehrer. Der wurde sofort
ohnmächtig und fiel auf sein Gesicht. Und Jesus ging wieder nach Hause zu
Joseph. Der aber war traurig. Damit die Leute Jesus nicht töteten, ordnete
Joseph an, dass seine Mutter ihn nicht mehr vor die Tür lassen sollte.
Dafür, dass die Kinder von Midwich moderne Jesuskinder sind,
künftige Messiasse, spricht auch anderes. Ein Messias, von dem die Menschen
lernen und sich leiten lassen, der also eine geistige und oft auch eine
politische Autorität ist, trifft nicht bei allen auf Begeisterung. Viele sehen
in ihm einen Konkurrenten, der ihre Macht bedroht, und wollen ihn beseitigen.
So im Neuen Testament Herodes, den
die Römer als Staathalter in Galiläa eingesetzt haben. Er organisierte deshalb
eine Mordaktion, die alle neugeborenen Knaben in Bethlehem traf, den
sogenannten Kindermord des Herodes, der im englischen Sprachraum Massacre of the Innocents heißt. So
wird auch im Roman eine Maßnahme bezeichnet, die man in Erwägung zieht, um die
überirdischen Kinder zu beseitigen: Man will Midwich bombardieren. Weil dabei
aber auch harmlose Engländer getötet würden, wird dieser Plan als „massacre of
innocents“ verworfen – es ist eine biblical allusion, die das den Kindern zugedachte
Schicksal vorhersagt und als Wiederholung der herodianischen Mordaktion deutet:
Die göttlichen Kinder, die schon die aufgebrachten Dorfbewohner lynchen
wollten, werden am Schluss des Romans in die Luft gesprengt.
Darauf, dass die Kinder von Midwich moderne Jesuskinder sind, weist auch der
Begriff „parthenogenesis“, also „Jungfernzeugung, Jungfrauengeburt“ hin, der im
Roman in einem Gespräch zweier gebildeter Bewohner von Midwich, die sich die
Natur dieser wunderbaren Zeugung zu erklären versuchen, auftaucht.
Parthenogenese lässt natürlich an die biblische Maria denken, die Mutter des
Gottessohnes wurde, aber Jungfrau blieb.
Sind die Kinder von Midwich also moderne Jesuskinder, muss
ihr Erzeuger der Gott der Christen sein. Religionsgeschichtlich betrachtet ist
der christliche Vatergott der Nachfolger antiker männlicher Himmelsgötter wie
Zeus oder Jupiter, die den unteren Gottheiten der Erde, die weiblich-mütterlich
sind, gegenüberstehen. Ihr Herrscher ist bei den Griechen der Himmelsgott Zeus.
Sie nennen ihn Megas Aither
„Mächtiges Luftreich“ (2). Zum
Luftreich gehören die oberhalb der Erde herrschenden Elementargewalten Sonne,
ihr Licht und ihre Wärme, Wind und Regen, die gerne zum Sturm anwachsen, und
natürlich Gewitter mit Donner und Blitz, als männliche Numina verehrte und
gefürchtete Naturpotenzen, die auf die Mutter Erde einwirken und sie
befruchten.
In vielen Religionen ist die Sonne der oberste Gott, der mit seinem Licht und
seiner Wärme neues Leben auf der Erde zeugt. Auch Zeus war, bevor er
Menschengestalt annahm, auf seiner ursprünglichen barbarisch-naturreligiösen
Stufe die Sonne und Bringer der Tageshelle, woran noch die etymologische
Verwandtschaft seines Namens (Zeus < *Djeus) mit lateinisch dies
"Tag" erinnert (3). In dieser Eigenschaft war er gemeinsamer Gott der
Indogermanen. Bei den Römern hieß er Juppiter. Der römische Gelehrte Macrobius
überliefert in seinen Saturnalia (1,15):
Da wir
nämlich Iupiter als Urheber des Lichtes auffassen, weshalb ihn auch die Salier
in ihren Liedern als Lucetius (Lichtbringer) besingen und die Creter ihn
"Gott des Tages" (Dia ten hemeran) nennen, bezeichnen ihn auch die
Römer als Diespiter, nämlich als Vater des Tages (4)
Wer die Sonne anbetet, verehrt
"in der Sonnenkraft die große Zeugungskraft der Natur" (5) - so
Sitting Bull, ein naturfrommer Häuptling der Sioux:
Seht,
Freunde, der Frühling ist da. Die Erde hat sich freudig von der Sonne umarmen
lassen, und bald werden wir die Kinder ihrer Liebe sehen. Jeder Same ist
erwacht, jedes Tier lebt. Dieser göttlichen Kraft verdanken auch wir unser
Dasein. Darum gestehen wir unseren Mitgeschöpfen, Menschen und Tieren, das
gleiche Recht wie uns selbst zu, dieses weite Land zu bewohnen.
Eine
Religion, in der die Natur verehrt wird wie durch Sitting Bull, nennt man
Naturreligion. Sie war die Religion ursprünglicher, von der Zivilisation noch
unverdorbener Menschen, die wir heute Naturmenschen nennen: Indianer und
Schwarzafrikaner vor der Ankunft der weißen Kolonisatoren, oder unsere
Vorfahren, die Germanen mit ihrem Baumkult, den das Christentum, das die
zivilisierten Römer brachten, bekämpfte und überwand, aber nicht ganz: Im
Naturschutz der GRÜNEN, im Kult um den Hambacher Forst zum Beispiel lebt ein
Rest altgermanischer Naturreligion weiter. Wird heute von Naturreligion gesprochen,
so schwingt oft Herablassung mit, eine abfällige Sicht auf etwas Primitives,
Überwundenes. Denn der moderne westliche Mensch betet Natur nicht mehr an,
sondern beherrscht sie und beutet sie aus.
Zur Überwindung der Naturreligion gehört, dass aus der Naturkraft Sonne eine
personale Gottheit, ein göttliches Wesen mit menschlicher oder menschähnlicher Gestalt
wird: bei den Griechen Zeus, bei den Römern Juppiter, ein potenter reifer Mann
im Alter eines Familienvaters – auch den christlichen Gott stellen sich viele
Gläubige so vor. Denn wenn Menschen sich über die Natur erheben, also
„zivilisiert“ werden, geschieht das auch mit ihren religiösen Vorstellungen und
der Sonnengott verliert seine Eigenschaften als Naturkraft, was aber nicht
vollständig gelang, auch im Christentum nicht. Spuren haben überlebt. Das zeigt
sich zum Beispiel auf Gemälden alter Meister, die darstellen, wie Maria durch
einen Sonnenstrahl befruchtet wird:
Die Naturkraft Sonne ist es, die mit einem phallischen
Strahl Maria schwängert, deren Körper
auch Natur ist wie Mutter Erde, auf die die Sonne mit ihrem Licht und ihrer
Wärme lebenfördernd einwirkt. Christus ist der Sohn des Sonnengotts und weist
auch Merkmale auf, die seine Abkunft von seinem himmlischen Erzeuger verraten.
Zum Beispiel das Licht, das von ihm ausgeht: „Sein Antlitz leuchtete wie die
Sonne“ (Matthäus 17,2), als er sich auserwählten
Jüngern in verklärter Gestalt zeigte. Verklärt kann man auch die Gesichter der
Kinder in Wyndhams Roman nennen, die sich mit der „curious lucency of the skin“
aus der Masse ihrer irdischen Mitmenschen durch ihre göttliche Abkunft
herausheben. Am markantesten aber zeigt sich ihre Abstammung in ihren goldenen Augen, in deren „quality of
glowing gold“, was auch C. G. Jung feststellt und sie „Sonnenkinder“ nennt (6).
Was folgt daraus für die Interpretation des Romans? Die Kuckuckskinder gehören
zur Invasionsliteratur, in der sich
die Angst der britischen Kolonialherren spiegelt, dass der Spieß umgedreht und
zur Strafe ihr Land durch Invasoren heimgesucht wird, so wie sie einst die von
ihnen kolonisierten Länder heimsuchten. Ein Beispiel ist H. G. Wells‘
dystopischer Roman Krieg der Welten. Die
Aliens vom Mars, die Großbritannien besetzen, stehen für Eindringlinge aus der
Dritten Welt, die sich für ihre Kolonisierung durch die imperialistische
Metropole rächen – solche Fantasien, die von der Literaturwissenschaft reverse
colonization genannt werden (7), fließen aus dem Schuldgefühl der westlichen
Kolonialmächte. Zur Kolonisierung eines Landes gehört immer auch die
Vergewaltigung und sexuelle Ausbeutung seiner Mädchen und jungen Frauen,
deshalb ist das, was den Frauen von Midwich angetan wird, ein Akt von reverse
colonization. Da dieser Akt von einem Alien, der an den christlichen
Himmelsgott erinnert, ausgeführt wird, kann man darin eine von Gott verhängte
Strafe für kolonialistische Untaten sehen, eine Strafe in Gestalt ungeliebter,
ja gefürchteter Besatzungskinder. Welchen Sinn hat es aber, dass die Kinder,
die aus diesem Akt hervorgehen, nicht nur Besatzungskinder oder gar bedrohliche
Invasoren wie zum Beispiel die Aliens in Krieg
der Welten sind, sondern zugleich Gotteskinder, Messiasse, von denen die
Briten lernen und sich leiten lassen können? Vielleicht lässt es sich so
erklären: In seinem Unterbewusstsein glaubte Wyndham, dass der durch Reichtum
dekadent gewordenen, überzivilisierten westlichen Kolonialmacht Großbritannien
eine Blutauffrischung aus einer anderen Welt, zum Beispiel aus der von der
Zivilisation noch wenig angekränkelten Dritten Welt guttäte, so wie der
vergreisenden niedergehenden römischen Zivilisation eine Blutauffrischung durch
germanische Einwanderer im Zuge der Völkerwanderung guttat. Wobei die
Bedingungen für das Zusammenleben von Alteingesessenen und Neuangekommenen
freilich neu ausgehandelt wurden, wie das Aydan Özoguz als Integrations- und Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung auch für das Einwanderungsland Deutschland gefordert hat. Dass Wyndhams Unterbewusstsein in gefährlichen Halb-Aliens zugleich Heilsbringer
sieht, kann als ein (fiktives) Vorspiel des heute unter deutschen Gutmenschen
herrschenden Flüchtlingskults gesehen werden: Schon damals, 1957, wurden – wie
die Politikerin der GRÜNEN Katrin Göring-Eckardt 2015 jubelte – einem Land des
Westens Menschen geschenkt.
Zugleich kann man in den Kindern Aggressoren sehen, die nicht
aus der Dritten, sondern aus der Zweiten Welt kommen, um Großbritannien zu
unterwerfen, denn in dem 1957 erschienenen Roman spiegelt sich auch die
westliche Kommunistenfurcht im Kalten Krieg (8). Die Kinder verkörpern das
Ideal des Kollektivismus, also Bindung und Hingabe an ein Kollektiv: Nation
(Abstammungs- bzw. Schicksalsgemeinschaft), Familie, Armee,
Glaubensgemeinschaft (Kirche, Umma, Sekte, Partei). Dieses Ideal herrschte im
kommunistischen Ostblock und war dem westlichen Ideal des Individualismus, der
Freiheit des Einzelnen, entgegengesetzt. Die Kinder bilden aufgrund ihrer
gemeinsamen Abstammung und ihres gemeinsamen Schicksals ein Kollektiv, das einer
Großfamilie, einem Clan, einer Parallelgesellschaft gleicht und so stark
zusammenhält, dass es sich nicht aufbrechen lässt. Zusammengeschmiedet werden
die Kinder auch durch group mind: Die
Mädchen haben eine gemeinsame Kollektivseele und die Jungen ebenfalls. Auch
ihre einheitliche Kleidung, in der sich ihre Mentalität von „institutionalism“
symbolisiert, lässt an die Uniformen einer totalitären Jugendorganisation wie
die sowjetischen Pioniere denken (9). Wie auch George Orwell und andere
befürchtete Wyndham offenbar eine Sowjetisierung seines Heimatlandes. Zugleich
war ihm klar, dass der westliche Individualismus auch seine Schattenseiten hat:
Denn im Roman lässt er eine der ungewollt schwangeren Frauen, Mrs Leebody,
heftige Schuldgefühle wegen einer Abtreibung
empfinden, und eine andere ungewollt Mutter gewordene Frau, Mrs
Brinkman, wird von ihrem Kind gezwungen, es während eines Spaziergangs aus dem
Kinderwagen zu nehmen, sich mit ihm am Fuß des Kriegerdenkmals (War Memorial)
niederzulassen und ihm die Brust zu
geben – das Bild, das sie an diesem Ort als stillende englische Mutter abgibt,
kommentiert Mister Zellaby so: „My dear, it’s classical. One of the great
symbols.“ Welchen Sinn hat diese Szene? Wir wagen folgende Interpretation:
Solch ein Kriegerdenkmal ist britischen Soldaten gewidmet, die im Ersten oder
zweiten Weltkrieg gefallen sind. Ihrer waren in beiden Kriegen viele. Solch ein
Blutzoll, den ein Volk geleistet hat, wird in der Regel dadurch ausgeglichen,
dass nach dem Krieg viele Kinder geboren werden. In Midwich zumindest ist das
der Fall: Die Frauen des fiktiven englischen Dorfes erfüllen ihre patriotische
Pflicht. Dazu passt die Rolle, die dasselbe Kriegerdenkmal als Symbol im
Schicksal von Mrs Leebody spielt: Ihre Schuldgefühle, die aus ihrer Abtreibung
fließen, zwingen sie, ausgerechnet vor diesem War Memorial öffentlich Buße zu
tun:
Mrs Leebody took up a position on the lowest step of the
War Memorial, and began to speak. She was dressed for the occasion in a garment
of hessian, her feet were bare, and there was a smudge of ash on her forehead.
Offenbar drängte sich Wyndham der Gedanke auf, dass zumindest
ein gewisses Maß an Kollektivismus, wie ihn die goldäugigen Kinder verkörpern,
seinem durch übergroßen Individualismus dekadent gewordenen, geschwächten
Heimatland guttäte. Dieser Gedanke ist jedoch nicht nur äußerst unpopulär,
sondern auch kränkend, so dass er ihn verteufelt und verdrängt hat. Verdrängtes
ist jedoch nicht weg, sondern taucht aus dem Unterbewusstsein auf anderen Wegen
wieder auf, oft in dämonischer Gestalt. Wie die unheimlichen Kinder in Wyndhams
Roman. Eine Sowjetisierung Englands, die Wyndham offenbar nicht nur
befürchtete, sondern auch unbewusst als Gegengift gegen die westliche Dekadenz
erhoffte – was unter Intellektuellen damals gar nicht so selten war – hätte
sein Vaterland weniger dekadent, aber auch weniger frei gemacht. „Eine gesunde
Portion totalitärer Kollektivismus sowjetischer Prägung täte uns Briten gut,
weil wir dadurch weniger dekadent würden“ – so lässt sich der Gedanke
formulieren, der in Wyndham aufkeimte und sich in sein Bewusstsein drängen
wollte wie die Kinder, die ihn verkörpern, sich ins Leben der Frauen, die
ungewollt mit ihnen schwanger sind, drängen wollen. Wie es die Kinder drängt, das Licht der Welt in
Midwich zu erblicken, von ihren Eltern geliebt und großgezogen zu werden, um
schließlich die britische Gesellschaft zu prägen, so will der Wunsch nach mehr
Kollektivismus für England in Wyndhams Bewusstsein das Licht der Welt
erblicken, geliebt und propagiert werden. Doch der Gedanke stößt auf keine
Gegenliebe, keine Willkommenskultur, was auch für die Kinder, die ihn
personifizieren, gilt – viele der ungewollt schwangeren Frauen hätten sie am
liebsten verhütet oder abgetrieben, wie Wyndham den Gedanken gar nicht erst
hochkommen lassen oder wieder verdrängen wollte. Da er sich aber nicht abweisen
ließ, wurde er dämonisiert, was auch mit den Kindern geschah, die ihn
verkörpern – andernfalls hätte Wyndham Kommunist werden müssen. Zumindest Salonkommunist,
wie der Autor dieses Textes einer war, in den 1970ern, etwa drei Jahre lang,
bis er resignierte, weil Freiheit des Westens und Reduzierung der Dekadenz wohl
nicht zusammengehen.
1)
Alle Zitate
aus dem übersetzten Kindheitsevangelium
stammen von minerva79.de
2) Sophokles:
Ödipus auf Kolonos 1471 –
Übersetzung: W. Willige
3)
Der
Nominativ Zeus, der lautgesetzlich aus *Djeus (Dehnstufe)
entstand, zeigt die Verwandtschaft mit dies nicht mehr so gut wie die
obliquen Casus, zum Beispiel der Genitiv Dios < *Di(v)os, das
mit lateinisch divus "göttlich", dem Adjektiv zu deus
"Gott", verwandt ist. Dass ursprünglich ein oberer Gott, Himmelsgott,
gemeint war, zeigt dieses Adjektiv noch in Ausdrücken wie sub divo
"unter freiem Himmel, im Freien".
4)
Übersetzung:
Otto und Eva Schönberger
5)
C. G. Jung: Symbole der Wandlung § 135 (GW 5)
6)
In seiner
UFO-Abhandlung Ein moderner Mythus: Von
Dingen, die am Himmel gesehen werden (Gesammelte Werke 10):
„Die eigenartige Parthenogenese und die goldenen Augen weisen auf Verwandtschaft
mit der Sonne hin und kennzeichnen die Kinder als göttlicher Abkunft. Ihre
Väter scheinen Verkündigungsengel zu sein, die von ‚überhimmlischem Orte‘
herabgekommen wären, um sich der Dummheit und Rückständigkeit des Homo sapiens
anzunehmen.“ (S. 472)
8)
Dass man
sich unter den Kindern Aggressoren aus der Zweiten und zugleich aus der Dritten
Welt vorstellen kann, ist kein Widerspruch. Antiwestliche revolutionäre Kräfte
wie in Vietnam wurden in der Zeit des Kalten Krieges massiv von der Sowjetunion
unterstützt, was sich zum Beispiel in Wyndhams Roman Die Triffids spiegelt. Die Triffids sind Killerpflanzen, die von
der Dritten Welt aus nach Großbritannien einwandern, ursprünglich aber aus der
Sowjetunion stammen, wo sie gezüchtet wurden. Zur Deutung der Kinder als „fifth
column“ des Ostens vgl. Andrew Hammond: Cold
War Stories. British Dystopian Fiction, 1945-1990, S. 75.
9)
Der
totalitäre Charakter des Kinderkollektivs wird auch von C. G. Jung (a.a.O., S.
473) festgestellt:
„Andererseits hat es mit diesen Kindern eine ausgesprochen verdächtige
Bewandtnis: sie sind nicht individuell gesondert, sondern leben in einem
dauernden Zustand von participation mystique, das heißt unbewusster Identität,
welche individuelle Differenzierung und Entfaltung ausschließt. Wäre ihnen
frühe Vernichtung erspart geblieben, so hätten sie eine völlig einförmige
Gesellschaft gegründet, deren tödliche Langeweile genau dem Ideal eines
marxistischen Staates entspräche.“