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GOMRINGER: AVENIDAS


avenidas
avenidas y flores

flores
flores y mujeres

avenidas
avenidas y mujeres

avenidas y flores y mujeres y
un admirador


Das kurze und scheinbar schlichte Gedicht hat es in sich, es erregt Bewunderung und neuerdings zugleich heftige Ablehnung, die 2018 zu seiner Tilgung von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule führte, auf der es prangte. Warum das so ist, wollen wir herausfinden.

Das Gedicht entstand – wie die Tochter des Dichters mitteilt – 1953 auf den Ramblas, der berühmten Flaniermeile in Barcelona. Auf einem Teilstück der Ramblas, der Rambla de les Flors, werden seit 1853 Blumen an Ständen zum Verkauf angeboten, die Gomringer zu seinen avenidas inspiriert haben dürften. Doch das Gedicht wirkt auch ohne diese genaue Zeit- und Ortsangabe als zeitloses Kunstwerk. Auf „avenidas“, also Prachtstraßen, Alleen werden Blumen verkauft, die für Frauen stehen, denn „flores“ und „mujeres“ werden in einem Atemzug genannt und gemeinsam von einem Mann bewundert, dem admirador. Das spanische flor lässt sich auch mit „Blüte“ übersetzen – die Frauen erregen Bewunderung, weil sie blühen und noch nicht verblüht sind. Die Blüte einer Pflanze lockt Bienen und andere Insekten an, die das Werk der Fortpflanzung durch Bestäubung verrichten. Staubbeutel und Stempel, die zur Blüte gehören, lassen sich deshalb als Geschlechtsorgane der Pflanze charakterisieren, und die Blütenblätter, die Insekten anlocken, wirken als erotischer Reiz im Dienste der Vermehrung. Mädchen, die in der Blüte ihrer Jugend stehen, erregen mit ihrem Jugendreiz, ihrer Morgenschöne, wie Goethe sagen würde, das Begehren der Männer, die sie zur Frau und Mutter machen, damit wir Menschen nicht aussterben. Das Gedicht feiert das Leben, das blühende Leben. Und dass die meisten der auf Flaniermeilen verkauften Blumen, wenn es keine Topfpflanzen sind, abgepflückt bzw. abgeschnitten sein dürften, symbolisiert in der Tiefenschicht des Gedichts die Entjungferung, die aus Mädchen Mütter macht, damit das Leben weitergegeben wird.


Es ist also durchaus Sexualität im Spiel, und das dürfte der aus dem Subtext, dem Unterbewusstsein des Gedichts wirkende Stein des Anstoßes sein, der den Unmut feministischer „Studierender“ erregte, die sich offenbar nicht gerne an die Biologie ihres weiblichen Körpers erinnern lassen. Sie setzten seine Entfernung von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule durch. Der puritanische Furor, mit dem sie ihre Fachhochschule von dem Gedicht säuberten, erinnert an Eleanor Rigby im Beatles-Song, die nach einer Trauung ihre Kirche von den Reiskörnern säubert, die ja Samenkörner sind und über die Braut geworfen die Hoffnung symbolisieren, sie möge fruchtbar werden wie ein Acker, dessen Furchen die Saat empfangen. Durch diesen uralten Hochzeitsbrauch daran erinnert zu werden, dass eine Frau, die heiratet und Mutter wird, Natur wie Mutter Erde ist, die aus Samen Pflanzen wachsen lässt, ist der alten Jungfer ein Gräuel. Zumindest kann man den Song so interpretieren. Freilich lassen die Beatles offen, wie sich der Hörer die alte Jungfer beim Säubern ihrer Kirche vorstellen soll. Ist ihre Miene dabei resigniert? Oder hat sie Tränen in den Augen, weil die Reiskörner von der Hochzeitsfeier sie daran erinnern, dass ihr Eheglück und Kindersegen nicht zuteil wurden? Oder verdrängt sie den Schmerz über ihre Ehe- und Kinderlosigkeit, weil er ihr Selbstwertgefühl kränkt, und sammelt den Samen, der ihre Kirche besudelt, weil er Sexualität und Fruchtbarkeit symbolisiert, mit der Rage eines Putzteufels auf? Ja, auch so kann man sich Eleanor Rigby vorstellen: Als alte Jungfer, die dem Fuchs in der Fabel gleicht, der die Trauben, die für ihn unerreichbar sind, runtermacht: Die sind doch sauer! Auch unsere modernen deutschen Eleanor Rigbys, altjüngferlich oft schon als „Studierende“, wollten das Gedicht aus den Augen haben, weil es preist, was für sie unerreichbar ist: erotische Erfüllung, Mutterglück.


Die Verachtung weiblicher Schönheit dürfte uneingestandenen Neid zur Quelle haben und erinnert an eine abfällige Äußerung des Philosophen Arthur Schopenhauer (Über die Weiber), der Zeit seines Lebens ein verbiesterter Junggeselle blieb und mit seinem Ressentiment gegenüber Frauen und Frauenattraktivität eine männliche Eleanor Rigby ist:

Mit den Mädchen hat es die Natur auf das, was man, im dramaturgischen Sinne, einen Knalleffekt nennt, abgesehen, indem sie dieselben, auf wenige Jahre, mit überreichlicher Schönheit, Reiz und Fülle ausstattete, auf Kosten ihrer ganzen übrigen Lebenszeit, damit sie nämlich, während jener Jahre, der Phantasie eines Mannes sich in dem Maße bemächtigen könnten, dass er hingerissen wird, die Sorge für sie auf Zeit Lebens, in irgend einer Form, ehrlich zu übernehmen, zu welchem Schritte ihn zu vermögen, die bloße vernünftige Überlegung keine hinlänglich sichere Bürgschaft zu geben schien. Sonach hat die Natur das Weib, eben wie jedes andere ihrer Geschöpfe, mit den Waffen und Werkzeugen ausgerüstet, deren es zur Sicherung seines Daseins bedarf, und auf die Zeit, da es ihrer bedarf, wobei sie denn auch mit ihrer gewöhnlichen Sparsamkeit verfahren ist. Wie nämlich die weibliche Ameise, nach der Begattung, die fortan überflüssigen, ja, für das Brutverhältnis gefährlichen Flügel verliert; so meistens, nach einem oder zwei Kindbetten, das Weib seine Schönheit, wahrscheinlich sogar aus dem selben Grunde.

   
 
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