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WAS SYMBOLISIEREN DIE ROSENBLÜTEN IM MÄRCHEN LA BELLE ET LA BÊTE?


1740 veröffentlichte die französische Schriftstellerin Gabrielle-Suzanne de Villeneuve das Märchen La Belle et la Bête, das in der gekürzten Version von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont, die 1756 erschien, nicht nur in Frankreich zum Bestseller wurde.

Das Märchen hat viele Aspekte, zum Beispiel die Überwindung von Standesschranken, denn ein Mädchen aus der Bourgeoisie, die jüngste Tochter eines verarmten Kaufmanns, heiratet einen reichen und mächtigen adeligen Schlossherren.

Uns interessiert aber nur ein Aspekt, der Hauptthema des Märchens ist: Diese Tochter, die wegen ihrer Schönheit La Belle heißt, will nicht erwachsen, das heißt, zur Frau und Mutter werden, sondern Kind bleiben. Deshalb greifen höhere Gewalten in ihr Schicksal ein und verhindern, dass sie an der Seite ihres Vaters zur alten Jungfer wird.

Zu Beginn lebt La Belle glücklich und zufrieden zu Hause bei ihrem Vater, an den sie fixiert ist, und will nicht heiraten; alle Freier weist sie ab. Als der Kaufmann zu einer Geschäftsreise aufbricht, fragt er sie, ob er ihr etwas Bestimmtes mitbringen solle. Sie wünscht sich eine Rose, da solche Blumen in der Gegend, wo sie lebt, nicht wachsen. Auf dem Rückweg von der erfolglosen Reise muss der Kaufmann einen Wald durchqueren, in dem er sich verirrt. Es schneit, heftiger Wind lässt ihn zwei Mal vom Pferd stürzen, „und da ihn die Nacht überfallen hatte, so dachte er, er würde vor Hunger oder Kälte sterben, oder von den Wölfen gefressen werden, die er rund um sich herum heulen hörte”. Er rettet sich in ein verwunschenes Schloss, in dem er keine Menschenseele, aber einen brennenden Kamin und einen reich gedeckten Tisch und in der Nähe einen Stall und Futter für sein Pferd vorfindet. Er wärmt sich auf, stillt seinen Hunger und seinen Durst und findet ein gemachtes Bett vor, in dem er übernachtet, und am nächsten Morgen ein von Geisterhand bereitetes Frühstück, mit dem er sich zu  seinem Heimweg stärkt.

Den Kaufmann beschleicht ein mulmiges Gefühl, weil er uneingeladen in fremdes Eigentum und fremde Privatsphäre eindringt, dadurch ein Tabu verletzt und Strafe durch den Schlossherren, der sicher reich und mächtig ist, fürchten muss. Der Schlossherr wird auch rächend erscheinen, aber erst spät. Dieses mulmige Gefühl und die Angst vor Strafe empfindet auch der Leser, der sich mit dem Kaufmann identifiziert.

Der Kaufmann ist in der Tat ein Tabubrecher, und zwar zweifach: Weil er in fremdes Eigentum eindringt und zugleich in einem anderen, schlimmeren Sinn, worauf wir gleich kommen.

Als er am nächsten Morgen das Schloss verlässt, um sein Pferd zu holen und seine Heimreise fortzusetzen, ist es zu seiner Überraschung draußen nicht mehr Winter, sondern warm. Der Anblick blühender Rosenstöcke im Schlosspark erinnert ihn an den Wunsch seiner jüngsten Tochter und er bricht einen Zweig mit Blüten ab, um ihn ihr mitzubringen. Im gleichen Augenblick erscheint ein schreckliches Untier, das offenbar der Schlossherr ist. „Du bist sehr undankbar", sagte es mit einer fürchterlichen Stimme zu ihm. "Ich habe dein Leben gerettet, indem ich dich in mein Schloss aufgenommen habe, und für meine Güte stiehlst du mir meine Rosen, die ich unter allen Sachen in der Welt am allerliebsten habe”. Zur Sühne muss er dem Untier seine jüngste Tochter als Braut zuführen, andernfalls wird es ihn töten. Der Vater gehorcht und bringt La Belle ins Schloss zu dem Untier, an dessen Seite sie lebt und sich allmählich an es gewöhnt und es sogar lieb gewinnt. Durch ihre Liebe aber wird der Bann gebrochen: Das Untier verwandelt sich zurück in den schönen Prinzen, der er war, bevor eine böse Fee ihn in die garstige Bestie verzauberte. Die beiden leben fortan glücklich als Königspaar.

Mit den Rosen, die der Kaufmann abreißt, muss es eine besondere Bewandtnis haben, denn das Untier störte es nicht, dass der Eindringling einfach sein Pferd in seinem Stall unterbrachte und fütterte, sich selber am Kaminfeuer auf dem Sofa breitmachte, sich an den aufgetischten Speisen und dem Wein gütlich tat und im gemachten Bett übernachtete – erst, als der Kaufmann sich an den Rosen vergreift, erregt er den Zorn des Schlossherren.

Eine Blume oder Blüte pflücken ist ein uraltes Symbol für Entjungferung, auch die Redewendung „cueillir la rose“ hatte im 18. Jahrhundert, als das Märchen entstand, diese Bedeutung. Es ist kein Zufall, dass in dem Begriff Defloration, der aus dem Lateinischen kommt, das Wort flos, floris enthalten ist, was „Blume, Blüte“ bedeutet. Das lateinische Verb de-flor-are „entjungfern“ bedeutet wörtlich: ein Mädchen seiner Blüte berauben. Das gilt auch für das englische to de-flower.

Das Abreißen der Rosen durch den Vater symbolisiert also seinen unbewussten Wunsch nach Sex mit seiner jüngsten Tochter und verrät, dass er inzestuös an sie fixiert ist und sie an sich binden will, statt sie zu verheiraten. Aber auch die Tochter ist inzestuös an ihren Vater fixiert – das verrät die Tatsache, dass ihr spontan eine Rose in den Sinn kommt, als der Vater sie fragt, was sie sich von ihm als Mitbringsel wünscht. Das Pflücken der Rosen im Schlossgarten lässt sich als Wunscherfüllung deuten: Der Vater tut das, was sich La Belle in ihrem Unterbewusstsein von ihm wünscht.

Die Rosen stehen für la Belle und sie blühen im Schlossgarten des Untiers, womit symbolisch die Zukunft, die dem Mädchen vom Schicksal bestimmt ist, vorweggenommen wird: sie soll von zu Hause, wo sie aufgewachsen ist und immer noch an der Seite ihres Vaters lebt, gleichsam in den Garten ihres zukünftigen Bräutigams verpflanzt werden, um dort weiter zu blühen.

Diese Vorstellung des Verpflanzens ist eine beliebte Symbolik für Mädchen, die durch Verheiratung zur Frau und Mutter werden.
In Russland, im Tarnogski Rajon, pflegten Brautwerber den Vater eines unverheirateten Mädchens zu fragen (1):

Ihr habt ein Blümlein, wir haben einen Garten.  Warum verpflanzen wir nicht das Blümlein in unseren Garten?

Auch in Kroatien, in der Gegend von Ston, nördlich von Dubrovnik, wird die Braut mit einer zu verpflanzenden Blume verglichen: der Vater des Bräutigams wendet sich als Brautwerber an den Vater der Braut mit folgenden Worten (2):

Als ich mit meinen Begleitern des Weges kam, erblickte ich hier eine wunderschöne rote Blume, welche ich gerne in meinen Garten verpflanzen möchte. Ich bitte daher, wenn es möglich ist, so schenke sie mir.

Diese Symbolik des Verpflanzens der blühenden Braut in den Garten ihres Mannes liegt auch Goethes Gedicht Gefunden zugrunde:

Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen
Das war mein Sinn.

Im Schatten sah’ ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Aeuglein schön.

Ich wollt’ es brechen,
Da sagt’ es fein:
Soll ich zum Welken
Gebrochen seyn?

Ich grub’s mit allen
Den Würzlein aus,
Zum Garten trug ich’s
Am hübschen Haus.

Und pflanzt’ es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.

Auch in La Belle et la Bête stehen die Rosenblüten für die Tochter, deren Bestimmung es ist, verpflanzt zu werden, deren Platz nicht mehr zu Hause bei ihrem Vater, sondern im Garten ihres Ehemannes sein soll. Der Vater pflückt Rosen, die nicht für ihn bestimmt sind. Diese Handlung symbolisiert den unbewussten Wunsch nach Inzest, der zur der Fixierung der Tochter an den Vater und des Vaters an die Tochter gehört. Diese Fixierung ist wider die Natur, die auch im Körper und in der Seele der aufblühenden Tochter wirkt, sie zur Frau und Mutter machen will und vom dem Tier verkörpert wird, das dem Willen der Natur zum Sieg verhilft.



1) "У вас есть цветоцик, а у нас есть садоцик. Вот, нельзя ли нам этот цветоцик перевести (или посадить) в наш садоцик?" - Д. М. Балашов / Ю. И. Марченко: Русская свадьба, S. 29

2) Ida von Düringsfeld / Otto von Reinsberg-Düringsfeld: Hochzeitsbuch, S. 74

   
 
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