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Der Ich-Erzähler der short story, die zum Zyklus Dubliners gehört, ein Junge in der Pubertät, hat sich in ein Mädchen verliebt, das nichts davon erfährt. Er versucht, ihr auf einem Wohltätigkeitsbazar, dessen Name Araby der Erzählung den Titel gibt, ein Geschenk zu kaufen, was scheitert und damit die Hoffnungslosigkeit seiner Liebe symbolisiert.
Seine von dem Mädchen heftig erregte Sexualität überhöht sich zu religiöser Verzückung, Brunst will sich zu Inbrunst sublimieren, er betet sie regelrecht an. Seine bewussten und unbewussten Regungen drehen sich nur um sie:

"Her image accompanied me even in places the most hostile to romance. On Saturday evenings when my aunt went marketing I had to go to carry some of the parcels. We walked through the flaring streets, jostled by drunken men and bargaining women, amid the curses of labourers, the shrill litanies of shop-boys who stood on guard by the barrels of pigs’ cheeks, the nasal chanting of street-singers, who sang a come-all-you about O’Donovan Rossa, or a ballad about the troubles in our native land. These noises converged in a single sensation of life for me: I imagined that I bore my chalice safely through a throng of foes."

Der Abendmahlskelch, chalice, symbolisiert als sakraler Gegenstand das religiös überhöhte Bild der Angebeteten, das der Junge im Herzen trägt und das im Gegensatz zu der profanen, "niederen" Umgebung steht, die vor allem von Alkohol (betrunkene Männer), geldgierigem Markttreiben (feilschende Frauen) oder politischen Leidenschaften (Ballade über Unruhen in Irland) geprägt ist.
Auch als er auf den Wohltätigkeitsbazar gelangt ist und ein Geschenk für sie kaufen will, begleiten ihn religiöse Empfindungen:

"I recognized a silence like that which pervades a church after a service. I walked into the centre of the bazaar timidly. A few people were gathered about the stalls which were still open. Before a curtain, over which the words Café Chantant were written in coloured lamps, two men were countig money on a salver. I listened to the fall of the coins."

Einen Gegensatz zu dem weihevollen Gefühl, das den Bazar, wo er ein Geschenk kaufen will, um damit die Gunst der Angebeteten zu erwerben, zu einem sakralen Raum erhöht, bilden die Geld zählenden Männer, die zu Recht als Anspielung auf die Geldwechsler im Tempel (Matth. 21,12) gedeutet worden sind. Jesus verjagt sie, weil sie das Haus des Herren durch ihr geldgieriges Markttreiben entweihen. Die Parallele zu der oben zitierten Stelle, wo der Abendmahlskelch im Kontrast zu einer profanen, von den materialistischen Werten des Marktes geprägten Umgebung steht, ist offensichtlich.
Nun müssten die Geld zählenden Männer, die an den Marktcharakter des religiös überhöhten Bazars erinnern, einen Bezug zu dem Ich-Erzähler haben. Auch er hat ja Geld dabei, mit dem er etwas kaufen will: ein Geschenk für die Angebetete. Warum schenkt man einem Menschen, den man begehrt, etwas? Aus edlen, uneigennützigen Gründen? Nein, er will dafür etwas von ihr. Will sie sich verpflichten, sie gleichsam kaufen. Als er sich mit ihr unterhält, gehört zu seinen Wahrnehmungen:

"While she spoke she turned a silver bracelet round and round her wrist."

Diese Beobachtung ist eingebettet in das Gespräch der beiden, in dem es um den Bazar Arabia geht, den sie nicht besuchen kann, so dass bei ihm die Absicht ausgelöst wird, ihr dort ein Geschenk zu kaufen. Das Armband aus Silber hat sie sich höchstwahrscheinlich nicht selber gekauft, sondern geschenkt bekommen. Dieses Geschenk, das ihr Handgelenk umschließt - erinnert es nicht an eine Handschelle? Auch er will ihr solch ein Geschenk, mit dem er sie an sich bindet, machen.
Marktcharakter, Käuflichkeit, der Wunsch, die Angebetete zu seinem Eigentum zu machen: nicht nur hehre Motive liegen dieser religiös überhöhten Liebe zugrunde.
Ein weiteres "niederes" Motiv enthüllt sich, wenn man die folgende Stelle deutet:

"It was a dark rainy evening and there was no sound in the house. Through one of the broken panes I heared the rain impinge upon the earth, the fine incessant needles of water playing in the sodden beds."

Diesem symbolischen Bild liegt der Archetypus der Mutter Erde zugrunde. Erde als Frau, die Samen empfängt und fruchtbar wird. Die Tropfen schlagen oder stoßen auf die Erde, wobei das von Joyce verwendete to impinge upon neben einfachem "stoßen" oder "fallen auf" auch "gegen etwas verstoßen, unberechtigt auf etwas übergreifen, unberechtigt in etwas eindringen" bedeutet. Symbolisiert wird der Wunsch nach Sex mit dem Mädchen, der verdrängt werden musste, weil er mit der religiösen Überhebung der Liebe nicht in Einklang steht.
Doch die Sublimierung ist nicht vollständig gelungen, die religiöse Inbrunst hat ihre Herkunft aus der Brunst nicht so recht abstreifen können. Das zeigt auch das folgende Bild, das zu den Wahrnehmungen des Ich-Erzählers gehört, als er sich mit dem Mädchen unterhält:

"She held one of the spikes, bowing her head towards me."

Die Spitze, die sie mit ihrer Hand hält, gehört zu einem Gitter, das im vorhergehenden Satz erwähnt wird. Das Bild symbolisiert seinen unbewussten Wunsch, von ihr masturbiert zu werden. Von verdrängten sexuellen Wünschen handelt auch folgende Stelle:

"But my body was like a harp and her words and gestures were like fingers running upon the wires."

Dieser Fantasie des verliebten Jungen liegt der Archetypus Musikinstrument als Frauenkörper zugrunde. Musik ist sublimierte Erotik, Musizieren ein sublimierter Liebesakt, wobei dem Musikanten der aktiv-männliche, dem Instrument der passiv-weibliche Part zukommt. Die archetypische Vorstellung ist hier insofern abgewandelt, als die Rollen vertauscht sind: Ein Mädchen spielt auf einem Jungenkörper. Vorschnell wäre es aber, den Ich-Erzähler deshalb zum femininen Homosexuellen zu erklären. Obiges Zitat mit den Beeten, in das die Regentropfen eindringen, spricht von dem unbewussten Wunsch, das Mädchen männlich-draufgängerisch zu "nehmen". Da Männer auch weibliche Gene und somit weibliche Regungen haben und umgekehrt, müssen sie beim Liebesakt nicht nur männlich und die Frauen nicht nur weiblich handeln und empfinden. Das Unterbewusstsein des Jungen sehnt sich nach ganzheitlicher Erfüllung.
Sexuelle Symbolik enthält auch die Stelle, als der Ich-Erzähler sich im Haus eines verstorbenen Priesters befindet und den dazugehörigen Garten betrachtet:

"The wild garden behind the house contained a central apple-tree and a few straggling bushes, under one of which I found the late tenant’s rusty bicycle-pump."

Der Apfelbaum ist natürlich eine Anspielung auf die verbotene Frucht, die am Baum der Erkenntnis hängt. Die Luftpumpe des Priesters ist ein Phallus-Symbol, ein pneumatisches Instrument, mit dem man einen Luftstrom, sozusagen Wind erzeugt. Der Archetypus Wind trägt männlich-phallischen Charakter, was auch für den mit ihm verwandten Sonnenpenis gilt. Die Luftpumpe ist weggeworfen worden und verrostet, ist also schon lange außer Gebrauch, weil die Sexualität des katholischen Priesters wegen der christlichen Sexualfeindlichkeit verkümmern musste. Das hat natürlich einen symbolischen Bezug zu dem Ich-Erzähler, dessen Liebe religiös überhöht ist, so dass das Mädchen für ihn zur verbotenen, unerreichbaren Frucht wird und seine Sexualität, die doch auch dazugehört, verworfen worden ist und zu verkümmern droht.

   
 
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