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Archetypisch ist die Vorstellung vom Baum als nährendem und bergendem weiblich-mütterlichem Naturnumen, die wohl in der phylogenetischen (1) unbewussten Erinnerung an die Lebensweise unserer Affen-Vorfahren wurzelt, die mehr oder weniger auf Bäumen lebten und dort nicht nur Früchte zur Nahrung, sondern auch Schutz vor Raubtieren und - besonders in heißen Ländern - vor der Sonne fanden, den Wald also als mütterlich erlebten.

Weil Bäume in der archetypischen Vorstellungswelt Mütter sind, bringen sie Menschenkinder zur Welt. Dieser uralte Glaube klingt nach, als Penelope von Odysseus, der sich ihr noch nicht zu erkennen gegeben hat, wissen will, wer er ist:

Aber erzähl mir auch so deine Abkunft, wo du daheim bist;
Sicherlich stammst du nicht ab von uralten Eichen und Felsen.       (2)

Oder wenn siebenbürgische Eltern ihren neugierigen Kindern, die wissen wollten, woher das neue Geschwister kommt, erklärten, es stamme "vom knorrigen Bîrm (Birnbaum)", wenn es ein Junge, und "vom schlanken Pelzm (Zwetschkenbaum)", wenn es ein Mädchen war (3).
Redensarten wie "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" wurzeln in diesem Archetypus, von dem sich auch Shakespeare inspirieren ließ, als er in King Henry VI (Dritter Teil, V,6) seinen Bösenwicht Richard III. als entarteten Sohn seiner Mutter charakterisierte:

Thy mother felt more than a mother's pain,
And, yet brought forth less than a mother's hope,
To wit, an indigested and deformed lump,
Not like the fruit of such a goodly tree.

Die russische Dichterin Marina Zwetajewa, die mehrfach Mutter war, wurde von diesem Archetypus zu einem Gedicht inspiriert, dessen lyrisches Ich, eine hochschwangere Frau, sich im Traum als gebärenden Baum erlebt:

Fein und zart, ganz fein und zärtlich
Pfiff etwas im Tannenbaum,
Und ein Kind mit schwarzen Augen
Sah ich da in meinem Traum.

Schöne Tanne, ach du blutest
Heißes Harz in deinem Schmerz.
In der Nacht, der schönen, sägt mir
Eine Säge so durchs Herz.

Gelegenheit, den Archetypus Baumgeburt dichterisch zu gestalten, bot Ovid die Sage von Myrrha, die als Schwangere zur Strafe für den Inzest mit ihrem Vater in eine Myrrhe verwandelt wurde; als Baum bringt sie, unterstützt von der Geburtsgöttin Lucina, Adonis zur Welt:

Doch das in Frevel empfangene Kind war unter der Rinde gewachsen und suchte einen Weg, die Mutter zu verlassen und ans Licht zu treten. Mitten im Baume schwillt der schwangere Leib. Die Last bedrängt die Mutter, doch die Schmerzen finden keine Worte, und die Gebärende kann Lucina nicht anrufen. Doch es ist, als krümme sich der Baum in Geburtswehen; oft ächzt er und wird von fallenden Tränen feucht. Gnadenvoll trat Lucina zu den schmerzgepeinigten Ästen, legte die Hände an das Holz und sprach einen Geburtssegen: Da bekommt der Baum Risse, und durch einen Spalt in der Rinde entlässt er seine lebende Last; es wimmert ein Knabe. Naiaden haben ihn auf weiches Gras gebettet und mit den Tränen der Mutter gesalbt.                                                        (4)

Aus der archetypischen Vorstellung, dass die Menschen von Bäumen abstammen, erklärt sich auch die Etymologie des slavischen Wortes für "gesund", russisch zdorovyj, serbokroatisch zdrȁv, tschechisch und slovakisch zdravý, polnisch zdrowy. Es ist entstanden aus urslavisch *sъdòrvъ, das sich aus *sъ- "gut" (5) und *dòrvъ "Baum, Holz" (6) zusammensetzt, also ursprünglich "aus gutem Holze" bedeutete (7).


Als mütterliche Wesen nehmen sich Bäume auch aufwachsender Kinder an. So erzählt der Homerische Aphrodite-Hymnus, dass die griechische Liebesgöttin ihren neugeborenen Sohn Äneas Baumnymphen anvertraut:

Sieht es das Licht der Sonne, so sollen
Nymphen es mir erziehn im Gebirg, hochbrüstige Frauen,
die diesen heiligen, hohen Berg hier bewohnen und niemals
Menschen oder Unsterblichen folgen.
...
Kommen Nymphen zur Welt, so wachsen zusammen mit ihnen
Tannen und hochgewipfelte Eichen im nährenden Boden,
ragen empor im hohen Gebirg in sprossender Schöne:
Heilige Götterbezirke; so pflegt sie das Volk zu benennen;
niemals aber schlägt sie kahl ein menschlicher Axthieb.
Tritt dann aber die Moira heran und müssen sie sterben,
dann verdorren zuerst im Laub die herrlichen Stämme,
rundum stirbt das Laub, die Äste brechen herunter,
zugleich aber verlässt ihre Seele die strahlende Sonne.
Diese Göttinnen werden mein Söhnchen bekommen und nähren.                 (8)

Amme des Helden und Gründers Äneas war die Natur, und zwar vom Menschen nicht unterworfene, wilde Natur, ein Bergwald, was auch für Romulus und Remus, die Gründer Roms, gilt. Die ausgesetzten Zwillinge wurden bekanntlich von einer Wölfin gesäugt, haben also die urprüngliche Kraft unverdorbener und ungezähmter Natur mit der Muttermilch in sich aufgenommen; weniger bekannt ist, dass sich im Mythos zugleich mit dem wilden Tier ein Baum der Kinder annimmt, ein wilder Feigenbaum (9), den Plinius ausdrücklich nutrix, also "Säugerin, Ernährerin, Amme" der beiden nennt und von ihm sagt, dass er sie "beschirmte" oder "beschützte" (protexit):

Colitur ficus arbor in foro ipso ac comitio Romae nata, sacra fulguribus ibi conditis magisque ob memoriam eius, quae nutrix Romuli ac Remi, conditorum imperii, in Lupercali prima protexit, Ruminalis appellata, quoniam sub ea inventa est lupa infantibus praebens rumim - , ita vocabant mammam - ;

Mit Verehrung gepflegt wird ein Feigenbaum, der auf dem Forum selbst, und zwar auf dem Versammlungsplatz in Rom gewachsen ist, heilig durch Blitze, die dort vergraben sind, und mehr noch durch das Andenken an den <Baum>, der als Amme des Romulus und des Remus, der Stifter des Reiches, als erster in der lupercalischen Höhle Schutz gewährte, Ruminalis genannt, weil man unter ihm die Wölfin fand, wie sie den Kindern die rumis, - so nannte man die Zitzen - darbot;                                                           (10) 

Die archetypische Vorstellung, dass die Natur einem Menschen, dessen Amme sie ist, Potenzen einflößt, die ihn anderen Menschen überlegen machen und zu besonderen Leistungen befähigen, prägt auch eine Mythe, die Jacob und Wilhelm Grimm in ihren Deutschen Sagen (I, 108) überliefern, Die Wiege aus dem Bäumchen:

Bei Baden in Osterreich stehen die Trümmer des alten Bergschlosses Rauheneck. In diesen soll ein großer Schatz verborgen liegen, den aber nur der heben kann, der als Kind in einer Wiege geschaukelt sein wird, die aus dem Holz des Baumes gezimmert worden ist, der jetzt nur erst als ein schwaches Reis aus der Mauer des hohen Turmes zu Rauheneck sprießt. Verdorrt das Bäumchen und wird es abgehauen, so muß die Hebung des Schatzes warten, bis es von neuem ausschlägt und wieder wächst.

Aus der archetypischen Vorstellung von Baum und Wald als Mutter oder Amme erklärt sich auch, warum Artemis, die griechische Göttin des Waldes, Personifikation der vom Menschen ungezähmten Natur, den Beinamen paidotrophos „kindernährend, kinderaufziehend, Mutter“ hat (11).

Der Archetypus Baum als Mutter, der bei Naturvölkern selbstverständlich zum Weltbild gehört, ist bei Christen, die solches als heidnischen Aberglauben verachten, aber auch bei sich aufgeklärt dünkenden Menschen, die sich als Herrscher über die Natur in und außer sich fühlen, in eine Tiefenschicht der Seele hinab verbannt, aus der er jedoch im Zustande geistiger Zerrüttung, wenn die Kontrolle durch das Bewusstsein vermindert ist, wieder auftauchen kann, und zwar, wie das oft der Fall bei Verdrängtem ist, als etwas nicht Geheueres, Gespenstisches: Zum Beispiel bei dem todkranken Knaben in Goethes Ballade Erlkönig, dessen Fieberfantasien Bäume als         "Erl(en)königs Töchter" erscheinen lassen, als gefährlich-verführerische Ammen, die ihn in Schlaf (und Tod) wiegen und singen wollen:

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? —
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. —

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ —

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? —
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. —

Eigene verdrängte Wünsche werden in die Natur projiziert, die dadurch zur bösen Verführerin wird. So entlastet der Mensch sich und fühlt sich als Unschuldsengel. Was für Wünsche sind das bei dem im Geist der Aufklärung und des Christentums erzogenen Sohn? Die Wesen, auf die er sein Begehren projiziert, so dass es scheinbar von ihnen ausgeht, sind Töchter des Erlen-Königs, also weibliche Wesen, die in Familienbeziehung mit dem König, der mächtigen Vaterfigur, stehen und auf die der Vater aufpasst, verhindert, dass ihnen jemand zu nahe tritt, was für Töchter ebenso wie für die Ehefrau gilt: Die Begierden des Kindes sind inzestuös auf die Mutter gerichtet.

Solch eine Beziehung zur Natur, der die verdrängten Wünsche des Menschen angelastet werden, begegnet auch in der Legende vom Heiligen Georg dem Drachentöter, wie sie der englische Autor Richard Johnson (1573 - c. 1659) in seiner The Most Famous Historie of the Seven Champions of Christendome erzählt. Kalyb, "the wise lady of the woods", entführt St. Georg als Neugeborenen, um ihn in ihrem Reich, in "solitary woods", also in unberührter Natur abseits der Zivilisation großzuziehen - sein Schicksal erinnert an das von Äneas oder Romulus und Remus, so dass sich unschwer der Archetypus des Kindes erkennen lässt, das am Busen der vom Menschen unverdorbenen Natur zum Helden mit außergewöhnlichen Aufgaben heranwächst. Doch bei Richard Johnson ist der Archetypus christlich verformt: Kalyb ist kein wohlmeinendes Naturnumen, sondern eine "fell enchantress". Ihr Reich, die Natur, ist wie in Goethes Erlkönig dämonisiert, mit unheimlichen Wesen bevölkert. Den halbwüchsigen Georg, den es hinaus in die feindliche Welt zieht, versucht Kalyb als Verkörperung dieser Natur in inzestuöser Liebe an sich zu binden, so das er sich durch List von ihr befreien muss. Die Neigung zur Mutterfixierung geht in keinster Weise vom dem 14-Jährigen aus, sondern allein von der bösen Fee; die jugendliche Lichtgestalt scheut nicht im Geringsten davor zurück, erwachsen zu werden. Thomas Percy, der diese von Richard Johnson erzählte Legende als Ballade The Birth of St. George für seine Reliques of Ancient English Poetry nachgedichtet hat, macht die christliche Verteufelung rückgängig und stellt den unverfälschten Archetypus wieder her: Aus der bösen Zauberin Kalyb wird wieder ein dem Kind wahrhaft wohlgesonnenes Naturnumen, eine "weird (11a)lady of the woods", die wie die Baumseelen, die Äneas großziehen, oder die Wölfin und der wilde Feigenbaum, die sich um Romulus und Remus kümmern, frei von inzestuöser Begierde den Knaben "amid the lonely wilds" zu künftigen Heldentaten erzieht.

Zum Archetypus Baum als Amme passt auch die Vorstellung, dass Bäume sich der Kinder ganz von Anfang an, schon bei der Geburt, annehmen. So lässt sich der Name der römischen Geburtsgöttin Lucina von lucus "Hain" ableiten (12), und so erklärt sich, dass Leto, als sie Apoll zur Welt bringt, während dieser schweren Niederkunft eine Palme gleichsam hilfesuchend umklammert (Homerischer Apollon-Hymnus 117).

Als Geburtsgöttinnen walten auch die altgriechischen Moiren (die bekannter als Bringerinnen des Todesloses sind): Wann die Stunde für die Geburt des Dionysos gekommen ist, bestimmen sie und nicht der oberste Gott Zeus, der ihn sich in seinen Schenkel als Ersatz für den Mutterschoß eingenäht hat (13), gemeinsam mit Eileithyia, einer weiteren griechischen Geburtsgöttin, stehen sie Euadne bei der Geburt ihres Sohnes Iamos bei (14), an einer anderen Stelle wird Eileithyia "Amtsgenossin" der Moiren genannt (15), lochiai theai "Geburtsgöttinnen" heißen sie bei Euripides (16), und in dieser Eigenschaft wirkt die Moire Klotho bei der Wiederbelebung des Pelops mit, den sein Vater geschlachtet und den Göttern zum Mahl vorgesetzt hat, um ihre Allwissenheit zu prüfen, und dessen eine Schulter von Demeter, die aus Trauer um ihre Tochter abgelenkt war, tatsächlich gegessen wurde. Die Götter warfen ihn in einen Kessel, damit er darin auf magische Weise gleichsam neu ausgebrütet werde, und Pindars Schilderung, wie Klotho den Knaben "aus dem reinen Kessel heraushob, geschmückt mit einer leuchtenden Schulter aus Elfenbein" (17), wie sie ihn sozusagen neugeboren aus der Taufe hebt, weckt die Assoziation zu einer Geburtshelferin, einer Heb-amme (18) - diese Moiren  könnten ursprünglich Baum-Numina gewesen sein, denn ihr Name lässt sich etymologisch mit zwei Baumarten in Verbindung bringen: Mor-ea hieß im Altgriechischen der Maulbeerbaum und mor-iai nannte man heilige Ölbäume. Sie sind dann wie auch Zeus, der die Sonne war, bevor er Menschengestalt annahm, zuerst Natur gewesen, die der Mensch als göttlich verehrte und fürchtete.

Verwandt mit den Moiren sind die Erinnyen, bei denen sich ebenfalls zumeist negative Assoziationen einstellen: Dass sie als Rachegöttinnen ihre Opfer mitleidlos verfolgen, ist Allgemeinbildung; weniger bekannt ist, dass sie auch segensreich wirken - Aischylos nennt als eine ihrer Aufgaben, für Fruchtbarkeit der Äcker, des Viehs und der Menschen zu sorgen:

Dass Frucht der Erde wie des Viehs, im Überfluss
Die Stadt zu segnen, nie ermatte mit der Zeit
Und Menschensamens Blüte wohlbehütet sei.       (19)

Dass auch die Erinnyen ursprünglich Bäume waren, lässt die etymologische Verwandtschaft ihres Namens mit dem des wilden Feigenbaums, erineos, vermuten. Eine Aufgabe der erinyes ist laut dem Aischylos-Zitat die - so im Original - soteria, also "Rettung, Bewahrung" des menschlichen Nachwuchses (20), was wir schon aus der Romulus-und-Remus-Sage kennen: Ein wilder Feigenbaum, erineos, bewahrt zusammen mit der Wölfin die ausgesetzten Zwillinge vor dem Tod.
Dafür, dass die Erinnyen ursprünglich kindernährende und –behütende Bäume waren, spricht auch, dass Sophokles Ölbäume, die in dem heiligen Hain zu Kolonos wachsen, „paidotroph“ nennt (21), was – wie oben festgestellt – „kindernährend, kinderaufziehend, Mutter“ bedeutet und auch ein Beiname der Waldgöttin Artemis ist. Dieser Hain, der von profanen Personen nicht betreten werden darf, ist den Erinnyen geweiht, ist ihr Aufenthaltsort, und der Gedanke liegt nahe, dass die paidotrophen Ölbäume darin, unantastbare Numina, denen kein Zweig gekrümmt werden darf, die Erinnyen selbst sind.
Weil die Erinnyen nicht nur gefürchtete Rachedämonen sind, sondern es zugleich mit Kindern gut meinen, werden sie auch Eumeniden, das heißt „die Wohlwollenden“ genannt (21a); diese Bezeichnung als Euphemismus zu erklären ist nicht notwendig.

Der Archetypus des Baumes, der es gut mit Kindern meint, hat auch Theodor Fontane zu seiner Ballade Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland inspiriert. Der preußische Gutsbesitzer von Ribbeck ist freundlich zu Kindern und schenkt ihnen freigebig Birnen, die in seinem Park reifen. Nach seinem Tod ist der neue Gutsherr, sein Sohn, zum Kummer der Kinder knausrig und "hält Park und Birnbaum strenge verwahrt", doch der alte Herr hat sterbend darum gebeten, dass ihm eine Birne mit ins Grab gelegt werde, aus der ein stattlicher Birnbaum wächst, der im Gegensatz zu seinem Sohn paidotrophos ist, weil die Seele des Verstorbenen in ihm wohnt:

Und die Jahre gehen wohl auf und ab,
Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
Und in der goldenen Herbsteszeit
Leuchtet's wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung' übern Kirchhof her,
So flüstert's im Baume: "Wiste `ne Beer?"
Und kommt ein Mädel, so flüstert's "Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew Di `ne Birn."

Der früchtetragende Baum, der in einem Garten steht, erinnert an den Mythos vom Paradiesbaum im Garten Eden, und das Motiv der Kinder, die von dem geizigen Sohn aus dem Garten ausgeschlossen werden, ist verwandt mit der biblischen Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies. Doch im Gegensatz zu Adam und Eva erwächst den Kindern in Fontanes Ballade ein neuer früchtespendender Baum und macht den Friedhof im Herbst zum Kinderparadies, was nur scheinbar ein Widerspruch ist, denn Entstehung von neuem Leben (verkörpert durch die Kinder) und Tod (symbolisiert durch Grab und Herbst) gehören ja im Kreislauf der Natur zusammen, und die Seele des Alten lebt in dem Birnbaum weiter und nährt die Kinder - dieser uralte naturreligiöse Glaube, dass ein verstorbener Mensch als Baum weiterlebt, liegt auch der Sage von Dryope zugrunde, die in einen Baum verwandelt wird; Ovid erzählt sie in seinen Metamorphosen: Mit ihrem Sohn Amphissos auf dem Arm, der an ihrer Brust saugt, geht Dryope spazieren und pflückt Blumen von einem Lotosbaum, um mit ihnen den Kleinen zu erfreuen, da tropft Blut aus den abgerissenen Blüten; Dryope hat, ohne es zu wissen, die Nymphe Lotis verletzt, die sich in diesen Baum verwandelt hat, um den Nachstellungen durch Priapos zu entgehen. Zur Strafe für diesen Baumfrevel wird Dryope selbst in einen Baum verwandelt, "ihre Hand füllte sich mit Laub: Laub bedeckte ihr Haupt über und über. Doch der Knabe Amphissos ... spürte, wie die mütterliche Brust hart wurde; und wenn er sog, folgte keine Flüssigkeit mehr" (22). Bevor auch ihr Gesicht ganz verholzt ist, ruft sie ihrer Schwester noch zu:

Hunc tamen infantem maternis demite ramis
et date nutrici nostraque sub arbore saepe
lac facitote bibat nostraque sub arbore ludat.
cumque loqui poterit, matrem facitote salutet,
et tristis dicat: 'latet hoc in stipite mater'.

Doch nehmt diesen Knaben von den mütterlichen Ästen, gebt ihn einer Amme, lasst ihn oft unter meinem Baum seine Milch trinken, oft unter meinem Baume spielen. Wenn er dann sprechen kann, lasst ihn seine Mutter begrüßen und traurig sagen: 'In diesem Stamm ist die Mutter verborgen.'

Der Baum, in den sich Dryope verwandelt hat, unterscheidet sich - so könnte man nun sagen - vom Birnbaum in Fontanes Ballade dadurch, dass er nicht paidotroph ist: Das Holz, in das sich Dryopes Mutterbrust verwandelt hat, stillt ihr Kind nicht mehr. Doch ist dieser Gegensatz nur oberflächlich: Die Sehnsucht, ihr Kind weiter zu stillen, spricht aus ihren Abschiedsworten, und das Recht, Amphissos wenigstens mütterlich schirmend Schatten zu spenden, wenn er von einer anderen Frau gestillt wird, ist ihr Ersatz für diese Sehnsucht; der Archetypus des kindernährenden Baumes gehört als unerfülltes Verlangen zur Seele dieser Geschichte, Verlangen, das vom Baum ausgeht und vom Menschen: Für Amphissos wird der Baum sein ganzes Leben hindurch ein Wesen sein, das ihn früher gestillt hat, seine Mutter - "latet hoc in stipite mater", wird er später traurig sagen. Amphissos steht für den Menschen überhaupt, zu dessen kollektivem Unbewussten der Archetypus Baum als Mutter gehört.

Wie Fontanes Ballade ist auch Ovids Dryope-Amphissos-Erzählung mit dem Mythos vom verlorenen Paradies verwandt. Die Kinder werden aus dem Garten des Gutes Ribbeck, in dem der Birnbaum steht, vertrieben. Adam und Eva werden aus dem Paradies, das voller Fruchtbäume ist (23), gewiesen. Amphissos muss zu seiner in einen Baum verwandelten Mutter auf eine gewisse Distanz gehen: Sie kann ihn noch beschirmen, aber nicht mehr stillen, was ja für jedes Kind gilt: Irgendwann muss es der Brust entwöhnt werden. So lässt sich Ovids Dryope-Amphissos-Geschichte wie das Schicksal Adams und Evas als Gleichnis für das Ende der (frühen) Kindheit verstehen: Das Kind muss erwachsen werden und hinaus aus der mütterlichen Umsorgung ins feindliche Leben treten, um dort durch eigene Anstrengung seinen Lebensunterhalt zu verdienen (24). Auslöser für die Vertreibung aus dem Paradies ist der Sündenfall. Die Menschenkinder Adam und Eva werden von Gott, ihrem Vater, aus dem Garten Eden gewiesen, nachdem sie die verbotene Frucht vom mütterlichen Baum gepflückt und gekostet haben: den Apfel (25), ein Sexualsymbol. Die (laut Freud schon in der Kindheit) erwachende Sexualität des Sohnes richtet sich auf seine Mutter, deshalb muss er auf Distanz zu ihr und hinaus ins feindliche Leben gehen, um sich dort anderen Frauen zuzuwenden, damit er nicht inzestuös auf seine Mutter fixiert zum Muttersöhnchen wird. Diese Gefahr droht auch Amphissos, denn seine Mutter pflückt ihm Blüten, flores, von einem verbotenen Baum, die Blume oder Blüte Pflücken aber ist ein uraltes archetypisches Symbol für Entjungferung (da seine Mutter ja keine Jungfrau mehr ist, ist damit die Gefahr gemeint, dass Amphissos durch inzestuöse Fixierung auf seine Mutter seine Unschuld verliert). Die Blüten des Lotosbaumes (26) sind wie die verbotene Frucht in der Bibel Symbol sexueller Verführung. Durch die Verwandlung seiner Mutter in einen Baum wird diese Gefahr abgewendet: Er kann nicht mehr ihre Milch saugen, sondern muss diese Befriedigung bei einer anderen Frau, einer Amme, finden, sein (allmähliches) Erwachsenwerden wird eingeleitet.

Die Abnabelung von der Mutter, also die Vertreibung aus dem Kindheitsparadies, haben wir jetzt ontogenetisch, das heißt als notwendigen Entwicklungsschritt im Leben eines einzelnen Menschen behandelt. Der biblische Sündenfall-Mythos und Ovids Dryope-Amphissos-Geschichte lassen sich aber auch phylogenetisch (27) deuten: Als Erwachsenwerden der Menschheit, wozu sie aus ihrem Kindheitsparadies, nämlich dem Entwicklungsstadium des Naturzustandes, vertrieben werden musste. Dass unsere Affenvorfahren - und weitgehend auch der Urmensch - mehr oder weniger auf Bäumen lebten, deren Früchte sie nährten und die ihnen Zuflucht vor wilden Tieren (und der Sonnenhitze) boten, dass die Menschheit in der Frühzeit ihrer Entwicklung Bäume als mütterliche Wesen erlebte und dass die archetypische Vorstellung Baum als Mutter eine phylogenetische Erinnerung an diese Frühzeit ist, haben wir einleitend festgestellt. Um sich aber kulturell höher zu entwickeln, musste der Mensch seine Unschuld gegenüber den Bäumen - wie gegenüber der gesamten Natur - aufgeben. Er rodete Wälder, um Ackerland zu gewinnen oder um das Holz als Baumaterial für Geräte, Brücken, Häuser, Schiffe zu benutzen. Statt in Harmonie mit den Bäumen zu leben, tritt er ihnen als Ausbeuter und Zerstörer gegenüber und treibt Raubbau wie Adam und Eva, die sich nicht mit dem begnügen, was zu pflücken ihnen erlaubt ist, sondern auch vor dem verbotenen Baum nicht haltmachen. Zu Recht fürchtet Dryope, die als Baum weiterleben muss, von den Menschen, die ihre Unschuld gegenüber den Bäumen abgelegt haben (und zu denen sie auch gehörte), Übergriffe, so dass sie mit ihren Abschiedsworten ihre Verwandten beschwört:

care vale coniunx et tu, germana, paterque,
qui, siqua est pietas, ab acutae vulnere falcis,
a pecoris morsu frondes defendite nostras.

Leb wohl, lieber Mann, lebt wohl, Schwester und Vater!
Schützt - bei eurer Liebe! - mein Laub vor Verwundung
durch das scharfe Gartenmesser und vor den Bissen des Viehs.
                                       (Übersetzung: M. von Albrecht)

Die pietas ihrer Verwandten, an die Dryope appelliert, ist hier ein Schlüsselbegriff. Pietas kann "Frömmigkeit" bedeuten (28), wie auch "zärtliche Liebe/Anhänglichkeit unter Verwandten" und insbesondere "kindliche Liebe zu Vater und Mutter" (29), bezeichnet also eine von Verehrung, Scheu und vor allem Liebe geprägte Haltung gegenüber Göttern wie auch Menschen - wie übersetzt man es an dieser Ovid-Stelle richtig? "Frömmigkeit" wäre nicht falsch, da pietas hier auch religiösen Sinn hat, denn es geht um Baumkult; Ovid will mit diesem Mythos erklären, warum Bäume für Menschen heilig-unantastbar sein sollen. Aber auch "Liebe" (unter Verwandten, insbesondere des Kindes zur Mutter) - wie Michael von Albrecht übersetzt, ist richtig: Der Mensch, der Hand an einen Baum legt, verletzt ein ihm verwandtes Wesen, denn archetypisch ist ja der Glaube, ein Mensch sei von einem Baum geboren und lebe nach seinem Tod als Baum weiter. Pietas hat hier beide Bedeutungen, was auch religionsgeschichtlich aufschlussreich ist: Der Frühmensch hat Bäume als mütterliche Wesen erlebt - das wirkt im Baumkult weiter. Und: Der Mensch, der an den mütterlichen Bäumen Raubbau treibt, sie verletzt oder gar fällt, überschreitet eine Grenze wie ein Sohn, der seiner Mutter zu nahe tritt; zu den Wurzeln jeder Religion gehört das Inzestverbot.  Zusammen mit dem Bewusstsein, das dem Menschen erlaubte, sich von der Natur zu emanzipieren und sie sich zu unterwerfen und sie auszubeuten, müssen sich seine schlechten Charaktereigenschaften entwickelt haben, die ihn von den Tieren unterscheiden, vor allem Gier nach Macht und Verwöhnung, die ihn zu einer inzestuösen, parasitären Beziehung zu seiner Mutter und zugleich zu rücksichtslosem Raubbau an der Natur treibt; für archetypisches Empfinden sind deshalb Übergriffe des Menschen auf die Natur und des Menschenkindes auf seine Mutter verwandt: Aus diesem Grund soll der heranwachsende Amphissos "keine Blüten vom Baum pflücken und alle Sträucher für den Leib von Göttinnen halten" - so mahnt seine sich verwandelnde Mutter.

Dieser Baumfrevel als Inbegriff der menschlichen Verdorbenheit ist durch die Vertreibung aus dem Paradies jedoch noch nicht abgebüßt. Erst Christi Kreuzigung macht die Strafe vollständig, wobei für viele - vielleicht die meisten - Christen der Antike und des Mittelalters die Strafe am Kreuz, das ja aus Holz ist, am "Marterholz", also an einem Baum, als Wiedergutmachung für Adam und Evas Übergriff auf einen Baum ihren guten Sinn hat; verknüpft wird der Baumfrevel im Paradies mit Qualen und Tod Christi am Holz zum Beispiel in einer Erzählung der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, des beliebtesten christlichen Legendenbuches im Mittelalter, die das Marterholz des Heilands vom Paradiesbaum, an dem sich Adam vergangen hat, abstammen lässt:

Man liest aber in dem Evangelium Nicodemi: Als Adam krank war, ging sein Sohn Seth an das Tor des irdischen Paradieses und begehrte Öl vom Baume des Mitleidens, daß er den Leib seines Vaters Adam damit salbe und ihn gesund mache. Da erschien ihm der Erzengel Michael und sprach "Trachte nicht das Öl vom Baume des Mitleidens zu erhalten und weine nicht darum, denn das mag dir nicht werden ehe denn vergangen sind fünftausend und fünfhundert Jahr".


Strafe am Holz:

Carlo Braccesco (1478-1501):
Das Martyrium
des Apostels
Andreas


...
In einer griechischen Geschichte, die aber apocryph ist, findet man, daß der Engel dem Seth von dem Holze gab, daran Adam gesündigt hatte, und sprach "Wann dieser Zweig Frucht bringt, so soll dein Vater gesund werden". Da nun Seth heim kam, war sein Vater schon gestorben; da pflanzte er den Zweig auf sein Grab, und der Zweig wuchs und ward ein großer Baum, und dauerte bis zu Salomonis Zeiten. Ob dieses aber wahr sei oder nicht, lassen wir bei des Lesers Urteil, denn in keiner bewähnen Historie oder Chronik finden wir es geschrieben. Da nun Salomo ansah, wie schön der Baum war, ließ er ihn abhauen und gab ihn zum Bau des Waldhauses. Doch fügte sich das Holz an keine Statt des Hauses, wie uns Johannes Beleth schreibt, denn es war allezeit zu lang oder zu kurz; denn so man es nach richtigem Maß hatte gekürzt für eine Statt, so war es dann also kurz, daß es sich nimmer darein fügete. Darob ergrimmten die Bauleute und verwarfen das Holz; und legten es über einen See, daß es ein Steg sei denen, die hinüber wollten. Da aber die Königin von Saba von Salomonis Weisheit hatte gehört und zu ihm wollte fahren über den See, da sah sie im Geist, daß der Welt Heiland dereinst an diesem Holze sollte hangen; darum wollte sie über das Holz nicht gehen, sondern kniete nieder und betete es an. In der Historia Scholastica aber heißt es, daß die Königin von Saba das Holz in dem Waldhause sah, und da sie wieder heimkehrte in ihr Land, entbot sie dem Salomo, daß an jenem Holze einer hangen würde, durch des Tod der Juden Reich sollte verderbt werden. Darum nahm Salomo das Holz und ließ es tief in den Schoß der Erde vergraben. Über derselben Statt ward nach langer Zeit der Schafteich gemacht, darin die Nathinäer die Opfertiere wuschen; und also geschah die Bewegung des Wassers und die Heilung der Kranken nicht allein durch die Ankunft des Engels, sondern auch durch die Kraft des Holzes. Da nun nahete das Leiden Christi, da schwamm das Holz empor; als das die Juden sahen, nahmen sie es und bereiteten davon das Kreuz des Herrn. Man sagt auch, das Kreuz Christi sei von vierlei Holze gewesen: von Palmen, Cypressen, Oliven und Cedern. Davon hat man den Vers "Ligna crucis palma, cedrus, cypressus, oliva".                                                        (30)

Die Zusammenschau des biblischen Paradieses, dessen fruchttragende Bäume fast alle Gottes Kindern Nahrung spenden, mit der Strafe am Marterholz offenbart eine Vorstellung vom Baum, die mit derjenigen verwandt ist, die sich aus der Zurückführung der Erinnyen auf den erineos, den wilden Feigenbaum, und der Moiren auf morea, den Maulbeerbaum, und moria, den heiligen Ölbaum, ergibt: Bäume sind ambivalente Numina, den Menschen wohlgesonnen, paidotroph, und zugleich Strafe und Tod bringend.

Christus, der für die Sünden der Menschheit starb, lässt sich als Menschenopfer deuten, das in uralter Tradition einer erzürnten Gottheit dargebracht wurde, um sie zu versöhnen. Göttlich war aber in ältesten Zeiten die gesamte Natur, und den Menschen, der sich zum Herren über sie aufschwang und ihr als Zerstörer gegenübertrat, quälte ein archaisches Schuldgefühl, das sich ursprünglich nur durch Menschenopfer beschwichtigen ließ. Setzt sich der Mensch zum Beispiel über eine naturgegebene Grenze hinweg, indem er eine Brücke über einen Fluss schlägt, muss er den Flussgott durch Menschenopfer besänftigen (31). Greift er in die Natur ein, indem er ein Haus oder eine Befestigung errichtet, ist dafür ein Bauopfer fällig (32). Zu den folgenreichsten Eingriffen des Menschen in die Natur gehört das Abholzen von Bäumen, um Ackerland (oder Baumaterial) zu gewinnen. Um das archaische Gewissen zu beruhigen, ließ man in ältesten Zeiten von einem gerodeten Wald wenigstens einen Teil stehen, den man zum heiligen Hain erklärte, dessen Bäumen kein Zweig gekrümmt werden durfte und in dem oft Menschen geopfert wurden, um die Urschuld abzutragen und die Naturnumina zu beschwichtigen (33). Oder erklärte von Bäumen, deren Früchte man rücksichtslos aberntete, wenigstens einige für heilig und tastete sie nicht an wie zum Beispiel den Baum der Erkenntnis im Paradies (vor dem dann menschliche Gier doch nicht haltmachte). Oder gelobte, wenn man auf die Jagd ging, der Göttin des Waldes Artemis einen Teil der Beute als Opfer zu überlassen, denn auch die Tiere gehören zum Wald (33a). Da Bäume es waren, an denen man sich versündigte, wurde ein Mensch dem Wald gleichsam als Wiedergutmachung zurückgegeben, indem man ihn an einem Baum befestigte. Das dürfte der Sinn des germanischen Brauchs gewesen sein, Menschen als Opfer an Bäume zu nageln (34). Auch durch Ausdärmen, eine uralte Strafe für Baumfrevel, die sich weit in christliche Zeit hinein hielt, befestigte man den Schuldigen an dem beschädigten Baum zur Wiedergutmachung (35). In diese Tradition gehört auch das Annageln und Foltern Christi an das Marterholz als Strafe für den Raubbau am Wald, der mit Adam begann.     
Auch die Hinrichtungsart des Hängens - meistens an einen Baum oder an einen Holzgalgen - wurzelt im Menschenopfer. Karl Bruno Leder führt dazu in seinem fundierten Werk über die Todesstrafe aus:

Das hohe Alter des Hängens als Hinrichtungsart ist unstreitig. Ganz ohne Zweifel stammt es noch aus der Zeit der Menschenopfer und hat alte Opferrituale bis in die Gegenwart beibehalten.
Der Gehängte war ursprünglich dem Sturmgott und dessen Dämonen, im Norden dem Gott Wotan und seinem wilden Heer geweiht. Ihnen gehörten Körper und Seele des Gehängten. Daher war es bis in die Neuzeit verboten, den Toten vom Galgen zu nehmen. Er musste hängen, bis sich sein Körper (ebenso wie der des Gekreuzigten) von selbst auflöste und in Einzelteilen herabfiel. Dann erst durften die Henkersknechte die Relikte unter dem Galgen verscharren. In den alten Urteilssprüchen hieß es, der Verurteilte solle "den Vögeln übergeben werden". "Man hänge ihn für den Wind hin", damit er "am Galgen reite", womit das Baumeln des Gehängten im Winde gemeint war.
Der Sturmgott Wotan, als einäugiger Gott auch Verkörperung der Sonne, jagte als Wilder Jäger mit seinen Dämonen im Sturmesbrausen über die Wälder dahin. ... Raben und Wölfe waren Wotans heilige Tiere; die Raben galten als seine Boten. Wenn also Raben sich auf den Gehängten setzten und zu picken begannen, so war dies ein glücksverheißendes Zeichen: Der Gott hat das Opfer angenommen, er war den Opfernden gnädig gesonnen.   (36)

Karl Bruno Leders Deutung, der Gehängte werde den Naturelementen als Opfer übergeben, stimmen wir zu, aber ergänzen: Nicht nur den Naturelementen Wind, Sturm, Sonne, bei den Germanen verkörpert durch Wotan und seine Raben, wird der Hingerichtete übergeben, sondern auch dem Baum, an dem er aufgehängt wird. Zur Wiedergutmachung der menschlichen Urschuld der Waldvernichtung durch Roden. 
In diesen Zusammenhang dürfte auch eine antike Hinrichtungsart gehören, bei der zwei Baumwipfel so zum Boden niedergebeugt wurden, dass man den Verurteilten an ihnen beiden festbinden konnte. Ließ man sie wieder hochschnellen, zerrissen sie ihn. Der Schuldige wurde gleichsam den Bäumen zur Tötung ausgeliefert, und wer ihn zu dieser Art der Todesstrafe verurteilte, fühlte sich in seinem Unterbewusstsein im Einklang mit der Natur, deren Willen er vollstreckte. Alexander der Große ließ so den Hochverräter und Königsmörder Bessos hinrichten (36a) und der römische Kaiser Aurelian einen Ehebrecher (36b). Auch die griechische Sagengestalt Sinis tötete auf diese Weise auf dem Isthmos, der korinthischen Landenge, Reisende, bis er an den Helden Theseus geriet, der ihn besiegte. Dass Sinis die „Touristen“ im Auftrag der Natur tötete, in deren Machtbereich sie eindrangen, lässt sich aus dem deuten, was Plutarch über Theseus‘ Verhalten gleich nach Sinis‘ Tod berichtet:

Sinis hatte eine sehr schöne und große Tochter namens Perigune. Diese war geflohen, als ihr Vater getötet wurde, und nun ging Theseus umher und suchte sie. Sie barg sich an einem Ort, der dicht mit allerlei Gebüsch und Spargelkraut bewachsen war, und gelobte ganz einfältig und kindlich diesen Pflanzen, als ob sie es verstehen könnten, mit hohen Schwüren, wenn sie sie retteten und versteckten, so würde sie sie niemals verletzen noch verbrennen. Da aber Theseus sie hervorrief und ihr das heilige Versprechen gab, er werde wohl für sie sorgen und ihr nichts zuleide tun, kam sie hervor, verband sich mit Theseus und gebar den Melanippos, und später gab Theseus sie dem Deioneus, dem Sohne des Eurytos von Oichalia, zum Weibe. Von Melanippos, dem Sohne des Theseus, entstammte dann Ioxos, der gemeinsam mit Ornytos die Kolonie in Karien gründete. Daher wurde es bei den Nachkommen des Ioxos zum heiligen Brauch, Spargelkraut und ähnliches Gesträuch nicht zu verbrennen, sondern hochzuhalten und zu ehren. (36c)

Perigune, die mit den Pflanzen spricht und sich zwischen ihnen versteckt wie ein Tier der Wildnis, verhält sich zu ihnen wie zu ihresgleichen, wie zu Mitgeschöpfen, zu Geschwistern; sie ist ein Naturkind, Teil der Natur und ihre Personifizierung, und da Sinis ihr Vater, also ihr Beschützer ist, kann man in ihm den genius loci, den Schutzdämon dieses Bereichs der Natur sehen. Theseus ist der Eindringling, der die Natur, verkörpert durch Perigune, ihres Schutzes beraubt,  vergewaltigt und seiner Herrschaft unterwirft (36d). Und dass Kolonisten „Spargelkraut und ähnliches Gebüsch“, also Perigunes Geschwister, mit Respekt behandelten, hat als rituelle Wiedergutmachung das archaische Schuldgefühl, das der Mensch gegenüber der Natur hat, beschwichtigt (36e).  Unsere Beispiele für Baumkult durch Menschenopfer stammen fast alle aus vorchristlicher Zeit – doch wir behaupten: Auch für Christen, die sich einbildeten, die heidnische Naturreligion mit ihren Menschenopfern überwunden zu haben, war es in ihrem Unterbewusstsein zugleich Baumkult, wenn sie - zum Beispiel im Dreißigjährigen Krieg oder später - Verbrecher oder Feinde an Bäumen oder Holzgalgen aufknüpften. Tief in ihrer Seele lebte noch das archaische Schuldgefühl und wurde durch solch eine Hinrichtung beschwichtigt.

Und es lebt noch heute: Die archetypische Vorstellung vom Baum als Erinys, als strafende todbringende Naturgottheit, ist auch im 20. Jahrhundert noch nicht ausgestorben, sondern spricht gerne aus Autoren, die sich zur Aufklärung und zur progressiven Linken zählen. So malt Bert Brecht in seiner Ballade Von des Cortez Leuten aus, wie ein Trupp rücksichtsloser, von Gier getriebener spanischer Eroberer vom Wald verschlungen wird. Die Neue Welt entdeckt, ihre Natur unterworfen und ausgebeutet und ihre Bewohner, die im Einklang mit der Natur lebten, ausgerottet und korrumpiert zu haben, gehört zu den Sünden des weißen Mannes, die ihn bis heute mit Gewissensbissen quälen. Dieses Schuldgefühl sorgte zum Beispiel in Westdeutschland dafür, dass durch die Neue Linke - von den 68ern zu den GRÜNEN - sich konservatives Naturschutzpathos und militanter Antiimperialismus (dessen Gipfel die RAF war) in ihrer natürlichen Zusammengehörigkeit verwirklichten: als Parteiergreifung für Bäume, auch für die entlaubten Bäume in Vietnam (37), für die geschundene Natur überhaupt und naturnahe Menschen wie Indianer oder Schwarze (38). Brechts Ballade gehört in diese Tradition. Auch wenn sie keine Eingeborenen, sondern nur die Natur und vor allem Bäume als - zurückschlagendes - Angriffsobjekt nennt, so sind dem gebildeten linken Leser die südamerikanischen Indianer als Cortez' Opfer selbstverständlich präsent.

Verwandt mit Brechts Ballade ist eine kurze Erzählung von Anna Seghers, Der Baum des Ritters:

Holzfäller in den Argonnen fanden kürzlich, als sie die Axt an einen uralten Baumschlag legten, in einer hohlen Buche einen Ritter in voller Rüstung, kenntlich an seinem Wappen als einen Gefolgsmann Karls des Kühnen von Burgund. Dieser Ritter hatte sich auf der Flucht vor den Soldaten König Ludwigs des Elften in seiner Todesangst in den Baum gezwängt. Nach dem Abzug seiner Verfolger hatte er nicht mehr herausgefunden und war elend zugrunde gegangen in seiner Zuflucht. Aber der Baum, damals schon alt und mächtig, rauschte und grünte weiter, während der Ritter in ihm keuchte, weinte, betete, starb. Stark und makellos, bis auf die schmale, von dem Toten besetzte Höhlung, wuchs er weiter, setzte Ringe an, breitete sein Geäst, beherbergte Generationen von Vogelschwärmen, und er wäre noch weiter gewachsen, wenn die Holzfäller nicht gekommen wären.

Wie die griechischen Erinnyen ist diese Buche todbringend und zugleich lebenbewahrend, eumenes. Ihr Stamm wird dem Ritter zum Grab, während ihr Wipfel ein Vogelparadies ist. Vögel sind unschuldige Naturwesen. Ihnen bietet der Baum mütterlich Wohnung und Schutz. Der Ritter ist ein feudaler Krieger, Raub und Mord sind sein Handwerk. Ihm bringt der Baum den Tod, dessen Schauplatz - wie Franz Quilitzsch feststellt - symbolisch ist: "...die Vermutung drängt sich auf, dass Anna Seghers den Ort des Fundes - die Argonnen, in der Nähe liegt Verdun! - zum Zeitpunkt der Expansionsbestrebungen Hitlers bewusst gewählt hat. Am 10. Mai 1940 begann das faschistische Deutschland mit dem Überfall auf Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich" (38a). Der Ritter steht für die deutschen Soldaten, die fremde Länder überfallen (und für die Autorin, die als emigrierte Jüdin in Paris lebte, auch eine persönliche Bedrohung waren). Ihnen wünscht die Erzählung einen archetypischen Baum-Tod, wie ihn auch die spanischen Imperialisten unter Cortez' Führung in Brechts Ballade erleiden. "Krieg, Vernichtung und Völkermord" werden als "etwas Wider-Natürliches" (38b) von der Natur selbst bestraft. Bert Brecht und Anna Seghers sind beide Kommunisten, die sich selbst sicher als aufgeklärte Materialisten definierten; dennoch hat uralter Baumkult sie inspiriert.

Bäume als Rächer prägen auch Shakespeares Macbeth: Als Form ursprünglichen Baumkults haben wir erwähnt, dass der Mensch - wenigstens symbolisch - auf uneingeschränkte Ausbeutung des Waldes, auf Raubbau, verzichtet, indem er von einem Wald, den er rodet, einen kleinen Teil stehen lässt und als heiligen Hain verehrt, oder indem er einen kleinen Teil von Baumfrüchten nicht aberntet, wofür ein Beispiel der biblische Baum der Erkenntnis ist, dessen Früchte für den Menschen tabu sein sollen. Oder indem ein Jäger einen Teil seiner Beute Artemis als der Verkörperung der vom Menschen unbezwungenen Natur opfert. Dass der Mensch seine Gier zügelt und wenigstens auf einen Teil von Baumfrüchten verzichtet, fordert in Macbeth in I,3 eine der Weird Sisters von der Frau eines Seemanns, die große Mengen Esskastanien verschlingt und nicht bereit ist, einige davon zu opfern. Zur Strafe sucht die Weird Sister in Sippenhaft ihren Gatten heim, den die menschliche Gier nach Bereicherung auf einem Handelsschiff übers Meer - Parallele zu Des Cortez Leute! - in Richtung Aleppo treibt. Die Weird Sisters als Naturnumina und Schicksalsgöttinnen gelten nicht nur wegen ihrer Dreizahl als verwandt mit den germanischen Nornen, den römischen Parzen und den griechischen Moiren (39) und diese letzteren hängen - wie schon festgestellt - etymologisch mit den moirai, den heiligen Ölbäumen, zusammen, worauf wir unter anderem unsere These stützen, dass Naturnumina wie die Erinnyen oder Moiren ursprünglich Bäume waren; auch die Weird Sister, die den gierigen Konsum von Baumfrüchten rächt, kann man sich als Baumseele vorstellen. Bäume als Rächer menschlicher Gier, nämlich Machtgier, haben in Macbeth ihren großen Auftritt im letzten Akt, als Macbeth den Birnam wood gegen sich ziehen glaubt - die Episode mit den Kastanien ist Vorspiel dazu.
Zum Archetypus Baum gehört die Vorstellung, dass ein Mensch nach seinem Tod als Baum weiterlebt; als Beispiele haben wir Myrrha, Lotis, Dryope und Herrn von Ribbeck angeführt. Dieser Archetypus ist auch in Macbeth' Seele lebendig, denn als ihm in IV,1 die Weird Sisters prophezeien, keiner werde ihn besiegen, solange nicht der Wald von Birnam gegen ihn ziehe, ruft er aus:

                            That will never be:
Who can impress the forest; bid the tree
Unfix his earth-bound root? Sweet bodements! good!
Rebellious dead, rise never, till the wood
Of Birnam rise

Er verknüpft also unbewusst die von ihm Ermordeten mit den Bäumen. Die Toten werden nicht gegen ihn aufbrechen, da ja auch die Bäume sich nicht in Bewegung setzen können - so versucht er, sich selbst die Angst, die seine Schuldgefühle ihm erzeugen, auszureden. Doch sein schlechtes Gewissen, das vorher schon den von ihm ermordeten Banquo wieder auftauchen und sich an seine Tafel setzen lässt, schickt im letzten Akt in seiner Vorstellung seine Opfer als Bäume gegen ihn. Archaisch-archetypisches Schuldgefühl und persönliche Schuld wirken hier zusammen, und er entgegnet dem Boten, der ihm von dem marschierenden Wald berichtet:

                 If thou speakest false,
Upon the next tree shalt thou hang alive,
Till famine cling thee: if thy speech be sooth,
I care not if thou dost for me as much.

Auch hier spricht das schlechte Gewissen aus ihm. Er bezeichnet sich selbst als jemanden, der die Todesstrafe verdient, und dass ihm als Hinrichtungsart Aufhängen an einem Baum vorschwebt, ist kein Zufall: Diese archaische Tötungsart wurzelt - wie schon festgestellt - im Menschenopfer: Ein Missetäter wird dem Wesen, dem er etwas Böses getan hat, zur Wiedergutmachung als Opfer übergeben.

Unschuldig Ermordete nehmen als Bäume Rache an den Schuldigen - an diese archetypische, also allen Menschen angeborene Vorstellung wendet sich auch Brechts Ballade Von des Cortez Leuten. Dass der linke Autor zwar die Gewalt schildert, die von den weißen Eroberern den Bäumen - und überhaupt der Natur - angetan wird, aber die Erwartung des antiimperialistischen Lesers enttäuscht, weil er mit keinem Wort das Unrecht anprangert, das den Eingeborenen geschah, ist nur scheinbar ein Widerspruch. Jedes gute Werk der Dichtkunst hat wie die menschliche Seele ein Unterbewusstsein, und in dieser Tiefenschicht sind es die geschundenen und ermordeten Ureinwohner, die als Bäume für Gerechtigkeit sorgen (40).

Ein Rachebaum, Erinys, ist auch die Judenbuche, die einer Novelle der Annette von Droste-Hülshoff den Namen gibt. Die Hauptfigur Friedrich Mergel ist des Mordes an dem Juden Aaron verdächtig, dessen Glaubensgenossen in eine stattliche Buche auf hebräisch den Spruch einritzen: „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.“ Diese Buche gleicht einem heiligen Baum. Denn wie die alten Griechen und Römer von Gier getrieben zur Gewinnung von zusätzlichem Ackerland oder Material für den Bau von Kriegs- und Handelsschiffen ganze Wälder rodeten und ihr archaisches Gewissen beschwichtigten, indem sie einen oder mehrere Bäume stehen ließen und als heiligen Baum oder Hain verehrten, so kaufen die Juden diese Buche von den Rodungen los, denen im Zuge der Industrialisierung ganze Wälder in Westfalen erlagen. Von dem verschonten Baum geht eine magische Wirkung aus, die den Schuldigen veranlasst, sich an ihm zu erhängen.

Um einen Menschen, der den Tod im Wald findet und an einem Baum aufgehängt wird, geht es auch in einer von den Brüdern Grimm überlieferten Sage: Der Judenstein (Deutsche Sagen I, 353):

Im Jahre 1462 ist es zu Tirol im Dorfe Rinn geschehen, daß etliche Juden einen armen Bauer durch eine große Menge Geld dahin brachten, ihnen sein kleines Kind hinzugeben. Sie nahmen es mit hinaus in den Wald und marterten es dort auf einem großen Stein, seitdem der Judenstein genannt, auf die entsetzlichste Weise zu Tod. Den zerstochenen Leichnam hingen sie darnach an einen unfern einer Brücke stehenden Birkenbaum. Die Mutter des Kindes arbeitete gerade im Feld, als der Mord geschah; auf einmal kamen ihr Gedanken an ihr Kind, und ihr wurde, ohne daß sie wußte warum, so angst; indem fielen auch drei frische Blutstropfen nacheinander auf ihre Hand. Voll Herzensbangigkeit eilte sie heim und begehrte nach ihrem Kind. Der Mann zog sie in die Kammer, gestand, was er getan, und wollte ihr nun das schöne Geld zeigen, das sie aus aller Armut befreie, aber es war all in Laub verwandelt. Da ward der Vater wahnsinnig und grämte sich tot, aber die Mutter ging aus und suchte ihr Kindlein, und als sie es an dem Baum hängend gefunden, nahm sie es unter heißen Tränen herab und trug es in die Kirche nach Rinn. Noch jetzt liegt es dort und wird vom Volk als ein heiliges Kind betrachtet. Auch der Judenstein ist dorthin gebracht. Der Sage nach hieb ein Hirt den Baum ab, an dem das Kindlein gehangen, aber als er ihn nach Haus tragen wollte, brach er ein Bein und mußte daran sterben.

Der Sage liegt eine antisemitische Ritualmordlegende zugrunde. Juden sollen ein Kind, Andreas (Anderl) von Rinn, gemartert und getötet haben. Solche Ritualmorde wurden den Juden von den Christen seit dem Hochmittelalter angedichtet und dienten auch als Anlass für Pogrome. Aus psychoanalytischer Sicht handelt es sich um Projektion. Die Christen schrieben etwas, das sie selbst gerne getan hätten, aber verdrängen mussten, weil ihre eigene Religion es ihnen verbietet, den Juden zu und hassten und bestraften sie dafür, wodurch sie sich selbst entlasteten. Was war das für ein verdrängter Wunsch, den die Christen auf die Juden projizierten? In der Sage Der Judenstein lässt sich unschwer ein heidnisches Menschenopfer erkennen. Ein Kind wird gemartert, also für etwas bestraft, und der Natur, die der Birkenbaum repräsentiert, als Opfer dargebracht. Und worin bestand die Schuld, die den Christen seit dem Hochmittelalter so drückende Gewissensbisse bereitet haben musste, dass sie sie gerne durch Menschenopfer beschwichtigt hätten, aber nicht durften, weil ihre Religion es als heidnisch verpönte? Es mussten archaische Schuldgefühle des Menschen gegenüber der Natur gewesen sein, zum Beispiel, weil er Wälder rodete. Das Hochmittelalter unterscheidet sich vom Frühmittelalter durch technische Neuerungen, die intensivere Ausbeutung der Umwelt ermöglichten, und durch Bevölkerungsanstieg, der zu vermehrter Urbarmachung von Wäldern führte, um der Natur Lebensraum abzuringen. Kein Zufall dürfte es sein, dass es im Frühmittelalter noch keinen Antisemitismus und keine Ritualmordvorwürfe gab (41). Seit Beginn des Hochmittelalters aber waren die Juden Sündenböcke. Sie machen in der Judenstein-Sage, was die Christen gerne täten: das archaische Schuldgefühl, das aus Unterwerfung und Zerstörung der Natur und insbesondere aus Waldvernichtung herrührt, durch Menschenopfer beschwichtigen.  Deshalb ist ein Wald der Bereich, in den die Juden das Kind zur Marterung und Tötung bringen wie früher die Germanen einen Menschen in einen heiligen Hain brachten und dort opferten (42) - das Kind wird dem Wald dargebracht, ihm übergeben, indem es an einem seiner Bäume aufgehängt wird.
Für das christliche Verbot des Menschenopfers steht die Geschichte von Abraham und Isaak im Alten Testament. Gott befiehlt Abraham, ihm seinen Sohn Isaak zu opfern, begnügt sich dann aber mit Abrahams Gehorsam, seiner Bereitschaft zur Tötung seines Kindes und lässt das Menschenopfer durch ein Tieropfer ersetzen - ein Stück barbarischer Grausamkeit der Naturreligion wird überwunden. Auch in der Judenstein-Sage ist der Vater zum Verzicht auf seinen leiblichen Sohn bereit, bringt ihn aber nicht selbst in den Wald und tötet ihn dort - das machen die Juden, denen der Rückfall in naturreligiöse Barbarei angelastet wird. Was die heidnischen Vorfahren christlicher abendländischer Bauern taten, ist abgespalten und auf die Juden projiziert. 
Aufschlussreich ist auch der letzte Satz der Sage:

Der Sage nach hieb ein Hirt den Baum ab, an dem das Kindlein gehangen, aber als er ihn nach Haus tragen wollte, brach er ein Bein und mußte daran sterben.

Ein christlicher Mitmensch des getöteten Kindes richtet seine Aggression gegen den Baum, an den es als Opfer gefallen war, und wiederholt aus Rache, als Gegenschlag gegen den Wald, die Ursünde des Fällens, wofür er bestraft wird - naturreligiöses Empfinden ließ sich von den christlichen Missionaren, die Verachtung der Natur predigten und heilige Eichen fällten, nicht ganz ausrotten, sondern ist in einer Tiefenschicht der deutschen Seele lebendig geblieben und inspirierte die mittelalterlichen Menschen zu solchen Sagen.

Das Menschenopfer, das die aufgebrachte Natur beschwichtigen soll, wird also bevorzugt an einem Baum befestigt (mit einem Strick, mit Nägeln wie Christus oder mit dem eigenen Darm (43)) und stirbt so, dem Wald dargebracht. Dieser Tod am Baum (44) droht auch Walter Tell in der berühmten Apfelschuss-Szene in Schillers Schauspiel Wilhelm Tell, als Geßler den Vater zwingt, auf den Apfel auf dem Kopf seines Kindes, das am Stamm einer Linde steht, zu schießen. Ginge der Schuss fehl, könnte der Pfeil Walters Kopf, Brust oder Herz durchbohren und ihn so an das Holz heften und töten. Es fragt sich also, ob Wilhelm Tell und seine Schweizer Landsleute sich gegenüber der Natur und besonders gegenüber Bäumen versündigt haben, so dass er zur Beinahe-Opferung seines Sohnes gezwungen wird und die inneren Qualen Abrahams erleiden muss, der sich auf Gottes Befehl anschickte, seinen Sohn Isaak zu opfern.
Um solche Übergriffe auf die Natur geht es im Drama in der Tat. So hat Tells Landsmann, der aufsässige Baumgarten, einen Burgvogt erschlagen, der seiner Frau zu nahe treten wollte, und zwar gerade dann, als Baumgarten von zu Hause abwesend war, weil er "Holz gefällt im Wald"  (Zeile 90) hatte. Interpetiere ich etwas hinein, wenn ich behaupte: In der Gestalt des Burgvogts, der die Frau schänden wollte, schlug die Natur, der Baumgarten mit der Axt zu Leibe rückte, zurück? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Als Baumgarten den Vierwaldstättersee überqueren will, um sich vor Geßlers Leuten in Sicherheit zu bringen, scheint dieses Gewässer, das als Naturelement wie Bäume beseelt gedacht wird, sich der Rettung zu widersetzen:

                     Seht hin,
Wie's brandet, wie es wogt und Wirbel zieht
Und alle Wasser aufrührt in der Tiefe.
- Ich wollte gern den Biedermann erretten,
Doch es ist rein unmöglich, Ihr seht selbst.     115ff.

So Ruodi, der als Fährmann und Fischer den See kennt. Als Teil der beleidigten Natur will der Vierwaldstättersee Baumgartens Rettung vereiteln.
Auch Tell, der als Retter auf der Bühne erscheint und Baumgarten übersetzen will, äußert sich, als ob der See lebendig ist - ein Numen, das im Zorn vernichten, aber auch in Gnade verschonen kann:

Der See kann sich, der Landvogt nicht erbarmen,
Versuch es, Fährmann!                                143f.

Doch Ruodi rechtfertigt sich:

Und wär's mein Bruder und mein leiblich Kind,
Es kann nicht sein, 's ist heut Simons und Judä,
Da rast der See und will sein Opfer haben.         145ff.

Aus seinen Worten spricht vorchristliche, naturfromme Scheu: Naturelemente wie Wälder, Flüsse, Seen fordern Menschenopfer.
Ein See (samt Hütte und Fährmann), der den Menschen aufhalten will, begegnet im Drama auch an einer anderen Stelle, in der Überlieferung von der Landnahme der Schweizer, die aus dem Flachland in die von Menschenhand noch wenig bis gar nicht berührte Bergwelt ziehen. Ein See bietet ihnen zunächst Einhalt, wird aber später von ihnen zu weiterem Vordringen in die urweltliche Natur überquert:

Und eher nicht ermüdete der Zug,
Bis dass sie kamen in das wilde Tal,
Wo jetzt die Muotta zwischen Wiesen rinnt -
Nicht Menschenspuren waren hier zu sehen,
Nur eine Hütte stand am Ufer einsam,
Da saß ein Mann und wartete der Fähre -
Doch heftig wogete der See und war
Nicht fahrbar; da besahen sie das Land
Sich näher und gewahrten schöne Fülle
Des Holzes und entdeckten gute Brunnen
Und meinten, sich im lieben Vaterland
Zu finden - Da beschlossen sie zu bleiben,
Erbaueten den alten Flecken Schwyz
Und hatten manchen sauren Tag, den Wald
Mit weitverschlungnen Wurzeln auszuroden -
Drauf, als der Boden nicht mehr Gnügen tat
Der Zahl des Volks, da zogen sie hinüber
Zum schwaren Berg, ja bis ans Weißland hin,
Wo, hinter ew'gem Eiseswall verborgen,
Ein andres Volk in andern Zungen spricht.             1176ff.

Zur Urschuld der Schweizer gehört, dass sie jungfräuliches Land unterworfen, Bäume gefällt haben und sich auch von einem See nicht lange aufhalten ließen.
Um Baumfrevel geht es auch kurz vor der Apfelschuss-Szene, als Walter seinen Vater fragt:

Vater, ist's wahr, dass auf dem Berge dort
Die Bäume bluten, wenn man einen Streich
Drauf führte mit der Axt?                                  1771ff.

Tell erklärt ihm, die Bäume halten Schneemassen auf, die sonst als Lawinen das Dorf im Tal unter sich begraben würden. Vergreift sich der Mensch am Hochwald, schlägt die Natur verheerend zurück - das ist die Moral, die aus dieser Stelle spricht.
Die Apfelschuss-Szene enthält Anspielungen auf den biblischen Sündenfall, als Adam und Eva die verbotene Baumfrucht kosten, die auf mittelalterlichen und späteren Gemälden fast immer ein Apfel ist. Diesen Apfel muss Tell mit seinem Pfeil durchbohren, was den Freudianer an Penetration denken lässt - Übergriffe des Menschen auf die unberührte, jungfräuliche Natur werden gerne mit Übergriffen auf eine Frau, die tabu ist, verglichen (45). Tell schießt auf den Apfel unter Zwang, aber auch zur Demonstration seiner waidmännischen Schießkunst, die sein Sohn Walter vor dem Vogt stolz herausstreicht:

Und das muss wahr sein, Herr - 'nen Apfel schießt
Der Vater dir vom Baum auf hundert Schritte.                1876f.

Tell ist Jäger. Wie Aktaion in Ovids Metamorphosen, der zur Strafe für seine Übergriffe auf die Natur von den eigenen Jagdhunden zerfleischt wird. Wie der Knabe in Schillers Ballade Der Alpenjäger, der der junge Wilhelm Tell sein könnte - blutig verfolgt er das Wild des Hochgebirges, bis ihm der genius loci, der mythische "Bergesalte" Einhalt gebietet (46). Für naturreligiöses Empfinden verkörpert der homo venator menschlichen Frevel an der Natur schlechthin. Tells weidmännische Respektlosigkeit gegenüber der Natur äußert sich auch, als er Baumgarten über den aufgewühlten See setzt: "Ha, wackrer Tell! Das gleicht dem Weidgesellen!" kommentieren Schweizer seine dreiste Kühnheit, mit der er das Gewässer als naturgegebene Grenze missachtet. Walter rühmt seinen Vater, der alle möglichen Tiere der unberührten Bergwelt abschießt, alles, "was da kreucht und fleugt" (Zeile 1477).

Der Vater trifft den Vogel ja im Flug,
Er wird nicht fehlen auf das Herz des Kindes.             1949f.

In dieser Prahlerei des Sohnes wird auf archaisch-unterbewusster Ebene der Frevel an den Vögeln und das mögliche Töten des Kindes als Sühneopfer dafür, wenn auch in verneinter Form, in einem Satz zusammengebracht (das Töten eines Vogels als Inbegriff menschlicher Ursünde ist zum Beispiel Thema in Coleridges Ballade The Rime of the Ancient Mariner).

In diesem Zusammenhang erschließt sich auch der Sinn einer rätselhaften Erzählung des russischen Dichters Anton Tschechow: Der Student / Студент. Der junge Ivan Velikopolskij ist am Karfreitag auf die Jagd gegangen, statt sich in Christi Opfertod zu vertiefen. Er schießt auf Waldschnepfen, die sich paaren wollen, greift also mordend in das Frühlingserwachen der Natur ein, die in der Erzählung als ein lebendiges Wesen erscheint, das sich durch menschliche Hybris verstört in Kälte und Erstarrung des Winters wieder zurückziehen möchte. Ein frostiger schneidender Wind kommt auf, das Wetter wird trostlos und versetzt auch den Studenten in niedergedrückte Stimmung, die sich erst wieder aufhellt, als er sich im Gespräch mit zwei einfachen Bauernfrauen (46a) dem widmet, was er durch seinen Jagdausflug verdrängen wollte: Christi Martyrium. Wie in der Hubertus-Legende wird der Homo venator mit Christi Opfertod konfrontiert, zusammengebracht wird, was seit Urzeiten zusammenhängt: Die menschliche Ursünde der Jagd und das Menschenopfer am Holz als Buße zur Versöhnung der verletzten Natur. Nachdem Velikopolski Angst und Verzweiflung Christi und seiner Jünger in Erwartung der Kreuzigung intensiv mitempfunden und dadurch gebüßt hat, lächelt ihm die Schöpfung wieder zu und versetzt ihn in seinen jugendlichen Optimismus zurück.

Anders als Aktaion und Tell war der Kretische Jäger Echemmas nicht taub für die Stimme seines Gewissens und verzichtete auf die Jagd. Ein Weih-Epigramm (47) des griechischen Dichters Kallimachos überliefert uns, dass er seine Jagdwaffe in einem Tempel oder heiligen Hain der Artemis, Verkörperung und Schutzherrin der unberührten Natur und ihrer Tiere, als Weihgeschenk übergeben hat; Ortygia könnte der heilige Artemis-Hain bei Ephesos sein:

Ziegen vom Kynthos, seid getrost! Denn Pfeil und Bogen
Des Kreters Echemmas, womit er euch ausrottete im hohen Gebirge,
Sind in Ortygia bei Artemis abgegeben - ihr habt nun Ruhe, ihr Ziegen,
Seit die Göttin den Friedensschluss für euch erwirkt hat.

Für den Altertumswissenschaftler Karl Bötticher erläutert dieses Epigramm des Sinn eines griechischen Reliefs im Vatikan-Museum, das einen Artemis-Baum zeigt, an dem ein Jäger seine Waffe als Opfer befestigt hat (48).

Als Beinahe-Menschenopfer, das einem Wald für die Ermordung eines seiner Geschöpfe, eines Singvogels, dargebracht wird, lässt sich auch das Schicksal des Juden in dem antisemitischen deutschen Märchen Der Jude im Dorn (Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm Nr 110) deuten.
Ein deutscher Knecht, der angeblich naiv, rechtschaffen und nicht aufs Geld aus ist, also ein rechter Unschuldsengel  und Opfer von Ausbeutern, macht trotzdem etwas ausgesprochen Unromantisches: Er schießt auf einen Singvogel, der im Wipfel eines Baumes sitzt. Warum tut er so etwas? Weil ein böser Jude ihn dazu verführt hat. Der getötete Vogel fällt in ein Dorngestrüpp, in das der Jude gierig hineinkriecht, um ihn sich zu holen. Da spielt der Knecht auf seiner Zauberfiedel auf, so dass der Jude im Busch gefangen tanzen muss und sich gehörig an den Dornen verletzt.
Durch den Schuss mit dem Vogelrohr hat der Knecht nicht nur den Vogel getötet, sondern auch den Baum angegriffen, in dessen Wipfel und Obhut der Vogel wohnte und sang wie die Vögel in Anna Seghers Der Baum des Ritters, der „sein Geäst“ „breitete“ und „Generationen von Vogelschwärmen“ „beherbergte“. Wie der „Baum des Ritters“ seinen Schützlingen, den Vögeln, wohl- und dem Menschen, der erobernd unterwegs ist, übelgesonnen ist, so verhält sich auch die Natur in dem antisemitischen Märchen. Der getötete Vogel fällt in einen Dornenbusch unten am Baum, als ob die Natur ihr Kind vor den gierigen Menschen bergen möchte (49). Als der Jude trotzdem in dieses mit Dornen bewehrte Stück Natur eindringt, um sich seine Beute zu holen, ereilt ihn seine Strafe.
Das Märchen ist ein typisches Beispiel für den westeuropäischen Antisemitismus, der mit dem Hochmittelalter begann: Der Deutsche erscheint als der Gute und der Jude als der Böse. In Wirklichkeit aber ist der Jude Sündenbock, der für die Schlechtigkeit des Deutschen bestraft wird, denn der Knecht ist nicht der Unschuldsengel, als den ihn dieses antisemitische Märchen darstellt. Weil er angeblich so gutherzig ist, hatte er drei Wünsche offen und hatte sich unter anderem die Zauberfiedel gewünscht, mit der er jedermann zum Tanzen zwingen kann. Als erstes aber wünschte er sich ein zauberkräftiges Vogelrohr, mit dem er jedes Ziel treffen kann. Und schießt damit den Vogel ab (wenn auch auf Bitten des Juden und angeblich nicht aus eigener Jagdlust, was ungeschickt konstruiert wirkt). Der Knecht ist also ein Jäger, der Lust beim Erlegen von Tieren empfindet und zugleich wie Wilhelm Tell deswegen Schuldgefühle hat. Sie werden aber verdrängt und auf den Juden als den Bösen projiziert: Der Jude wird anstelle des deutschen Jägers von dem Naturnumen Dornenhecke bestraft; er ist ein von Dornen gequältes Menschenopfer wie Christus mit der Dornenkrone - der Deutsche wirkt an der Bestrafung mit, er fühlt sich also beim Quälen des Juden im Einklang mit der Natur und als ihr Verbündeter – das Märchen symbolisiert den deutschen und europäischen Antisemitismus: Der Handwerker in einer mittelalterlichen Stadt, der beim Pogrom mitmacht, der SA-Mann, der Juden schikaniert, quält, tötet, lässt an ihnen Selbsthass und Selbstbestrafungswünsche aus und empfindet in seinem Unterbewusstsein dabei wie früher ein germanischer Priester, der in einem heiligen Hain einen Menschen opfert, re-ligio im Einklang mit der beschwichtigten Natur (50).

Auch in Droste-Hülshoffs Erzählung Die Judenbuche lässt ein eingeborener Deutscher, Friedrich Mergel, der sich aus Geldgier an verbotenen Waldrodungen beteiligt, seine Selbstbestrafungswünsche, seinen Selbsthass (und Hass auf seinen Onkel Simon, der ihn zum Holzfrevel verführt)  an einem Juden, Aaron, aus, indem er ihn ermordet und so sein aufgebrachtes archaisches Gewissen vorübergehend beschwichtigt – in diese Richtung geht die überzeugende Deutung des Germanisten Richard T. Gray (51), der  herausarbeitet, dass Friedrich Mergel bei Droste-Hülshoff die deutsche Bevölkerung auch der Unterschicht, arme Bauern und Arbeiter, repräsentiert, die im Zuge der Industrialisierung verstärkt die Natur ausbeutet und zerstört und dafür die Juden zu Sündenböcken macht.

Zurück zu Der Jude im Dorn! Übergriffe auf die Mutter Natur werden in der archaischen Seelenschicht oft als inzestuöser Übergriff auf Mutter oder Schwester empfunden, als verbotene und strafwürdige Sexualität. Das ist auch im vorliegenden Märchen der Fall. Die Fiedel des Knechts und die Musik, die er mit ihr macht, haben erotische Bedeutung, da solch ein Musikinstrument im Unterbewusstsein ein Frauenkörper und Musizieren Sex ist – die Musik zwingt den Juden, im mütterlichen Schoß des Dornenbuschs zu tanzen, das heißt, zu dionysischen, orgiastischen Bewegungen, wodurch er sich selbst für seinen Übergriff bestraft, indem er sich an den Dornen verletzt.

Ebenfalls zerkratzt von Dornen, von Dornbüschen, die zu einem strafenden Wald gehören, wird Brutus Jones in Eugene O’Neills Drama The Emperor Jones. Der Schwarzamerikaner hat Schuld auf sich geladen, weil er die unverbildete Naivität der Eingeborenen einer kleinen westindischen Insel ausgenutzt hat, um sie zu manipulieren, sich zum Herrscher über sie aufzuschwingen und sie auszubeuten in Komplizenschaft mit dem westlichen Kolonialismus, den der weiße Londoner Handelsagent Smithers repräsentiert. Außerdem hat Brutus Jones zwei Morde auf dem Gewissen. Als es zum Aufstand gegen ihn kommt, wird ihm der Wald, den er auf seiner Flucht durchqueren will, zum Verhängnis. Seine beiden Mordopfer und andere Numina spuken als Rachegeister in dem Zauberwald, aus dem der Bösewicht nicht mehr herausfindet, hetzen ihn und bringen ihn an den Rand des Wahnsinns. Das düstere Bühnenbild der VII. Szene gleicht einem heiligen Hain der vorchristlichen Germanen oder Kelten mit einem Altar, auf dem Menschenopfer dargebracht werden, ein heidnischer Eingeborenenpriester tanzt einen ekstatischen Tanz, der pantomimisch darstellt, dass die Geister, die den Wald bevölkern, Brutus Jones als Opfer fordern, und die aufständischen Inselbewohner, die den Mörder und Usurpator schließlich in dem Wald töten, handeln im Einklang mit der von Menschenhand noch unberührten Natur. Aus dem expressionistischen Drama sprechen wie aus Brechts Ballade Von des Cortez‘ Leuten Schuldgefühl und Strafbedürfnis des westlichen Kolonisators, der sich zum Herrn und Ausbeuter über Natur und naturnah lebende Menschen der Dritten Welt aufgeschwungen hat. Zu dem antiimperialistischen Pathos, das in O'Neills Stück herrscht, gehört auch jener archaische Imperativ zum Töten, der Brutus Jones‘ Opferung fordert – das sollte zu denken geben.

Ein Mörder und Usurpator, der aus einem dornigen Wald nicht mehr herausfindet und blutig gekratzt wird, begegnet auch bei Shakespeare, zumindest in einer Phantasie. Herzog Richard von Gloucester will den englischen Thron besteigen. Seine Machtgier ist Kompensation für den Mangel an Zuwendung durch das weibliche Geschlecht, der schon in der Wiege begann: Seine Mutter liebte ihn nicht. Die englische Krone soll ihm Kompensation für den Mutterschoß sein:

I’ll make my heaven to dream upon the crown
And, whiles I live, t’account this world but hell
Until my misshaped trunk that bears this head
Be round impaled with a glorious crown.
And yet I know not how to get the crown,
For many lives stand between me and home;
And I – like one lost in a thorny wood,
That rents the thorns and is rent with the thorns,
Seeking a way and straying from the way,
Not knowing how to find the open air
but toiling desperately to find it out -
Torment myself to catch the English crown;
And from that torment I will free myself
Or hew my way out with a bloody axe.     (52)

Die Macht, symbolisiert durch die Krone, die ihm die fehlende Wärme weiblich-mütterlicher Zuwendung ersetzen soll, vergleicht er mit einem Wald, worin wir unschwer den Archetypus des mütterlichen Waldes erkennen (53). Da Richard aber bereit ist,  über Leichen zu gehen, um in das Paradies (54) der Königsmacht zu gelangen,  ist sein Streben sündhaft, und sein Schuldgefühl äußert sich, indem sich in seiner Fantasie der mütterliche Wald in einen strafenden Wald verwandelt, in einen „thorny wood“, der ihn wie den Juden im Grimm’schen Märchen und den Emperor Jones nicht mehr frei lässt und mit seinen Dornen verletzt. Als Richard die zitierten Worte spricht, hat er die Krone noch nicht erworben, aber er steht in ihrem Bann; seine Gier nach ihr macht ihn unfrei. Der mütterliche Wald gehört ihm noch nicht, aber er ist in Gedanken bereits mit Eroberungsabsicht in ihn eingedrungen. Statt sich jedoch von der archetypischen Vorstellung vom strafenden Wald, die in seiner Fantasie auftaucht, von seinen verbrecherischen Usurpationsplänen abbringen zu lassen, fantasiert er von einem brutalen Befreiungsschlag, der ihn zugleich an die Macht bringen und von den Dornen befreien soll.
Auch Shakespeares Bild von der Krone als Dornenwald ist verwandt mit der Dornenkrone, die man Christus aufgesetzt hat, weil man ihm vorwarf, sich zum König der Juden aufschwingen zu wollen.


1) Phylogenetisch bedeutet: die Stammesentwicklung betreffend. Körperliche Merkmale seiner phylogenetischen Entwicklung wiederholt zum Beispiel der Mensch als Embryo, wenn er im Mutterleib kurzzeitig Ansätze zu einem Fell oder zu Kiemen entwickelt, denn unsere Ahnen trugen früher Fell und lebten noch früher im Wasser - Phylogenetisches ist auch in der menschlichen Seele in Form von Erinnerungen erhalten geblieben.

2) Homer: Odyssee 19, 162f. - Übersetzung: Anton Weiher 

3) J. M. Gassner: Aus Sitte und Brauch der Mettersdorfer. Ein Beitrag zur siebenbürgisch-sächsischen Volkskunde. Bistritz 1902, S. 5 - Weitere Beispiele bei Albrecht Dieterich: Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion. 3. Auflage 1925, S. 19 und 126f.

4) Ovid: Metamorphosen X, 503ff. - Übersetzung: Michael von Albrecht (zweisprachige Reclam-Ausgabe)

5) Verwandt sind altindisch su- "gut", griechisch hy- in hygies "gesund" und germanisch su- in Sugambri.

6) dazu russisch drevo, derevo "Baum", altindisch dáru "Holzstück, Scheit", griechisch dory "Holz, Speer", englisch tree.

7) Vgl. auch Valentin Kiparsky: Russische Historische Grammatik, Band III, S. 336f. und Max Vasmer: Russisches etymologisches Wörterbuch, "zdorovyj"

8) 264ff. - Übersetzung: Anton Weiher

9) Erineos, "wilden Feigenbaum", nennt ihn der griechisch schreibende Autor Plutarch in seiner Romulus-Biographie (cap. 4)

10) Plinius: Naturgeschichte XV, 77 - zitiert aus der zweisprachigen Tusculum-Ausgabe; Herausgeber und Übersetzer: Roderich König

11) ) Pausanias IV, 34, 6

11a) Sie ist bei Percy also eine der drei Weird Sisters, die mit den griechischen Moiren verwandt sind, worauf wir unten im Zusammenhang mit Shakespeares Macbeth eingehen.

12) Häufiger wird Lucina von lux, luc-is "Licht" abgeleitet, weil sie den Kindern hilft, das Licht der Welt zu erblicken. Ovid bringt in Fasti II, 449f. Lucina sowohl mit lux, als auch mit lucus in Verbindung.

13) Euripides: Bakchen 99f.

14) Pindar: Sechste Olympische Ode 42ff.

15) Pindar: Siebte Nemeische Ode 1ff.

16) Iphigenie auf Tauris 206f.

17) Erste Olympische Ode 26f.

18) Den griechischen Moirai entsprechen die lateinischen Parzen, Parcae, die auch ursprünglich Geburtsgöttinnen waren, da ihr Name auf ein *par(i)ca zurückgeht, was zu pario "ich gebäre" gehört.

19) Eumeniden 907ff. - Übersetzung: Oskar Werner

20) Im Original sperma, also "Same, Ausgesätes", was übertragen "Sohn, Nachkommenschaft" bedeutet und auch das ungeborene Kind meint, das als Keim im Mutterleib, in den es der Vater gesät hat, wächst wie der Same in der Mutter Erde.

21) Sophokles: Ödipus auf Kolonos 701

21a) Auch die chtonische Göttin Hekate, die Hesiod (Theogonie 450, 452) mit kouro-trophos (Definition bei Diodor 5,73), einem Synonym zu paido-trophos als "kindernährend, kinderaufziehend" bezeichnet, könnte ursprünglich ein Baum gewesen sein, wenn man Hesychios Glauben schenkt, für den eine hekate ein xylon, also "Baum", Holz", "Holzbalken" oder "Holzpfahl" war, woran Verbrecher gefesselt und ausgepeitscht wurden. Wie die Erinnyen weist Hekates Wesen sowohl einen düsteren, strafenden und todbringenden, als auch einen freundlichen, kinderliebenden Aspekt auf; vgl. auch C.G.Jung: GW 5 (S. 336ff., 348ff. und besonders Fußnote 158), für den solch ein Marterholz Vorläufer des Kreuzes Christi war, das Strafe und Tod bringt und zugleich als mütterlicher Baum Wiedergeburt ermöglicht.

22) Ovid: Metamorphosen 9, 355ff. - Übersetzungen: Michael von Albrecht

23) Das biblische Paradies, das voller Bäume ist, von den sich Adam und Eva, solange sie noch unschuldig wie Kinder sind, nähren, erinnert an den Bergwald, dessen Bäume sich wie Ammen des Kindes Äneas annehmen - vgl. den oben erwähnten Homerischen Aphrodite-Hymnus; aber auch Äneas wurde irgendwann erwachsen und verließ den Wald, um unter Menschen zu wirken.

24) Dazu der Psychoanalytiker und Narzissmus-Forscher Béla Grunberger: Vom Narzissmus zum Objekt, Frankfurt am Main 1976, S. 35: "Aus dem ehemaligen narzisstischen Parasiten muss nun ein aktives Individuum werden, das künftig die Last seiner Existenz selber trägt (das Kind ist aus dem Paradies vertrieben und muss 'im Schweiße seines Angesichts' für seine Bedürfnisse aufkommen)." 

25) Von alten (nachantiken) Gemälden kennen wir die verbotene Frucht als Apfel. Die Bibel jedoch hat sich auf keine bestimmte Baumgattung festgelegt; dort ist es einfach karpos "Frucht".

26) In Homers Odyssee (9. Gesang) tun es Gefährten des Odysseus, die er zur Erkundung auf eine Insel geschickt hat, den dort lebenden Lotophagen gleich: Sie essen Früchte von Lotosbäumen und verfallen in eine dumpfe, regressive Apathie, in der sie jegliches Interesse am Alltag und seinen Forderungen verlieren: Sie wollen nicht mehr heimkehren.

27) Zum Begriff phylogenetisch vgl. Fußnote 1

28) Definition z.B. bei Cicero: De natura deorum I,116: Est enim pietas iustitia adversus deos / Pietas ist nämlich das rechte Verhalten gegenüber den Göttern (Übersetzung: U. Blank-Sangmeister)

29) Beispiele für diese Bedeutung: Plinius: Epistulae 10,1,1; Livius 7,10,3

30) Legenda Aurea (des Jacobus de Voragine), Kapitel LXVIII: De inventione  sanctae crucis / Von des Heiligen Kreuzes Findung - Übersetzung: Richard Benz. Zitiert von http://www.heiligenlexikon.de/Legenda_Aurea/Kreuzfindung.htm

31) Zum Beispiel schlachteten fränkische Krieger, die den Padus (Po) überschritten, gotische Frauen und Kinder und warfen sie als Opfer in den Fluss - Prokop: Gotenkrieg II,25

32) Vgl. den Artikel Bauopfer in: Handbuch des deutschen Aberglaubens

33) Zum Beispiel Tacitus: Germania 39

33a) Xenophon: Kynegetikos 6,13; genannt wird Artemis an dieser Stelle mit ihrem Beinamen Agrotera, der als „die Wildnis liebende“, „Beschützerin der Wildnis“ oder „Lady of the Wild Things“ zu übersetzen ist, da das Adjektiv agroteros „wild“ die Tiere der ungezähmten Natur im Gegensatz zu den Haustieren bezeichnet.

Ein weiteres Beispiel ist die Sagengestalt Pindus, der sich vor seinen feindlichen Brüdern in einen Wald flüchtete und sich von Tieren, die er erlegte, ernährte. Den Schutzgeist des Waldes, eine gewaltige Schlange, besänftigte er, indem er seine Jagdbeute mit ihr teilte. Deshalb wurde die Schlange sein Freund und es erging ihm gut in dem Wald – Aelianus erzählt die Mythe in seinen Tiergeschichten 10,48.

34) Zum Beispiel Tacitus: Annalen I, 61

35) Belege bei Jacob Grimm: Deutsche Rechtsalterthümer Bd II, S. 39f.: "...es soll niemand bäume in der mark schelen, wer das thäte, dem soll man sein nabel aus seinem bauch schneiden u. ihn mit dem selben an den baum nageln u. denselben baumscheler um den baum führen, so lang bis ihm sein gedärm alle aus dem bauch um den baum gewunden seien."

36) Karl Bruno Leder: Todesstrafe. Ursprung, Geschichte, Opfer, S. 112f.

36a) Plutarch: Alexander 43

36b) Historia Augusta: Aurelian 7; mehr Beispiele bei Ludwig Radermacher: Mythos und Sage bei den Griechen. 1943, S. 245

36c) Plutarch: Theseus 8; Übersetzung: Konrat Ziegler

36d) In Plutarchs Version ist ein ursprünglich brutaler Mythos von Perigunes Vergewaltigung und Versklavung durch Theseus geglättet und geschönt, adaptiert für zivilisierte und aufgeklärte Leser, die auch den naturreligiös geprägten Urzustand des Menschen belächeln und nicht mehr nachempfinden, dass der Mensch früher als Teil der Natur lebte; für diese Leser formuliert Plutarch: „… und gelobte ganz einfältig und kindlich diesen Pflanzen, als ob sie es verstehen könnten…“

36e) Dieses Schuldgefühl dürfte auch die von Plutarch (Theseus 25) berichtete Sage ins Leben gerufen haben, Theseus habe auf der Landenge von Korinth, also dort, wo er Sinis tötete, die Isthmischen Kampfspiele gestiftet, um den Mord an ihm zu sühnen.

37) "Rächer der Entlaubten" ist eine Losung der Naturschutzorganisation Robin Wood in Anklang an Robin Hood, den "Rächer der Enterbten".

38) Die Schwarzen Panther in den USA zählten sich selber zur Dritten Welt und galten wegen ihrer Unterprivilegiertheit als vom american way of life noch wenig korrumpiert.

38a) Franz Quilitzsch: Vom Ritter über Jesaia bis zu Odysseus. Anna Seghers' Triptychon "Die drei Bäume". In: Argonautenschiff 2 (1993), S. 117

38b) Quilitzsch, a.a.O.

39) So Shakespeares Quelle Holinshed 1587 (The historie of Scotland, S. 171): "But afterwards the common opinion was, that these women were either the weird sisters, that is (as ye would say) the goddesses of destinie, or else some nymphs or feiries", vgl. auch Jacob Grimm: Deutsche Mythologie Bd 1, in Kapitel XVI die Seiten über die Nornen

40) Um Wiederherstellung der Gerechtigkeit geht es auch in Fontanes Ballade; erinnern wir uns: Dass der Garten der von Ribbecks mit dem Birnbaum für die Kinder zur Erntezeit ein Paradies war, haben wir erwähnt und ihn mit dem biblischen Garten Eden verglichen, ein Vergleich, zu dem sich noch mehr sagen lässt: Wie menschliche Gier, nämlich die von Adam und Eva, die alles für sich haben wollen, zur Vertreibung aus dem Paradies führt, so ist es auch in Fontanes Ballade menschlicher Geiz (der ja auch Hab-Gier ist), nämlich der Geiz des Sohnes, der die Kinder aus diesem Paradies ausschließt, weil er keine von den Früchten verschenken will. Da greift der alte von Ribbeck als Baumseele in das Geschehen ein und beschert den Kindern, die doch unschuldig sind, ein neues Birnenparadies, macht den Akt seines knauserigen Sohnes rückgängig, tritt zwar nicht als Rachegeist auf, der den Sohn bestraft, aber als Numen, das die Gerechtigkeit wiederherstellt, was mit Rache zumindest verwandt ist. Aber es wird nicht mehr hingerichtet - Erinys ist zivilisiert geworden.

41) Vgl. Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Band I

42) Tacitus: Germania 39

43) Vgl. Fußnote 35

44) oder (kurz zuvor) im Wald, wie in der oben zitierten Sage Der Judenstein.

45) Vgl. oben die Dryope-Amphissos-Sage aus Ovids Metamorphosen - Eine weitere Anspielung auf den biblischen Sündenfall findet sich im letzten Akt des Wilhelm Tell: Die Ermordung des österreichischen Kaisers durch seinen Neffen ist Verwandtenmord, naturwidriger Frevel, der Vatermord sehr nahe kommt, aber den aufständigen Schweizern nützt, weil er sie von einem Feind befreit. Deshalb begrüßen sie das Verbrechen, wenn auch mit gemischten Gefühlen:

Den Mördern bringt die Untat nicht Gewinn;
Wir aber brechen mit der reinen Hand
Des blut'gen Frevels segenvolle Frucht.              3016ff.

Für den Moralisten Schiller ist ein blutiger Aufstand gegen Tyrannei immer mit Urschuld verbunden. Archaische Schuldgefühle können - so zeigt sein Wilhelm Tell - die Tatkraft auch dann beeinträchtigen, wenn es gegen Unterdrücker geht, gegen die Widerstand legitim ist. Vermindern können wir den Druck dieses Schuldgefühls, wenn wir die Natur mit mehr Respekt behandeln - das könnte aktuell werden. 

46) Vgl. Horst Rüdiger: Schiller und das Pastorale (in: Schiller zum 10. November 1959. Festschrift des Euphorion), S. 14f., 26-29.
Wir stimmen Horst Rüdiger zu, der in seiner profunden Abhandlung feststellt: "Tell ist frei von allen Hubertus-Bedenken gegenüber dem jagdbaren Wilde" (S. 28), widersprechen aber diesem Satz: "Tell selbst hat die Natur nicht zum Hirten gebildet (V. 1487); aber er verletzt auch nicht wie der Alpenjäger im Gedicht den heiligen Frieden der Natur" (S. 28).

46a) In der Seelenschicht der Archetypen ist die Natur weiblich, unberührt, jungfräulich, und Übergriffe des Menschen auf sie gleichen männlicher Brutalität gegen Frauen; so auch in Tschechows Student: Eine der beiden Bäuerinnen, denen Velikopolskij begegnet, Lukerja, ist ein Opfer solcher Brutalität. Sie ist von ihrem gewalttätigen Mann traumatisiert, "eingeschüchtert" (забитая мужем), was auch für die Natur gilt, der es durch Velikopolskijs Schießwut "bange zumute" wird, so dass sie sich in Dunkel und Winter zurückziehen möchte. Der Jäger Velikopolskij wird also indirekt mit einem prügendem Ehemann verglichen, er hat das Zeug zur Brutalität, "an dem angehenden Geistlichen, der am Karfreitag auf die Jagd geht und sich nur widerwillig dem Fastengebot unterzieht, zeigt die Erzählung ein erschreckendes Desinteresse am Leiden in der Welt. Am Anfang der Erzählung integriert Velikopol'skij den Leidenslaut der Kreatur dem angenehmen Bild von Ordnung und Harmonie" - so Wolf Schmid: Modi des Erkennens in Cechovs narrativer Welt (in: Anton P. Cechov - Philosophische und religiöse Dimensionen im Leben und im Werk. Herausgegeben von V. Kataev. 1997, S. 536). Ich stimme Schmid zu, möchte aber zugunsten des Studenten anmerken: Sein Mitempfinden mit Jesus und seinen Jüngern in Erwartung der Kreuzigung zeigt, dass er dieses Desinteresse überwinden kann und gibt Grund zu dem Optimismus, mit dem die Erzählung endet.

47) Anthologia Graeca VI, 121 - Wir wissen nicht, ob es ein fiktives Weih-Epigramm, also reine Poesie, ist oder tatsächlich im Auftrag eines Echemmas entstand. Jedenfalls spricht aus ihm das in der Antike lebendige Schuldgefühl des Jägers.

48) Karl Bötticher: Der Baumkultus der Hellenen. 1856, S. 77

49) Statt „bergen“ könnte man auch „bestatten“, „beerdigen“ sagen – erinnern wir uns an die Doppelbedeutung von lateinisch condere „bergen“ und „beerdigen“:  Mutter Natur nimmt die Verstorbenen in die Geborgenheit ihres Schoßes auf.

50) "Holocaust", der Begriff für den Massenmord an den Juden, kommt von lateinisch "holocaustum", einem (aus dem Griechischen stammenden) Wort für das vollständig verbrannte Tier- oder Menschenopfer. So erhält Abraham im Alten Testament von Gott den Befehl, seinen Sohn Isaak als "holocaustum" (Vulgata) darzubringen. Auch der mittelalterliche englische Chronist Richard of Devizes bezeichnet jüdische Pogromopfer mit diesem Begriff. Für ihn sind sie wie Jesus Christus Menschenopfer:

"Eodem coronationis die circa illam solempnitatis horam qua Filius immolabatur Patri, inceptum est in civitate Londonie immolare Iudeos patri suo diabolo." - englische Übersetzung hier.

51) Richard T. Gray: Red Herrings and Blue Smocks: Ecological Destruction, Commercialism, and Antisemitism in Annette von Droste-Hülshoff’s Die Judenbuche. In: German Studies Review. Vol. XXVI, Number 1, February 2003, S. 515- 542

52) Shakespeare: Heinrich VI., Dritter Teil, III,2,168-181

53) Vgl. Janet Adelman: „Born of Woman“. Fantasies of Maternal Power in Macbeth, S. 92f. (in: Cannibals, Witches and Divorce. Estranging the Renaissance. Edited by M. Garber):
“The crown for him is ‘home’, the safe haven. But through the shifting meaning of ‘impalèd’, the crown as safe haven is itself transformed into the dangerous enclosure: the stakes that enclose him protectively turn into the thorns that threaten to impale him. Strikingly, it is not his head but the trunk that bears his head that is so impaled by crown and thorns: the crown compensatory for ladies’ laps fuses with the image of the dangerous womb in an imagistic nightmare in which the lap/womb/home/crown become the thorny wood from which he desperately seeks escape into the open air.”

54) Die Königsmacht vergleicht er mit dem Elysium:
How sweet a thing it is to wear a crown;
Within whose circuit is Elysium     (I,2, 323f.)

   
 
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