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MUTTER ERDE - UND ANDERE CHTHONISCHE WESEN: DEMETER, DRACULA

Archetypisch ist die Vorstellung von der Weiblichkeit und Mütterlichkeit der Erde, von der Erdmutter. Die Griechen nennen sie Gaia, Ge und auch „Allmutter“ (1), weil sie Mutter von allem, was lebt, von Menschen, Tieren und Pflanzen, ist. Es sind ihre Kinder, die sie in ihrem fruchtbaren Schoß entstehen lässt, zur Welt bringt und dann trägt und ernährt.  Der naturreligiöse, noch nicht von christlicher Hybris an die Andersartigkeit und Höherwertigkeit des Menschen geprägte Glaube, dass Menschen, Tiere und Pflanzen von derselben Mutter abstammen und deshalb verwandt sind, spricht aus den Worten des Indianers Sitting Bull, die noch heute gern von Umweltschützern zitiert werden:

Seht Freunde, der Frühling ist da. Die Erde hat sich freudig von der Sonne umarmen lassen, und bald werden wir die Früchte ihrer Liebe sehen. Jeder Same ist erwacht, jedes Tier lebt. Dieser göttlichen Kraft verdanken auch wir unser Dasein. Darum gestehen wir unseren Mitgeschöpfen, Menschen und Tieren, das gleiche Recht wie uns selbst zu, dieses weite Land zu bewohnen.                                 (2)

Beispiele für den Glauben, dass die Menschen Kinder der Erde sind, finden wir in Albrecht Dieterichs immer noch grundlegender Arbeit Mutter Erde (3):
„Bei den Eingeborenen von Nordamerika, den Indianern, spielt die Erdmutter die größte Rolle. Den Comantschen ist die Erde ihre eigene Mutter, der große Geist ihr Vater. General Harrison rief den Häuptling der Shawnees, Tecumseh, zu einer Unterredung  ‚Komm her, Tecumseh, und setze dich zu deinem Vater!‘ ‚Du mein Vater?‘ , sagte der Häuptling. ‚Nein, die Sonne dort (nach ihr hinweisend) ist mein Vater und die Erde ist meine Mutter, ich will an ihrem Busen ruhen‘ und er setzte sich an ihren Busen. Die Kabiren sagten beim Erdbeben, dass ihre Mutter Erde tanze; sie gebe ihnen so ein Zeichen, dass sie auch tanzen sollten. Aus Zentralaustralien berichten Spencer und Gillen von einem Erdloch und daranliegenden Stein, the Erathipa stone, aus dem die Kinder herauskommen. There is on one side of it a round hole through which the spirit children are supposed to be on the lookout for women who may chance to pass near. Weiber, die Kinder wünschen, wallfahrten zu diesem Steine. It is firmly believed that visiting the stone will result in conception. If a young woman has to pass near to the stone and does not wish to have a child she will carefully disguise her youth, distorting her face and walking with the aid of a stick. She will bend herself double like a very old woman, the tones of whose voice she will imitate, saying ‘Don’t come to me, I am an old woman’.
Zur Erde gehören, wie das eben zitierte Beispiel aus Zentralasien zeigt, Steine und Felsen (4), aus denen die Kinder auch kommen:
„Endlich aber kommen die Kinder nach vielfachem Glauben aus Felsen und aus Höhlen, wie etwa im schwäbischen Staubachtale die Hebamme alle Kinder aus der Höhle des Rosensteins holt, wo sie von einer weißen Frau gereicht werden. An die Lebenslichtchen in der Höhle mag nur erinnert sein. Aber seine Stelle finden darf hier jedenfalls der mehrfach belegte Glaube des Volkes in den Vogesen, dass aus diesen oder jenen Felsen, die in den verschiedenen Gegenden eben verschiedene sind, die kleinen Kinder zur Welt kämen“ (5).
„In Pommern werden die Kinder vielfach aus Steinen, ‚Großsteinen‘, ‚Schwansteinen‘, dem Uskahn bei Saßnitz, dem Buskamen (d.i. Gottesstein?) vor Göhren auf Mönchgut zur Welt gebracht: es heißt wohl auch, die Steine würden mit einem Schlüssel aufgeschlossen und die Kinder herausgeholt, A. Haas Am Urquell V 254ff.“ (6). „Sind das nicht alles verschiedene Formen der Grundvorstellung, die alle Kinder aus der Erde ‚quellen‘ und ‚wachsen‘ lässt? Ich wüsste nicht, dass es wirklich echten Volksglauben gäbe, der die Herkunft der Kinder in einer Weise auffasste, die nicht mit dieser Grundvorstellung zusammenginge. Oft finden wir es in gut bezeugten Anschauungen des Volkes selbst ausgesprochen, dass etwa, wo der Baum die Kinder trägt, sie eben drunten in der Erde waren, ehe sie herauswuchsen. So heißt es bei einem vortrefflichen Zeugen von der Linde bei Nierstein: Da holen die Frauen aus der ganzen Gegend die Kinder. Wenn man das Ohr an die Erde legt, hört man, wie die Kleinen unter der Erde jubeln und schreien. (7)
Die Sage von der Felsgeburt der Sachsen überliefern die Brüder Grimm:

Nach einer alten Volkssage sind die Sachsen mit Aschanes (Askanius), ihrem ersten König, aus dem Harzfelsen mitten im grünen Wald bei einem süßen Springbrünnlein herausgewachsen.                 (8)

Der Name der Sachsen lässt sich daher etymologisch erklären, indem man ihn mit dem lateinischen Wort für Fels, „saxum“, in Verbindung bringt (9). Der uralte Glaube an die Felsgeburt klingt auch bei Homer nach, als Penelope von Odysseus, der sich ihr noch nicht zu erkennen gegeben hat, wissen will, wer er ist:

Aber erzähl mir auch so deine Abkunft, wo du daheim bist;
Sicherlich stammst du nicht ab von uralten Eichen und Felsen. (10)

Auch in der Bibel finden sich Spuren dieses Archetypus, zum Beispiel Jesaja 51,1:

Schaut den Fels an, aus dem ihr gehauen seid …

Oder Matthäus 3,9:

Ich sage euch: Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken.

Als Sohn der Erde und des Gottes Hephaistos galt Erichthonios, sagenhafter König von Attika. In seinem Namen steckt chton „Erde“, und die Athener, die sich mit ihm identifizierten, fühlten sich mit Stolz als Auto-chthone, als Ureinwohner, als Kinder ihrer attischen Heimaterde (11). Als Hephaistos vergeblich versuchte, die Göttin Athene, Schutzherrin Athens und Verkörperung des attischen Volkes, zu vergewaltigen, ergoss sich sein Sperma auf ihr Bein. Sie wischte es voller Ekel mit einem Stück Wolle ab und warf es auf die Erde, die schwanger wurde, den Erichtonios gebar und ihn Athene übergab, die ihn großzog (12). Ein altes Tonrelief aus dem 5. Jahrhundert vor Christi stellt die Geburt des Erichthonios aus der Erde dar und seine Übergabe durch Gaia an Athene. Gestaltet ist die Erdmutter in „übermenschlicher Größe, welche die Gewalt der mächtigen Naturgottheit versinnbildlichen soll“ (13).

Da die Erde eine fruchtbare Frau ist, hat der Bauer, der sie mit dem Pflug aufreißt und in ihre Ackerfurchen Samen sät, die Rolle des Mannes in einem Sexualakt. „Dafür, dass Saat und Ernte der Frucht mit Zeugung und Geburt des Menschen, ich möchte sagen, in eins geschaut wurde, bietet attische Religion die markantesten Zeugnisse“ (14). Von den vielen Beispielen, die Dieterich anführt (15), sei hier nur eines herausgegriffen. In Sophokles‘ Drama Die Trachinerinnen ist Deianeira die Gattin des Herakles, von dem sie Kinder hat und sich trotzdem von ihm vernachlässigt fühlt, da der abenteuerlustige Held selten bei ihr zu Hause ist; sie vergleicht sich mit einem entfernt gelegenen Acker und ihn mit dem Ackermann:

Wir zeugten ja auch Kinder, die er dann und wann
so wie ein Landmann ein entlegnes Ackerfeld
beim Säen und beim Ernten einmal nur gesehn.    (16)

Der Archetypus des Ackers, der weiblich ist, und des Beackerns, das Zeugen bedeutet, hat auch Shakespeare inspiriert, als er im 3. Sonett seinen Geliebten beschwört, einen Sohn zu zeugen, damit in ihm seine Schönheit, die im Alter verwelkt, weiterlebe:

Look in thy glass, and tell the face thou viewest
Now is the time that face should form another;
Whose fresh repair if now thou not renewest,
Thou dost beguile the world, unbless some mother.
Forwhere is she so fair whose unear’d womb
Disdains the tillage of thy husbandry?

Schau in den Spiegel, sprich zu deinen Zügen:
>Nun ist es Zeit, euch selbst zu konterfein.<.
Versäumst du das, wirst du die Welt betrügen,
Und unbeglückt wird eine Mutter sein.
Denn welcher Schönsten ungepflügter Schoß
Würd‘ es verschmähn, von dir bestellt zu werden?  (17)

Auch der Koran vergleicht die Ehefrau mit einem Saatfeld, das von ihrem Ehemann bestellt wird; zu dem archetypischen Gleichnis gehört, obwohl es nicht ausdrücklich gesagt ist, dass Sex nicht nur der Lust, sondern auch der Zeugung dient:

Eure Weiber sind euch ein Acker. Gehet zu euerm Acker, von wannen ihr wollt; …   (18)

Doch der Mensch, der vom Ackerbau lebt, empfindet auch Schuld, weil er die Natur vergewaltigt. Brutal reißt er mit seinem Pflug die Erde auf, und um pflügbares Land zu gewinnen, haben er oder seine Vorfahren Wald gerodet, also jungfräuliche Natur vernichtet. Nach dem biblischen Motto – Macht euch die Erde untertan! – lebt er nicht mehr im Einklang mit der Natur, sondern hat sich ihr entfremdet, sich über sie erhoben und sie sich zum Objekt gemacht, das er beherrscht, ausbeutet und zerstört. Damit entstand ein uraltes Schuldgefühl, das den Menschen verurteilt, seitdem er seine naturgegebenen Grenzen verletzt, Bäume fällt und die gerodete Erde mit dem Pflug verwundet, Brücken über Flüsse schlägt, um sich neues Territorium zu unterwerfen, aus gefällten Bäumen Kriegs-und Handelsschiffe baut, um Meere und Ozeane zu überqueren und ferne Länder zu unterwerfen und aus ihnen Luxusgüter heranzuschaffen, die er durch Unterwerfung und Korrumpierung der Natur und naturnah lebender Eingeborener gewinnt. Dieses Gefühl einer Erbsünde und Urschuld spricht aus den Versen Ovids, als er das Goldene Zeitalter besingt, in dem der Mensch im Einklang mit der Natur lebte:

Noch war die Fichte nicht gefällt und noch nicht, um ferne Länder zu besuchen, von ihren Bergen in die klaren Fluten hinabgestiegen; und die Sterblichen kannten keine Küste außer ihrer eigenen. Noch umzogen keine steil abfallenden Gräben die Städte, es gab keine Tuba aus gekrümmten Erz, keine Helme, kein Schwert: Ohne Soldaten zu brauchen, lebten die Völker sorglos in sanfter Ruhe dahin. Auch gab die Erde, frei von Pflichten und Lasten, von keiner Hacke berührt, von keiner Pflugschar verletzt, alles von selbst. Und zufrieden mit den Speisen, die gewachsen waren, ohne dass jemand Zwang ausübte, sammelten sie Früchte vom Hagapfelbaum, Erdbeeren vom Berge, Kornelkirschen, Brombeeren, die an stacheligen Sträuchern hingen, und Eicheln, die von Iuppiters weit ausladenden Bäumen gefallen waren. (19)

Bäume waren noch nicht gefällt, um Ackerland zu gewinnen oder Schiffe zu bauen, Mutter Erde war noch „immunis“, das heißt, noch nicht mit Abgaben und Pflichten zu Dienstleistungen belastet, also noch nicht Ausbeutungsobjekt, noch nicht versklavt, sie war noch „intacta“, also unberührt, jungfräulich und noch nicht von der Pflugschar gewaltsam geöffnet. Diese ursprüngliche paradiesische Unschuld und Harmonie ist im Ehernen Zeitalter verloren:

Alsbald brach in das Zeitalter des schlechteren Metalls alle Sünde ein, es flohen Scham, Wahrheitsliebe und Treue; an ihre Stelle rückten Betrug, Arglist, Heimtücke, Gewalt und die frevelhafte Habgier. Segel gab der Seemann den Winden – er war mit ihnen bisher nicht vertraut - , die Bäume, die lange auf hohen Bergen gestanden hatten, tanzten übermütig als Schiffe auf Fluten, die sie noch nicht kannten, und den Erdboden, der zuvor Gemeingut gewesen war wie das Sonnenlicht und die Lüfte, zeichnete der umsichtige Feldmesser mit einer langen Grenzlinie. Und man forderte vom ertragreichen Boden nicht nur Saaten und die Nahrung, der er uns schuldig war, sondern man wühlte sich in die Eingeweide der Erde. Und die Schätze, die sie nah bei den Schatten der Styx verborgen hatte, gräbt man aus – Anreiz zu allem Bösen. Schon war das gefährliche Eisen erschienen und das Gold, das noch gefährlicher ist als Eisen. Da erscheint der Krieg, der beides zum Kampf verwendet … (20)

Der Mensch begnügt sich nicht mit dem, was Mutter Erde und Mutter Natur ihm freiwillig bieten, sondern dringt durch Bergbau in ihre Eingeweide ein, um ihr zu entreißen, was sie vor ihm aus gutem Grund verborgen hält, weil er es zu Krieg und Mord missbraucht. Als Räuber erscheint der Mensch auch in den Worten des römischen Naturforschers Plinius:

Von den Metallen, den Schätzen selbst und von den Werten der Gegenstände wird nun gesprochen werden, da unsere einzige Sorge das Innere der Erde auf vielfache Weise durchsucht; hier nämlich durchgräbt man sie auf der Jagd nach Reichtum, weil die Welt nach Gold, Silber, Elektron und Kupfer verlangt, dort der Prunksucht zuliebe nach Edelsteinen und Färbemitteln für Wände und Holz, anderswo um verwegenen Treibens willen nach Eisen, das bei Krieg und Mord sogar noch mehr geschätzt wird als das Gold. Wir durchforschen alle ihre Adern und leben auf ihr dort, wo sie ausgehöhlt ist, wobei wir uns noch wundern, dass sie zuweilen birst oder zittert, wie wenn dies nicht in Wahrheit aus dem Unwillen der heiligen Mutter Erde gedeutet werden könnte. Wir dringen in ihre Eingeweide und suchen am Sitz der Schatten nach Schätzen, gleichsam als wäre sie dort, wo sie betreten wird, nicht genügend gütig und fruchtbar; und am wenigsten durchwühlen wir sie dabei der Heilmittel wegen, denn wie vielen ist schon die Heilkunde ein Grund zum Graben? Und doch bietet sie auch diese Gabe an ihrer Oberfläche wie Früchte, freigebig und bereitwillig in allem, was überhaupt Nutzen bringt. Nur das vernichtet uns, nur das treibt uns zur Unterwelt, was sie verborgen und versenkt hat, nur das, was allmählich entsteht, so dass der ins Leere emporstebende Geist bedenken mag, was für ein Ende ihre Ausbeutung in all den Jahrhunderten finden und bis wohin die Habgier noch vordringen soll. Wie unschuldig, wie glücklich, ja sogar wie köstlich wäre das Leben, wenn die Menschheit nichts anderwoher als über der Erde zur Erfüllung ihrer Wünsche suchte, kurz, nur das, was sie umgibt.    (21)

Auch Sitting Bull wirft den weißen Eindringlingen vor, Mutter Erde durch Raubbau auszubeuten und zu misshandeln:

Seht, Freunde, der Frühling ist da. Die Erde hat sich freudig von der Sonne umarmen lassen, und bald werden wir die Kinder ihrer Liebe sehen. Jeder Same ist erwacht, jedes Tier lebt. Dieser göttlichen Kraft verdanken auch wir unser Dasein. Darum gestehen wir unseren Mitgeschöpfen, Menschen und Tieren, das gleiche Recht wie uns selbst zu, dieses weite Land zu bewohnen. Doch hört, Freunde! Jetzt haben wir es mit einem anderen Volk zu tun. Es war klein und schwach, als unsere Vorväter die ersten von ihnen trafen, aber jetzt ist es groß und herrisch. Wie sonderbar: Sie wollen die Erde pflügen und Habgier ist ihre Krankheit. Diese Menschen haben viele Gesetze gemacht, und die Reichen dürfen sie brechen, aber die Armen nicht. Sie haben eine Religion, in der die Armen Ergebung üben, aber nicht die Reichen. Sie nehmen Abgaben von den Armen und Schwachen, um die Reichen und Mächtigen damit zu stützen. Sie beanspruchen unsere Mutter, die Erde, zu ihrem eigenen Nutzen und zäunen ihre Mitmenschen von ihr ab. Sie verunstalten sie mit ihren Gebäuden und ihrem Abfall. Sie zwingen sie, zur Unzeit zu gebären und wenn sie dadurch unfruchtbar geworden ist, geben sie ihr Medizin, damit sie wieder gebärt. All das ist Frevel.               (22)

Den Vorwurf, die Erde durch intensive Landwirtschaft auszubeuten und auszuzehren, macht dem Menschen auch Sophokles in seiner Antigone in dem berühmten Chorlied Vieles ist ungeheuer…, das die Ausbeutung und Vergewaltigung der Natur durch den Menschen beklagt:

Vieles ist ungeheuer, nichts
ungeheuerer als der Mensch.
Das durchfährt auch die fahle Flut
in des reißenden Südsturms Not;
das gleitet zwischen den Wogen,
die rings sich türmen! Erde selbst,
die allerhehrste Gottheit,
ewig und nimmer ermüdend, er schwächt sie noch,
wenn sie Pflüge von Jahre zu Jahr, wenn
seine Rosse sie zerwühlen.      (23)

Dieses Gefühl der Schuld gegenüber der Natur versuchte der Mensch auf vielfältige Weise zu beschwichtigen. Zum Beispiel, indem er von einem Wald, den er rodete, einen Teil stehen ließ und als heiligen Hain nicht anzutasten wagte – die Tradition der heiligen Haine setzen heute unsere Naturschutzgebiete fort. Aber die Schuld wurde als so drückend empfunden, dass sie in ältesten Zeiten nicht ohne Menschenopfer abgetragen werden konnte. So gehörte zum Baumkult, dass bei den Germanen und Kelten in heiligen Hainen Menschen geschlachtet wurden (24). Ein Kind wurde in das Fundament einer Festung oder eines anderen Gebäudes eingemauert, um die Naturdämonen zu beschwichtigen, in deren Bereich der Mensch durch solche Bauten zerstörend eingreift (25). Überquerte er einen Fluss, versöhnte er sich den Flussgott, dessen Macht er missachtete, indem er ihm ein Menschenopfer darbrachte (26). Auch der Bau einer Brücke war Verletzung einer naturgegebenen Grenze. Der Leiter des Brückenbaus hatte deshalb in ältester Zeit zugleich priesterliche Funktion, um die Natur mit Opfern günstig zu stimmen, weshalb lateinisch pontifex, ein altes Wort für Priester, ursprünglich „Brückenbauer“ bedeutete.
Als die Menschheit zivilisierter wurde, ersetzte man die barbarischen Menschenopfer durch weniger grausame Rituale. Ein Beispiel dafür ist die Verehrung der Artemis, der Schutzgöttin des Waldes, in Sparta. Ihr Altar wurde ursprünglich mit Blut bespritzt, das von Menschen stammte, die für die Göttin geschlachtet wurden. Das Ritual der Besprengung wurde beibehalten, doch zur Erlangung des Blutes wurde nicht mehr getötet, sondern nur noch gegeißelt; Pausanias überliefert:

Und darauf erging ein Spruch an sie, den Altar mit Menschenblut zu bespritzen. Als geopfert wurde, wen das Los traf, ersetzte Lykurgos das durch die Geißelung der Epheben, und so wird der Altar ebenfalls mit Menschenblut bespritzt. Die Priesterin steht mit dem Holzbild daneben. Das ist sonst leicht durch seine Kleinheit, wenn aber jemand aus Rücksicht auf Schönheit oder Rang eines Epheben vorsichtig schlägt, dann wird das Bild für die Frau zu schwer und nicht mehr leicht tragbar. Sie beschuldigt die Geißelnden und sagt, sie werde ihretwegen bedrückt. So ist es dem Kultbild von Tauris her geblieben, sich immer noch an Menschenblut zu freuen.             (27)

Die Statue der Artemis ist – wie Pausanias hier überliefert – aus Holz, denn sie ist die Göttin des Waldes. Der spartanische Brauch der Menschenopfer und später der Ephebengeißelung wurzelt also im Baumkult.

Auch Mutter Erde verlangte vom Menschen, der sie verletzte und ausbeutete, zur Wiedergutmachung Opfer. Doch im Gegensatz zum Baumkult sind Beispiele für Opfer direkt an Gaia nur selten bezeugt. Der Grund dafür dürfte sein, dass die Erde im Kult schon sehr früh durch andere Gottheiten vertreten wurde. Vor allem durch Demeter (28), die bei den Römern Ceres heißt, Göttin der Ackererde, die der Bauer durch Gebete und Opfer gnädig stimmt, damit sie ihm gute Ernte gewährt. Zur Mutter Erde gehören auch die Verstorbenen, die in ihren Schoß, aus dem sie geboren wurden, zurückgekehrt sind. Sie wohnen im Hades, im Totenreich, deren Herrscher, der Totengott, ebenfalls Hades, oder  Pluton, heißt; oft wird er auch Zeus chtonios, der unterirdische Zeus, genannt. Hades bildet zusammen mit seiner Gemahlin Persephone das Herrscherpaar im Inneren der Erde, in der Unterwelt. Persephone ist die Tochter Demeters, und das ist kein Zufall, da die Welt der Toten unter und die Ernte auf der Erde zusammenhängen, was im Folgenden deutlicher werden soll. Ein gutes Beispiel, das den Totengott und die Erntegöttin zusammenbringt, findet sich in Hesiods Werken und Tagen. Der Bauer, der im Frühling seinen Acker pflügt, soll zu Zeus chtonios, dem Herrscher der Toten und zugleich zur Erntegöttin Demeter beten:

Bete zu Zeus in der Tiefe und zu Demeter, der hehren, dass sich Demeters heilige Frucht zu reifer Schwere vollende     (29)

Dass reicher Erntesegen nur durch Mitwirkung von Pluton und seinem Totenreich zustandekommt, weshalb der Name Pluton und der Begriff plutos „Reichtum“ zusammenhängen, war altgriechischer Volksglaube, den Platon in seinem Dialog Kratylos (403a) den Sokrates wiedergeben lässt:

Pluton aber ist offenbar in Beziehung auf die Gabe des Reichtums (Plutos) so genannt worden, weil nämlich der Reichtum von unten aus der Erde kommt.

Plutos war ursprünglich der Reichtum in Gestalt von Feldfrüchten, die reiche Ernte. Er galt als Kind der Demeter, also als Verkörperung der Ernte, die die Göttin der fruchtbaren Ackererde aus ihrem Schoß gebiert (vgl. zum Beispiel Hesiod: Theogonie 969ff.).
Ein anderer Beleg für das Zusammenwirken von Totenwelt und Erntegöttin findet sich in Festus‘ Lexikon:

Praecidanea agna vocabatur, quae ante alias caedebatur. Item porca, quae Cereri mactabatur ab eo, qui mortuo iusta non fecisset, id est glebam non obiecisset quia mos erat eis id facere, priusquam novas fruges gustarent.

Voropfer wurde das (weibliche) Lamm genannt, das vor den anderen geopfert wurde. Ebenso nannte man die Sau, die der Ceres von jemandem geopfert wurde, der einen Toten nicht gebührend behandelt hatte, das heißt, einen Klumpen Erde auf ihn zu werfen versäumt hatte, denn der Brauch forderte dies zu tun, bevor man die neu geernteten Feldfrüchte kostete.

Wer im Zusammenhang mit einem Todesfall seine Pflicht nicht erfüllt hat, das heißt, keine Handvoll Erde auf den Leichnam gestreut hat, muss diese Unterlassung wiedergutmachen, indem er der Ceres ein Schwein opfert, bevor er von den neu geernteten Feldfrüchten kostet. Was haben nun Ernte und Erntegöttin mit dem Toten zu tun? Warum gebührt ihr und nicht dem Totengott Hades Wiedergutmachung durch ein Opfer? Das Auflegen der Erde ist Symbol für die Beerdigung: Der Tote wird der Erde übergeben. Zugrunde liegt hier uraltes Kreislaufdenken: Damit die Erde für die Menschen Feldfrüchte hervorbringt, muss sie gedüngt werden. Der Mensch, der sie durch intensiven Ackerbau ausbeutet und auslaugt, muss ihr zum Ausgleich etwas zurückgeben, etwas Organisches: Menschen, Tiere, Blut, Milch, Honig oder Feldfrüchte. Dazu passt ein Scholion zu Sophokles‘ Drama Antigone, in dem steht:

Es heißt auch, dass der Buzyges zu Athen diejenigen verwünschte, welche einen unbestatteten Leichnam liegen lassen.

Buzyges heißt Stieranspanner. Die Buzygen waren ein angesehenes attisches Priestergeschlecht, dem das Ritual der heiligen Pflügung oblag. Einen Leichnam unbestattet liegen zu lassen, war Frevel, weil man dem Verstorbenen die Rückkehr in den Schoß seiner Mutter, der Erde, verwehrte. Und weil man der Erde den Leichnam vorenthielt. Das Scholion bringt den Leichnam mit dem Pflügen, also mit der Landwirtschaft zusammen. Was nur so erklärt werden kann, dass die Leiche der vom Menschen ausgelaugten Mutter Erde als Dünger zusteht.
Die Vorstellung, dass die Erde verwesende Leichen als Menschenopfer empfängt, findet sich auch in Aischylos‘ Drama Die Perser. Das persische Heer, mit dem Großkönig Xerxes Griechenland unterwerfen wollte, wurde in der Schlacht bei Plataiai besiegt; über die gefallenen feindlichen Soldaten heißt es:

Sie bleiben, wo die Ebene des Asopos Flut
Benetzt, fruchtbarer Segen fürs böotische Land.                    (30)

Der archaische Blut- und Todeskult, der hier durchschimmert, war dem Übersetzer wahrscheinlich unheimlich, deshalb gibt er das griechische „philon pjasma“ abgeschwächt mit „fruchtbarer Segen“ wieder; die eigentliche Bedeutung aber ist „willkommener Dünger“ oder „Dünger, der der böotischen Erde lieb ist“ (31). Einige Verse später (816f.) bezeichnet Aischylos ihre Leichen als „blutiges Opfer (pelanos haimatosphages)“, das auf der Erde von Plataiai liegt, nachdem es von der dorischen Lanze (also von den Lanzen der Spartaner, die in dieser Schlacht mitkämpften) dargebracht worden ist.
Die Vorstellung, dass gefallene Soldaten mit ihrem Blut den Boden düngen, begegnet auch in Bram Stokers Vampir-Klassiker Dracula. Voller Stolz sagt Graf Dracula von seiner transsilvanischen Heimaterde:

… denn es ist der Boden, auf dem Jahrhunderte lang Wallachen, Sachsen und Türken kämpften. Nun, da ist schwerlich auch nur ein Fußbreit Erde, der nicht Menschenblut getrunken hat, von Freund und Feind                 (32)

Auch in dieser Übersetzung ist der eigentliche Sinn abgeschwächt. Deshalb sehen wir uns das Original an:

… there is hardly a foot of soil in all this region that has not been enriched by the blood of men, patriots or invaders.

“to enrich” in Verbindung mit “soil” heißt “düngen”! Die Übersetzung muss also lauten:

Nun, da ist schwerlich auch nur ein Fußbreit Boden, der nicht mit Menschenblut gedüngt worden ist, von Freund und Feind.

Ständige Zufuhr von Kadavern und Blut hält die Erde fruchtbar, verhindert, dass sie ausgelaugt, steril wird, dass der Boden schließlich tot ist. Wird dieser Kreislauf von Leben und Tod nicht gestört, bleibt die Erde ewig lebendig, eine unsterbliche Gottheit, die Leben gibt und nimmt. Auch für den Vampir gilt das: Durch das Trinken von Menschenblut bleibt er unsterblich (33), er ist deshalb ein chthonischer (34) Dämon, mit der Erde verwandt und eng mit ihr verbunden. Deshalb führt Dracula auf seiner Reise nach England viele Kisten mit sich, die gefüllt sind mit transsilvanischer Erde, zu der er ein magisches Verhältnis hat. Denn ohne dieses Erdreich ist er nicht überlebensfähig; er braucht den Kontakt mit ihm, um sich zu regenerieren (35). Und nach Demeter, der Göttin der fruchtbaren Ackererde, ist deshalb das Schiff benannt, das Dracula und das Erdreich nach England bringt.
Bei der Erdgöttin Demeter bleiben wir noch, weil wir mit ihr eine weitere Schlüsselstelle in Stokers Roman deuten wollen.
Zur Natur, die der Mensch ausbeutet und vergewaltigt und deshalb heftige Schuldgefühle empfindet, gehören neben Bäumen, die er fällt, und Waldtieren, die er jagt, auch Getreidehalme, die er bei der Ernte abschneidet (36). Und für dieses Getreide war – wie schon gesagt – Demeter zuständig, die bei den Römern Ceres hieß. Ihr Zorn über die brutalen Verletzungen musste mit Opfergaben besänftigt werden: „Spelt aber säten die Alten, aus Spelt bestand ihre Ernte; was man als erstes an Spelt schnitt, wurde Ceres geweiht“ – erinnert Ovid an den alten Brauch, der Muttergöttin die Erstlinge geernteter Feldfrüchte zu opfern (37). Auch aus dem alten Ägypten wird ein Erntebrauch überliefert, durch den Bauern bei der Getreideernte Schuldgefühle und Reue gegenüber der Muttergöttin Isis zum Ausdruck brachten:

Für die Entdeckung jener Früchte soll ein Gebrauch zeugen, der sich in Ägypten aus der alten Zeit erhalten habe: Noch jetzt rufen die Einwohner in der Ernte die Isis an, indem sie die ersten  geschnittenen Ähren niederlegen, und neben der Garbe stehend sich selbst schlagen.              (38)

Den Getreidepflanzen wird nicht nur vom Menschen, der sie aberntet, brutale Gewalt angetan, sondern auch von seinem Haustier, dem Schwein, das sie gerne aus ihrer Mutter, dem Erdboden, herauswühlt. Den Zorn der Schutzherrin Ceres, Repräsentantin  der vom Menschen bebauten Erde, des Ackers, muss der Bauer deshalb mit dem Blut des Übeltäters beschwichtigen, das heißt, er muss ihr eines seiner Schweine als Opfer darbringen – das überliefert Ovid in seinen Fasti:

Ceres erfreute zuerst sich am Blut des gefräßigen Schweines,
Die durch des Schädlings Tod rechtmäßig rächte die Saat.
Denn – so erfuhr sie – im Lenz, als die saftigen Pflänzchen den zarten Furchen entsprossen,
Wühlte das borstige Tier sie mit dem Rüssel heraus.
Büßen musste das Schwein.                                 (39)

Wie die wilden Tiere des Waldes, die der Mensch jagt, schutzbefohlene Kinder der Muttergöttin Artemis sind, so sind die Getreidehalme, die aus dem Schoß der Mutter Erde wachsen, Kinder der Demeter, und das Schwein, das sie auswühlt, vergeht sich an Mutter und Kindern. Beide Muttergöttinnen müssen mit dem Blut der Übeltäter beschwichtigt werden (40).
Getreidepflanzen, die ihrer Ernte entgegenwachsen, benutzt der Vampirjäger Van Helsing als Metapher, um zu erklären, warum es Dracula nach England zieht:

Ich habe ihnen dargelegt, dass der Entschluss, sein eigenes, dünnbevölkertes Land zu verlassen  und ein neues Land aufzusuchen, wo die Menschen dicht wie Kornähren wachsen, das Werk von Jahrhunderten war.                                      (41)

I have told them how the measure of leaving his own barren land, barren of peoples, and coming to a new land where life of man teems till they are like the multitude of standing corn, was the work of centuries.

Im Gegensatz zu dem menschenarmen Transsilvanien ist England dicht besiedelt – dort gibt es für den Vampir mehr Beute. Um die hohe Bevölkerungsdichte in England zu veranschaulichen, kommen Van Helsing massenhaft wachsende Getreidehalme in den Sinn – ein Bild intensiver Landwirtschaft, von Monokultur. In Kapitel 3 schildert Stoker den Waldreichtum des wirtschaftlich und technisch rückständigen Transsilvanien, dessen Natur noch nicht intensiv ausgebeutet wird  – England ist das Gegenteil davon. Es ist arm an Wäldern, denn sie wurden rücksichtslos gerodet, um Ackerland sowie Holz für die Kriegs- und Handelsschiffe der Seemacht zu gewinnen. Dass der Mensch die Natur intensiv ausnutzt, dass er gewaltige Mengen Getreidehalme aberntet, erregt den Zorn der Erdgöttin Demeter, die es nach Blut- und Menschenopfern verlangt, und deshalb - Name des Schiffs! - Dracula als ihren Rächer nach England bringt. In dem Bild der Engländer, die mit Getreidehalmen verglichen werden, ist der Spieß umgedreht, damit ausgleichende Gerechtigkeit walte: Die Engländer sind Getreide am Halm („standing corn“), also noch nicht vom Menschen abgeerntet oder vom Sturm umgeknickt, aber zur Ernte reif oder ihr entgegenreifend. Dracula kommt als Sensenmann, als Schnitter, als Allegorie für den Tod. Bereiten will er den Engländern das Schicksal der Natur, die sie vergewaltigen und ausbeuten, auf deren Kosten sie sich so zahlreich vermehren, dass sie unberührte Länder kolonisieren und bevölkern; aus solch einem noch wenig vom Fortschritt berührten Land, aus Transsilvanien, kommt der Gegenschlag zurück in die imperialistische Metropole (42) - aus Stokers Roman sprechen unbewusster Selbsthass und Strafbedürfnisse nicht nur der Briten, sondern des westlichen Menschen überhaupt.

Zum Thema Verwandtschaft zwischen Mutter Erde und Vampir gehört auch die Kain-und-Abel-Sage im Alten Testament. Die beiden Brüder bringen Gott Opfer dar; Abels Opfer ist Gott wohlgefällig, aber Kains Opfer verschmäht er. Da erschlägt Kain seinen Bruder, und Gott spricht:

Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen.              (1. Mose 4,9-11)

Die Erde, die ein Maul hat, mit dem sie das Blut eines getöteten Menschen gleichsam trinkt, erinnert an die Vampire, die sich durch Saugen von Blut ernähren. Abels Tod lässt sich als Menschenopfer deuten, das Kain, der Bauer ist, seiner Ackererde darbringt, wofür auch der Tatort spricht: "Lass uns aufs Feld gehen!", fordert Kain seinen Bruder auf, und "als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot." (1. Mose 4,8). Weil der christliche Gott sein Opfer verschmäht, wendet Kain sich wieder der vom Christentum besiegten naturreligiösen Verehrung chthonischer Mächte zu  und opfert der Erde einen Menschen - Mutter Erde aber ist das Urprinzip des Weiblichen, das vom patriarchalischen Christentum mit seinem Vatergott abgewertet und zum Ausbeutungsobjekt degradiert worden ist: Der männliche Gott hat Ge verflucht (1. Mose 3,17), er hat Adam und Eva befohlen: "Macht euch die Erde untertan!", und er hat Noah und seine Söhne zur (Terror)Herrschaft  über Mutter Natur, zu der Ge gehört, aufgefordert: "Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde. Furcht und Schrecken vor euch sei über allen Tieren auf Erden ..." (1. Mose 9,1-2). In Stokers Roman ist der Spieß ungedreht: Furcht und Schrecken jagt der Vampir als chthonischer Dämon dem Menschen ein - die Natur schlägt zurück, auch die unterdrückte Natur im Menschen, zu der die Sexualität gehört - das Blutsaugen ist oft als Symbol für verdrängte sexuelle - auch lesbische - Wünsche gedeutet worden. Nicht zufällig gehören daher zu den Gegenattacken der Vampirjäger Anschläge auf Draculas Heimaterde, die er in Kisten nach England mitgebracht hat. Sie machen diese Erde durch Hostien unfruchtbar. Hostien gehören zum christlichen Kult - der Kampf der Vampirjäger gegen Dracula ist ein Kampf des Christentums gegen die von ihm unterdrückte Naturreligion, die sich auflehnt, ein Kampf gegen Gaia.

Dass die Erde neues Leben hervorbringt, wenn Blut sie fruchtbar macht, überliefert die antike Sage oft. Nur zwei Beispiele:
Als Kronos seinen Vater Uranos entmannte, tropfte das Blut, das er dabei vergoss, auf die Erde:

... denn all die blutigen Tropfen, die herabfielen, empfing Gaia und gebar im Kreislauf der Jahre die starken Erinyen, die großen Giganten in strahlender Rüstung und mit langen Speeren in der Hand sowie auch die Nymphen, die man auf der unendlichen Erde Melische (Eschennymphen) nennt.    (43)

Von dem abgeschlagenen Gorgonenhaupt, mit dem Perseus über Libyen fliegt, fallen Bluttropfen auf die Erde:

Und als der Sieger über Libyens Sand schwebte, fielen blutige Tropfen vom Gorgonenhaupt, der Boden nahm sie auf und belebte sie zu schillernden Schlangen. Daher ist jenes Land mit vielen Nattern verseucht.   (44)

In beiden Stellen kann man das Blut als Samen deuten, der die Erde befruchtet, und zugleich im Sinne des uralten Kreislaufgedankens als Dünger, der sie fruchtbar macht.

Das Christentum rühmt sich, diesen chthonischen Blutkult durch Menschen- und Tieropfer überwunden zu haben, doch man kann Überreste finden. Als Nachfolger der heidnischen Menschenopfer lassen sich die christlichen Märtyrer deuten, die der Sache ihrer Glaubensgemeinschaft, für die sie sich opferten, Segen bringen. So sagt Tertullian in seinem Apologeticum, seiner Schrift zur Verteidigung des Christentums, dass das vergossene Blut der Märtyrer, die ihr Leben opfern, Same ist, weil dadurch für das Christentum neue Bekenner geworben werden:

Nec quicquam tamen proficit exquisitior quaeque crudelitas vestra; illecebra est magis sectae. Plures efficimur, quotiens metimur a vobis: semen est sanguis Christianorum.   50,13

Und doch, die ausgesuchteste Grausamkeit von eurer Seite nützt nichts; sie ist eher ein Verbreitungsmittel unserer Genossenschaft. Nur zahlreicher werden wir, so oft wir von euch niedergemäht werden; ein Same ist das Blut der Christen.

Auch der Blut-und-Boden-Dichter Carl Maria Holzapfel sagt in seinem Gedicht Schlageter, dass der von den Franzosen hingerichtete Freikorps-Mann, den die rechte und NS-Propaganda als „Blutzeugen“, der sich für das Vaterland geopfert hat, verherrlichte und dessen Leichnam unter großem Propagandaaufwand ins unbesetzte Deutschland überführt und feierlich beigesetzt wurde, „Saat“ ist, die im „Geist der tiefsten Opferfülle“ für die nationale Bewegung fruchtbar sein werde:

Du bist die Saat, die unter dunklen Schollen
Zukünft’gem Werden alle Kräfte schenkt,
Die still vergeht und doch den lebensvollen
Und fruchtbeschwerten Halm zur Sonne drängt!

Du bist der Geist der tiefsten Opferfülle,
Der stirbt und aufersteht in harter Pflicht,
Ein Keim des Lebens, der in zarter Hülle
Die Fessel bergeschwerer Schollen bricht!

Es kommt die Zeit der Sommersonnenwende,
Da sprengt dein Geist die stille sandige Bucht,
Und in der Enkel morgenfrühe Hände
Streust du den Segen tausendfältiger Frucht!

              

1) „Pam-meteira“ im Homerischen Hymnus auf Allmutter Erde, 1, „pam-metor“ in Aischylos: Der gefesselte Prometheus, 90

2) Charles A. Eastman: Indian Heroes and Great Chieftains (Reprint 1991. Originally published: Boston 1918), Kapitel 7: Sitting Bull

3) Albrecht Dieterich: Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion, 3. Auflage, 1925, S. 13

4) Den archetypischen Glauben, dass Felsen oder Steine zur Erde gehören, veranschaulicht besonders gut Ovid in seinen Metamorphosen. In der Sage von Deukalion und Pyrrha (I, 352ff.) sind die Felsen wegen ihrer Härte das Knochengerüst der Erde. Als nach der großen Sintflut alle Menschen außer Deukalion und Pyrrha vernichtet sind, erhalten die beiden Überlebenden vom Orakel der Themis den Auftrag: „Werft hinter euren Rücken die Knochen der großen Mutter!“
Deukalion errät den Sinn des Orakelspruchs: „Magna parens terra est“ – die große Mutter ist die Erde. Die beiden werfen Steine hinter sich, aus denen ein neues Menschengeschlecht entsteht.

5) Dieterich, a.a.O, S. 19f.

6) Dieterich, a.a.O., S. 20 Fußnote 1

7) Dieterich, a.a.O., S. 20f.

8) Brüder Grimm: Deutsche Sagen 408 (413): Ursprung der Sachsen

9) Vgl. Wilhelm Wackernagel: Die Anthropogonie der Germanen, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 6 (1848), S. 15

10) Odyssee 19, 162f. – Übersetzung: Anton Weiher

11) Zum Archetypus Mutter Erde gehört auch die Vorstellung der Heimat als Mutter, deren Söhne und Töchter die Landeskinder sind.

12) Bibliothek des Apollodor III,188-190

13) Roscher: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Artikel: Gaia, Spalte 1578

14) Dieterich, a.a.O., S. 46

15) Dieterich, a.a.O.; S. 46f.

16) 31ff., Übersetzung: Wilhelm Willige/Karl Bayer

17) Übersetzung: Otto Gildemeister

18) Sure 223, Übersetzung: Max Henning

19) Ovid: Metamorphosen I, 94ff. – Übersetzung: Michael von Albrecht

20) Ovid: Metamorphosen I, 128ff. – Übersetzung: Michael von Albrecht

21) Plinius: Naturgeschichte 33,1 – Übersetzung: Roderich König /Gerhard Winkler

22) = Fußnote 2

23) 332ff. – Übersetzung: Wilhelm Willige / Karl Bayer

24) Z.B. Tacitus: Germania 39

25) Der Begriff dafür ist „Bauopfer“ – vgl. den Artikel Bauopfer im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens

26) Zum Beispiel fränkische Krieger, die den Padus (Po) überschritten, gotische Frauen und Kinder schlachteten und als Opfer in den Fluss warfen – Prokop: Gotenkrieg II,25

27) Pausanias: Beschreibung Griechenlands III, 16,9 – Übersetzung: Ernst Ziegler

28) Vgl. Georg Wissowa: Religion und Kultur der Römer, S. 160f.

29) 464f. – Übersetzung: Otto Schönberger

30) 805f. – Übersetzung: Oskar Werner

31) Vgl. Aeschylus: Persians. Edited with an Introduction, Translation and Commentary by Edith Hall, S. 163:
to fatten pleasingly: piasma (from piaino, make fat) would naturally seem to be in apposition to the river Asopos. But this may be a case of rich Aeschylean ambiguity, for a more sinister interpretation puts it in apposition to the subject of mimnusi, and sees the bodies of the Persians as waiting to enrich, as corpses, the soil of Plataea: in Aeschylus’ Seven against Thebes Amphiaraus predicts that he will die and fatten (piano) the Theban earth (587).”

32) Bram Stoker: Dracula. Ein Vampir-Roman. 5. Auflage. 2013. Aus dem Englischen von Heinz Widtmann. S. 34

33) Auch Draculas Jünger, der Irrenhäusler Renfield, der gerne Tiere wie Fliegen und Spinnen isst und Blut trinkt, will dadurch unsterblich werden:
„Ich bildete mir ein, … dass man durch Verzehren lebender Wesen … sein Leben bis ins Ungemessene verlängern könne. Manchmal war der Glaube daran so stark in mir, dass ich tatsächlich den Wunsch hatte, mir ein Menschenleben einzuverleiben. Herr Dr. Seward wird mir bestätigen, dass ich gelegentlich zu töten versuchte in der Absicht, meine Lebenskraft zu erhöhen, indem ich durch das Medium des Blutes eine Verschmelzung seiner Kraft mit meinem Leibe erhoffte, denn, wie die Bibel sagt: das Blut ist das Leben.“ – a.a.O., S. 306

34) Der Begriff „chthonisch“ leitet sich von griechisch chton „Erde“ ab und bezeichnet Gottheiten, die mit der Erde verbunden sind, mit Fruchtbarkeit und Tod wie Demeter, Persephone, Hades und andere.

35) Zu den Gegenattacken der englischen Vampirjäger gehören deshalb auch Anschläge auf diese Erde, die durch Blut fruchtbar ist. Indem sie eine christliche Hostie hineinlegen, sterilisieren sie sie, das heißt, sie machen sie unfruchtbar, wirkungslos, tot.

36) Vgl. Wolfgang Speyer: Töten als Ritus des Lebens. Zum Sinn des Opfers, in: Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. Kleine Schriften II, S. 39f.:
„Der Gewissenskonflikt wurde ferner dadurch verschärft, dass die frühen Ackerbauern die unbelebte und belebte Natur zunächst nicht anders als die Jäger und Sammler als Offenbarung der heiligen Macht und nunmehr der in den verschiedenen Bereichen der Natur waltenden Gottheiten erlebten. Jede Rodung, jedes Ackern, jeder Halmschnitt musste ihnen deshalb zugleich auch als Angriff auf die alles bestimmenden göttlichen Mächte erscheinen. Als Reaktion fürchteten sie so den Zorn oder den Fluchaspekt der Götter dieser Bereiche, von denen ihr Leben und ihr Wohlergehen abhingen.

37) Ovid: Fasti II,519f. – Übersetzung: Wolfgang Gerlach / Niklas Holzberg

38) Diodor I,14

39) Ovid: Fasti I,349ff. – Übersetzung (von mir, G.H.W., leicht abgewandelt): Niklas Holzberg; vgl. auch Hyginus: Fabulae 277; Aelianus: Tiergeschichten X,16; Ovid: Metamorphosen XV, 111-113

40) Doch nicht nur das Schwein wird bestraft, sondern auch der Bauer, der es opfert, da er auf ein Stück seines Reichtums an Vieh verzichtet. Vorchristliche Bauern  empfanden Schuld, wenn sie mit dem Pflug die Erde verletzten, sie aufrissen  – die Schweine, mit deren Blut Demeter entschädigt wird, lassen sich auch als Ersatz für ursprüngliche Menschenopfer deuten, denn der wahre Übeltäter, der die Erde mit dem Pflug verletzt, intensiv ausbeutet und durch intensive Viehhaltung in die Natur eingreift, ist der Mensch.

41) a.a.O., S. 415

42) Vgl. vor allem Stephen Arata: The Occidental Tourist: „Dracula“ and the Anxiety of Reverse Colonization, der den Charakter von Draculas Angriff auf England als „reverse colonization“ herausarbeitet.

Auch Judith Wilt deutet in Ghosts of the Gothic  (S. 92) die Heimsuchung Englands durch Dracula als Reaktion auf das Eindringen des westeuropäischen Imperialismus in rückständige Länder (wofür der Engländer Jonathan Harker steht, der in das abgeschiedene Transsilvanien eindringt); sie spricht von „penetration-with-counterattack“ als „spine of Gothic fiction in a century of imperialism“ und bezeichnet  Draculas Vorstoß nach England als „awful visitations of the old powers and races upon the young“ – „visitation“ ist ein religiös gefärbter Begriff, den COLLINS als „visiting of punishment … from heaven“ definiert.

43) Hesiod: Theogonie 184ff. - Übersetzung: Otto Schönberger

Ovid: Metamorphosen IV, 617ff. - Übersetzung: Michael von Albrecht

   
 
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