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EINE BLUME PFLÜCKEN STEHT FÜR ENTJUNGFERN


Blume bedeutete früher auch Jungfräulichkeit; eine Blume (ab)brechen nannte man die Entjungferung eines Mädchens (Grimm: Deutsches Wörterbuch, Stichwort Blume). Deflorieren, das Fremdwort für entjungfern, kommt von lateinisch de-flor-are, in dem flos, floris "Blume", "Blüte" steckt, und bedeutet wörtlich: (ein Mädchen) der Blume/Blüte berauben. Das gilt auch für das englische to de-flower.

Diese Symbolik kommt auch in dem Traum eines Mädchens vor, den Freud in seine Traumdeutung (GW II/III, 378-382) aufgenommen hat. Ein Kollege von ihm, Alfred Robitsek,  hatte eine Patientin, die zwar nicht neurotisch, aber "eher prüde" und "zurückhaltend" war und vor einer Heirat stand, der sich Hindernisse in den Weg stellten. Sie träumte unter anderem, sie richte "die Mitte eines Tisches mit Blumen für einen Geburtstag" her, und zwar mit "teuren Blumen, für die man zahlen muss". Der Kollege deutet den Geburts-Tag, den sie im Traum vorbereitet, als Geburt eines Kindes, mit der sich ihre Gedanken beschäftigen, und die Schnittblumen als Symbole, dass sie dafür entjungfert werden muss. Und dass sie Blumen darbringt, die "teuer" sind, "für die man zahlen muss", bedeute, dass sie ihre Jungfräulichkeit schenkt und "dafür ein reiches Liebesleben", aber wohl auch finanzielle Versorgung von dem Mann erwartet.

Als der Analytiker von der Patientin, deren Muttersprache Englisch war, wissen wollte, um was für Blumen es sich handelte, nannte sie „lilies of the valley, violets and pinks or carnations“, also Maiglöckchen, Veilchen und Nelken. Dann fragte er sie, was ihr zu diesen Blumen spontan in den Sinn komme; diese Frage nach den Assoziationen des Analysanden gehört zur Methodik der psychoanalytischen Traumdeutung. Freuds Kollege vermied es dabei „sorgfältig“, „ihr die Bedeutung dieser Symbolik zu suggerieren“.  Zu den violets fiel ihr to violate ein, das englische Wort für "vergewaltigen", sie offenbarte also einen masochistischen Zug, wie ihn ja viele Menschen haben, und wohl auch den unterschwelligen Wunsch, ihre Prüderie möge durch energisches Vorgehen des Mannes überwunden werden, damit sich ihre Sehnsucht nach Mutterglück erfülle. Zu den carnations fiel ihr incarnation ein - sie wollte schwanger werden. Zu den Maiglöckchen assoziierte sie „purity“, was ihrem Analytiker ebenfalls sinnvoll erscheint, da es zu den lilies passt, die in dem englischen Namen der Maiglöckchen enthalten sind, denn die Lilie ist ein traditionelles Symbol für die Jungfräulichkeit, die die Braut zu opfern bereit ist. Robitseks Deutung wagen wir zu ergänzen, indem wir daran erinnern, dass Inkarnation ein religiöser Begriff ist und die Fleischwerdung des christlichen Gottes im Schoße Mariae meint und dass die Lilie insbesondere die Jungfräulichkeit der Gottesmutter Maria symbolisiert und deshalb auch Madonnenlilie genannt wird. Auf Gemälden alter Meister, die Mariae Verkündigung darstellen, fehlt sie deshalb nur selten. Eine weiße Madonnenlilie hält der Erzengel Gabriel in der Hand, als er Maria verkündigt, dass Gott sie durch den Heiligen Geist schwängern wird; auf manchen Bildern steht die Lilie auch in einer Vase. Diese Blume symbolisiert Marias jungfräuliche Reinheit, die dank der unbefleckten Empfängnis erhalten bleibt. Da eine abgepflückte Blume aber ein uraltes Symbol für Entjungferung ist, lässt sie sich auch als Zeichen deuten, dass Maria auf natürliche Weise schwanger wird; die unbefleckte Empfängnis ist eine Erfindung des Christentums, das Sexualität als schmutzig, animalisch und sündig verteufelt. Vorchristlichen Religionen war diese Vorstellung fremd: Frauen des antiken Mythos wie Europa oder Leda zum Beispiel waren nach ihrer Schwängerung durch Zeus keine Jungfrauen mehr. Das Christentum hat die gepflückte Blume zum Symbol der asexuellen Reinheit umgedeutet (1). Zur ursprünglichen, unverfälschten Bedeutung der Madonnenlilie, die im menschlichen Unterbewusstsein, in das sie verdrängt wurde, weiterlebt, passt die incarnation, die der Analysandin als Begriff für das Schwangerwerden, das sie für sich erhofft und das durchaus biologisch-animalischen, nicht göttlich-wunderbaren Charakter haben soll, in den Sinn kam.
Auch die Reihenfolge, in der die Analysandin die drei Blumen nennt, „lilies of the valley,violets and … carnations“, dürfte kein Zufall sein. Am Anfang ist sie jungfräulich, wofür die Lilie als christliches Symbol steht (und zugleich schon von dem Wunsch erfüllt, entjungfert und schwanger zu werden, wofür die Lilien, mit denen sie den Tisch schmückt, als gepflückte Blumen stehen), dann wird sie in der Hochzeitsnacht mit Gewalt genommen, was die violets symbolisieren, damit als Resultat Schwangerschaft, incarnation  eintritt.

Heidenröslein heißt ein Gedicht von Goethe, in dem es um eine Rosenblüte geht, die ein Knabe abpflückt:

Sah ein Knab‘ ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell es nah zu sehn,
Sah’s mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot
Röslein auf der Heiden.

Knabe sprach: ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!
Röslein sprach: ich steche dich,
Dass du ewig denkst an mich,
Und ich will’s nicht leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot
Röslein auf der Heiden.

Und der wilde Knabe brach
‘s Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
half ihr doch kein Weh und Ach,
Musst es eben leiden.

Der Rosenstock mit seiner Blüte und seinen Dornen steht für ein Mädchen. Die Blüte, die der Knabe bricht, ist das, was sie ziert: ihre Jungfräulichkeit, ihre Morgenschöne, ihr mädchenhafter Liebreiz, der dahingerafft wird, wenn sie Frau und Mutter wird. Ihrer Entjungferung widersetzt sie sich, indem sie den Vergewaltiger mit ihren Dornen kratzt und sticht, aber sie kann ihr Schicksal nicht abwenden.

Idyllisch hingegen ist Goethes Gefunden (Ich ging im Walde / So für mich hin...). Das lyrische Ich, ein Mann, will ein Blümchen, das ihm gefällt, pflücken ("brechen"), das aber einwendet: "Soll ich zum Welken / Gebrochen sein?" Er beherzigt es und gräbt es "mit allen / Den Würzlein aus" und pflanzt es in seinen Garten ein. Er heiratet es also, statt es nach der Entjungferung sitzen zu lassen, was heute auch manchmal bitter sein kann, wenn das Mädchen sich mehr als nur Sex erhofft hat, aber zu Goethes Zeit und noch heute unter konservativen Muslimen das Mädchen entehren konnte.

Geht es in einem literarischen Kunstwerk um eine Entjungferung, tauchen also gerne Blumen auf, die gepflückt werden oder schon gepflückt sind - Deflorationssymbole, die oft vom Autor nicht bewusst eingesetzt worden sind, sondern sich aus seinem Unterbewusstsein eingestellt haben. Ein Beispiel dafür ist Ich was ein chint so wolgetan (CB 185), ein mittelhochdeutsch-lateinisches Gedicht aus den Carmina Burana.
Ein Mädchen wird von einem Mann gewaltsam entjungfert, und zwar auf dem Weg zu einer Wiese, auf der sie Blumen pflücken will, was also kein Zufall, sondern Deflorationssymbolik sein dürfte.
Flos und von ihm abgeleitete Wörter gehören in dem Gedicht thematisch zusammen:
Als das Mädchen zur Jungfrau aufgeblüht war ("virgo dum florebam"), zog es sie auf eine Wiese, um Blumen zu einem Strauß zu pflücken ("flores adunare"), und wird dort Opfer eines Strolches, der ihr wohl aufgelauert hat, um sie dort zu entjungfern ("ibi deflorare"). Sie wollte Blumen pflücken und wurde selbst gepflückt; vielleicht sehnte ja ein Teil ihrer Seele dies unbewusst herbei, denn im Gedicht heißt es auch: "Er nahm mich bei meiner weißen Hand / Aber nicht ohne Anstand", und er führte sie "sehr listig" weg - sie ließ sich also überlisten; vielleicht kann man sagen: Halb zog er sie, halb sank sie hin.

Das Motiv des jungfräulichen Mädchens, das Blumen pflückt und selber gepflückt wird, kennt auch die griechische Mythologie. Demeters Tochter Persephone ist es bestimmt, Gemahlin des Unterweltgottes Hades zu werden.    Da sie dazu nicht bereit ist, lässt die Erdgöttin Gaia aus ihrem Schoß eine Narzisse von ungewöhnlicher Pracht sprießen, die Persephones Aufmerksamkeit fesselt. Sie will sie pflücken, streckt ihre Arme nach ihr aus, ist von ihrer Schönheit und  ihrem Duft abgelenkt, so dass Hades sie entführen kann. Er verschleppt sie unter die Erde in sein Reich der Toten und macht sie dort zur Frau und Königin; ihre unbeschwerte Mädchenzeit ist vorbei. Der Homerische Demeter-Hymnos nennt diese fatale Narzisse „dolos“, also „Köder“. Das ist sie auch, denn durch sie lockt Mutter Erde, die zur Natur gehört, das Mädchen unter die Herrschaft der Naturgesetze, zu deren Subjekt und Objekt es gemacht wird. Zum Subjekt dieser Gesetze ist sie bereit zu werden, als sie sich gleich einer Biene von Farbenpracht und Duft der Narzisse dazu verlocken lässt, sich ihr zu nähern, um sie abzureißen und so ihre Blütezeit zu beenden. Denn eine von Insekten befruchtete Blume verblüht bald, was auch für eine gepflückte Blume gilt, auch wenn man sie in eine Vase mit Wasser stellt. Auch Persephones noch halbkindliche Mädchenreize verblühen, wenn sie entjungfert wird – das gehört zum Kreislauf des Lebens; es ist ein Gesetz, das die gesamte Natur durchwaltet, die Natur im Inneren des pubertierenden Mädchens und die Natur um es herum; unter die Herrschaft dieses Naturgesetzes gerät Persephone uneingeschränkt, handelnd und erleidend. Dass sie dann  selber zum Objekt wird, zur gepflückten Blume, wird angekündigt, als sie „kalykopis“ genannt wird – was man im Deutschen so wiedergeben kann: Persephone ist ein Mädchen „mit Blumengesicht“, „mit Rosengesicht“ oder „wie eine Rosenknospe anzuschauen“.

Auch bei Shakespeare steht die Blüte für das, was Goethe "morgenschön" nennt, für die holden Mädchenreize, deren Verwelken durch Entjungferung und Schwängerung eingeleitet wird; ein jungfräuliches Mädchen, das sich weigert, den von ihrem Vater für sie ausgesuchten Mann zu heiraten, und dem deshalb droht, zur Strafe in ein Nonnenkloster gesteckt zu werden, wird im Sommernachtstraum gemahnt:

But earthlier happy is the rose distill'd
Than that which withering on the virgin thorn
Grows, lives, and dies in single blessedness.

Das Bild ist nicht romantisch, es beschönigt nichts. Der Nonne, der asexuellen und deshalb unfruchtbaren Himmelsbraut, deren mädchenhafte Schönheit nicht gepflückt wird, sondern am Strauch bleibt und dort ungenossen und ohne Früchte zu tragen verwelkt, wird das "irdischere", also natürliche Schicksal des verheirateten Mädchens gegenübergestellt, deren Blüte abgeerntet und verarbeitet, destilliert wird, um Rosenwasser aus ihr zu gewinnen, mit dem Süßspeisen gewürzt werden. Die Blüte wird dabei verbraucht, aber ihr Reiz, ihr Duft, bleibt erhalten, geht über in das Kind, das durch das Rosenwasser symbolisiert wird. Mit Hegel gesprochen: Die Mädchenschönheit ist aufgehoben im doppelten Sinne des Wortes. Beendet, weil die Rosenblüte abgeerntet und verarbeitet worden ist. Bewahrt im Kind.

Das Schicksal, ungepflückt zu verwelken, droht auch Jorinde im Grimmschen Märchen Jorinde und Joringel. Als das jungräuliche Mädchen mit ihrem Geliebten und Verlobten Joringel in einen tiefen Wald geht, "damit sie nun einmal vertraut zusammen reden können", womit gemeint sein dürfte: damit sie intim werden, gerät sie in eine mutlos-gedrückte Stimmung, die auch auf Joringel abfärbt. Wovor hat Jorinde Angst? Das verrät uns das Lied, das sie singt. Sie hat in dem Wald eine Turteltaube erblickt, also einen Vogel, der für Liebespaare steht, aber „kläglich" singt, und sie vergleicht sich mit diesem Tier, kommt sich in dieser Situation offenbar als Turteltäublein vor, das sich nicht wohl in seiner Haut fühlt:

Mein Vöglein mit dem Ringlein rot
Singt Leide, Leide, Leide;
Es singt dem Täublein seinen Tod
Singt Leide, Lei – Zicküth! Zicküth! Zicküth!

Was bedeutet das rote Ringlein? Jorinde meint damit die für Turteltauben typischen roten Ringe um die Pupillen, doch zugleich hat es auch noch eine andere, unbewusste Bedeutung: Durch einen Ring kann man etwas stecken, für den Freudianer ist er ein Vagina-Symbol. Und die rote Farbe steht für das Blut, das bei Jorindes Defloration fließen wird. Sie hat also Angst davor, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren und zur Frau und Mutter gemacht zu werden, sie scheut zurück vor diesem Schritt, der ihre unbeschwerte Kindheit beendet. So kommt es doch nicht zum ersten Geschlechtsverkehr und zu spät merken die beiden, dass sie dem Schloss der bösen Hexe gefährlich nahe gekommen sind. Diese verkörpert Jorindes Mutter und verwandelt sie in eine Nachtigall, die sie täglich füttert – wie eine Mutter ihr Kind – und bei sich gefangen hält. Jorinde hat sich also zurück in ihre Kindheit geflüchtet, zurück zur Mutter, bei der sie vor Entjungerung geschützt, aber auch unfrei ist.
Joringel aber pflückt eine rote Blume, der Zauberkraft innewohnt, und befreit mit ihrer Hilfe Jorinde aus dem Bann der Hexe-Mutter. Das Pflücken der Blume bedeutet natürlich Entjungferung: Er macht Jorinde zur Frau, zu seiner Frau, reißt sie dadurch von ihrer Mutter weg, aus ihrer Kindheit heraus.

Noch viel zu jung, um aus ihrer Kindheit herausgerissen zu werden, ist die kleine Maria im Horrorfilm Frankenstein aus dem Jahr 1931. Sie befindet sich unbeaufsichtigt am Ufer eines Sees, als das Monster vor ihr auftaucht, und sie erschrickt nicht, sondern lädt es arglos ein, mit ihr das „flower game“ zu spielen, wie das wohl fatalste Kinderspiel der Filmgeschichte genannt wird. Sie hat einen Strauß Blumen, von dem sie ihm die Hälfte abgibt, die beiden werfen ihre Blumen ins Wasser und sehen zu, wie sie schwimmen. Das Monster ist selig in der Rolle des Spielkameraden, und als er keine Blumen mehr hat, kommt er auf die Idee, das Spiel fortzusetzen, indem er Maria ins Wasser wirft, denn in seiner kindlichen Naivität glaubt er, es mache ihr Spaß, wie die Blumen oben zu schwimmen. Doch sie geht unter und ertrinkt, und er flieht entsetzt. Als er das kleine Mädchen wie eine der gepflückten Blumen behandelte, trieb ihn nichts Böses, wohl aber die weißen Produzenten des Films, denn die „little Maria scene“ hat wie auch die Seele eines Menschen ein Unterbewusstsein, einen Subtext: Es ist der verdrängte Wunsch erwachsener Männer, ein kleines Mädchen sexuell zu missbrauchen, zu entjungfern, der auf das Monster projiziert wird. Als der verzweifelte Vater mit seinem toten Kind in den Armen im Dorf auftaucht, bildet sich ein Lynchmob, um den vermeintlichen Vergewaltiger und Mörder zur Strecke zu bringen. Diese Jagdszene spielt in Bayern, erinnert aber fatal an Jagdszenen in dem Land, in dem der Film gedreht wurde: Einem Schwarzen wird ein sexueller Übergriff auf ein weißes Mädchen vorgeworfen, eine lynching party entsteht, jagt den Anderen mit Hunden und Fackeln und verbrennt ihn schließlich.
Dass das Opfer des Monsters den Namen der christlichen Gottesmutter Maria trägt, ist vielleicht kein Zufall. Die Madonna verkörpert ja die von niederer animalischer Sexualität unbeschmutzte Reinheit, und dieses Ideal gilt auch für Kinder, die wir uns als asexuelle Wesen, unschuldig und rein vorstellen. Von dem Frankenstein-Monster, das die Kleine wie die anderen abgepflückten Blumen behandelt, also entjungfert, wird diese kindliche Reinheit besudelt - das Monster verkörpert also verdrängte schmutzige Wünsche, die Erwachsene gegenüber Kindern hegen.
Doch nicht nur böse Absichten gegenüber kleinen Mädchen, sondern gegenüber Frauen überhaupt werden auf ihn projiziert, so dass er gejagt und gelyncht wird: Sein Opfer Maria steht zugleich für eine geschändete weiße Frau, deren „purity“ in der Zeit, in der der Film entstand, zum gesellschaftlichen Ideal gehörte. Das zeigt sich an seinem nächsten Opfer, dem er sich in der Rolle des „black rapist“ nähert. Es ist Elizabeth, die Verlobte seines Erzeugers Henry Frankenstein. Die beiden wollen heiraten, Haus Frankenstein ist zur Hochzeitsfeier geschmückt, in allen Räumen stehen Vasen mit Blumen, darunter auch weiße Blumen, die wohl Madonnenlilien sind (2). Elisabeth trägt ein Brautkleid, dessen weiße Farbe wie die weißen Blumen, die Madonnenlilien sind oder an sie erinnern, für die „purity“ der Braut steht, die ihre Jungfräulichkeit mit in die Ehe bringt (3). Sie ist ängstlich-nervös, weil sie ahnt, dass etwas Böses droht, und lässt sich von Henry kaum beruhigen. Als das Monster, von ihr unbemerkt, durch ein Fenster in ihr Gemach einsteigt, nimmt sie einen Blumenstrauß aus einer Vase (es könnte sich um ihren Brautstrauß handeln, der für die Hochzeitszeremonie bereitsteht), um etwas zu haben, an dem sie sich sozusagen in ihrer Nervosität festhalten kann. Wie schon in der little Maria scene trifft das Monster also auf ein weibliches Wesen, das Blumen hat, von denen ihm Elizabeth jedoch keine schenkt: Sie will mit ihm kein flower game spielen, sondern schreit um Hilfe, als sie ihn erblickt, und läuft vor ihm weg; die Blumen, die sie krampfhaft festhält, will sie sich nicht von ihm entreißen lassen. Sie symbolisieren auch in dieser Szene Entjungferung, die ihr durch das Monster droht (4). Entjungfert werden soll sie ja durch Henry Frankenstein in der Hochzeitsnacht – seinem Erzeuger will das Monster zuvorkommen und greift nach der für ihn verbotenen Frucht. Es ist ödipale Rebellion, denn Frankenstein ist der Vater des Monsters; er hat es gemacht, und sein Geschöpf wendet sich nun gegen ihn und will seine Stellung einnehmen. Hier zeigt sich wieder die Angst des weißen Mannes vor Rebellion des schwarzen Mannes, dem gegenüber er die paternalistische Stellung eines Vaters beansprucht, dessen unmündige Kinder die Schwarzen sind und bleiben.


Maria und Elizabeth sind beide Opfer des Monsters, das es in der Rolle des „black rapist“ auf ihre jungfräuliche Reinheit, die durch Blumen symbolisiert wird, abgesehen hat. Ein Mädchen, das damals, als der Film gedreht wurde, ihre Jungfräulichkeit nicht mit in die Ehe brachte, hatte weitaus geringere Chancen, einen Ehemann zu finden, was besonders dann galt, wenn sie von einem Schwarzen „geschändet“ worden war. Eigentlich bleibt ihr dann nur noch, sich das Leben zu nehmen, wie zum Beispiel Flora in dem rassistischen Stummfilm von 1915 The Birth of a Nation. Das junge weiße Mädchen, das von einem Schwarzen verfolgt wird, springt lieber von einem Felsen in den Tod, als sich  vergewaltigen zu lassen, denn sie hat das damalige Frauenideal verinnerlicht: Eine geschändete Frau ist nichts mehr wert und sollte tot sein. In patriarchalischen islamischen Milieus gilt das noch heute und immer wieder werden Mädchen Opfer eines Ehrenmordes. Dass Flora (5) in den Tod springt, könnte man Ehrenselbstmord nennen; eine amerikanische Lukrezia wird weißen Frauen als Vorbild angepriesen. Und die von einem Schwarzen entjungferte Maria wäre vielleicht von ihrem Vater getötet worden, wenn das Monster, das als Sündenbock für die bösen Wünsche der weißen Männer herhalten muss, ihm nicht zuvorgekommen wäre (6).
Maria, die als entjungfertes Mädchen gleich den von ihr gepflückten Blumen im Wasser endet, erinnert an Ophelia in Shakespeares Tragödie Hamlet. Sie und Prinz Hamlet lieben einander. Doch da die Staatsraison es ihm verbietet, sie zu heiraten, wird sie von Vater und Bruder ermahnt, ihn nicht mehr so nah an sich heranzulassen, damit sie sich nicht von ihm dazu verführen lässt, ihren „chaste treasure“, also ihre Jungfräulichkeit, „to his unmastered importunity“ zu „öffnen“ (I,3,31f.). Doch vieles spricht dafür, dass dies bereits geschehen ist, denn als Hamlet sich in vorgetäuschten Wahnsinn flüchtet und sie abweist und auch noch ihren Vater tötet, fällt sie in wirklichen Wahnsinn, singt vieldeutige Volkslieder, in denen es um ein entjungfertes Mädchen geht, das sitzengelassen wird (IV,5) und verteilt Blumen, die sie gepflückt hat, an ihren Bruder, den König und die Königin. Mit dem entjungferten, sitzengelassenen Mädchen meint sie sich selbst, und die gepflückten Blumen, die sie verschenkt, symbolisieren, dass sie „ihren Schatz“, also ihre Jungfräulichkeit, leichtfertig verschenkt hat. So tut sie in Andeutungen und Gesten kund, was ihr das Herz schwer macht, was sie aber in der patriarchalischen Gesellschaft nicht offen zugeben darf. Schließlich findet sie den Tod, als sie weitere Blumen am Ufer eines Baches sammelt, um aus ihnen Kränze zu flechten. Als der Zweig einer Weide, an dem sie sich festhält, abbricht, fällt sie ins Wasser, und zwar zusammen mit den Blumen:

There, on the pendent boughs her coronet weeds
Clamb’ring to hang, an envious sliver broke,
When down her weedy trophies and herself
Fell in the weeping brook.                 (IV,7,171-174)

Die von ihr abgepflückten Blumen werden als „trophies“ bezeichnet, was auch passt, denn Ophelia gleicht diesen Blumen. Sie ist Beute, Opfer Hamlets geworden, des Mannes, der ihren „Schatz“, ihre Jungfräulichkeit geraubt hat, so dass sie als Nonne in einem Kloster verwelken muss, weil keiner sie mehr heiraten will.
Die Blumen, die Ophelia pflückt und verschenkt, symbolisieren, dass sie sich Hamlet hingegeben hat, dass sie sich ihm geschenkt hat, dass sie also Sex mit ihm gehabt hat – das beweist auch eine obszöne Anspielung im Zusammenhang mit den long purples (
orchis mascula), die zu Ophelias Blumen gehören:

Therewith fantastic garlands did she make
Of crow-flowers, nettles, daisies, and long purples
That liberal shepherds give a grosser name,
But our could maids do dead men’s finger call them.         (IV, 7,167-170)  

Dieser volkstümliche obszöne Name könnte fool’s stones oder dogs stones sein, wobei stones „Hoden“ bedeuten. Oder priest pintell , also „Penis eines Priesters“  - orchis mascula wurde so genannt, weil ihre beiden Wurzelknollen an Hoden erinnern und deshalb die gesamte Pflanze einem Penis ähnlich sieht und weil man ihr aphrodisierende Wirkung zuschrieb (7). Das konfrontiert uns mit einem Widerspruch, denn der Name, auf den angespielt wird, verleiht den long purples phallischen Charakter und macht sie zu  männlichen Symbolen. Doch gepflückte Blumen – das ist ja das Thema unseres Textes - stehen für entjungferte Mädchen, sie sind also weibliche Symbole. Verkörpern Ophelias long purples nun einen Mann oder eine Frau? Sie verkörpern beides. Sie sind ein androgynes Symbol und stehen für die Vereinigung von Mann und Frau, von Hamlet und Ophelia im Liebesakt.


Weitere Beispiele:

Eugen Gomringer: avenidas  Das Gedicht vergleicht Frauen mit Blumen, die auf einer Flaniermeile verkauft werden. Bei den meisten solcher Blumen dürfte es sich um Schnittblumen, bzw. abgepflückte Blumen handeln, die sich als Deflorationssymbole deuten lassen. Die Frauen, für die die Blumen stehen, sind noch nicht verblüht, also jung und erotisch attraktiv. Ihre Schönheit lockt Männer an wie Blüten Bienen zur Bestäubung und Befruchtung, damit das Leben weitergegeben wird.


Jeanne-Marie Leprince de Beaumont: La Belle et la Bête / Die Schöne und das Biest  In dem Märchen bricht ein Vater in einem verwunschenen Schlosspark einen Zweig mit Rosenblüten ab, denn seine Lieblingstochter hat ihn gebeten, ihr eine Rose von seiner Reise mitzubringen. Das Pflücken der Rosen, das die Tochter sich von ihm wünscht, symbolisiert den unbewussten Wunsch des Vaters, seine Tochter zu entjungfern, und den unbewussten Wunsch der Tochter, von ihrem Vater entjungfert zu werden. Die Tochter ist an ihren Vater fixiert und der Vater an seine Tochter, doch zum Glück greift der in ein Untier verwandelte Schlossherr ein, den der Übergriff des Vaters auf den Plan ruft. Er setzt den Vater unter Druck und sorgt so dafür, dass sich die Tochter aus ihrer Vaterfixierung löst und flügge wird.  



1) Deshalb malten alte Meister die Madonnenlilie gerne ohne Stempel und Staubgefäße, in denen man ja Geschlechtsorgane sehen kann, da sie der Fortpflanzung dienen. Sexuelle Bedeutung hat der Stempel in der antiken Sage: Er erinnert an den Phallus eines brünstigen Esels und wurde der Lilie, die mit ihrer reinen zarten Haut prahlte, von Aphrodite verpasst, um sie zu beschämen (Der Kleine Pauly III, 651; Nicander: Alexipharmaka  405ff.; Athenaios: Deipnosophistai XV, 683). Schon in der Antike gab es offenbar eine Tendenz zur Desexualisierung der edlen Blume; sie konnte sich jedoch nicht durchsetzen, da die natürliche Sexualität, verkörpert durch die Liebesgöttin Aphrodite, sich nicht verteufeln ließ.

2) Ich bin mir allerdings nicht vollkommen sicher, ob es sich bei diesen Blumen, die nur unscharf zu sehen sind, um Madonnenlilien handelt. Wäre das der Fall, würden sie gut zu den Lilien in dem Traum von Robitseks Patientin passen.

3) Da die Lilien in Vasen stehen, also gepflückt sind, symbolisieren sie nicht nur ihre Jungfräulichkeit, sondern auch ihre Entjungferung, die in der Hochzeitsnacht geplant ist.

4) Dass die Attacken auf Maria und auf Elizabeth thematisch eng zusammengehören, weist auch Elizabeth Young in Black Frankenstein. The Making of an American Metaphor (S. 183) nach:
„In one sequence in Frankenstein, the monster enters Elizabeth’s room on her wedding night and corners her behind the locked door; the camera cuts to others hearing her screams, and when they break into her room, her white dress is disheveled, and she lies across one corner of the rumpled bed moaning desperately “Don’t let it come here.” Although the monster’s crime is officially the penetration of the room, his actions are framed precisely according to the imagery of interracial rape. The next scene metaphorically realizes the disastrous consequences of such a rape, when an angry young father displays to the crowd the body of his little girl, whom the monster has accidentally drowned.” 

5) Ihr Name ist symbolisch: „Flora“ kommt von lateinisch flos, floris „Blume, Blüte“. Das junge Mädchen ist geschlechtsreif geworden, metaphorisch kann man auch sagen: sie ist aufgeblüht, und ihre Blüte lockt allerlei Männer an, die sie entjungfern wollen, so dass die weißen Männer auf sie aufpassen müssen. Außerdem erinnert ihr Name an die römische Göttin Flora, die Personifikation der Blumen und überhaupt des Aufblühens der Natur im Frühling war.

6) Elizabeth Young, a.a.O, bemerkt treffend zu Maria und Elizabeth: „By the end of this sequence, the black man has become the archetypical rapist, and the white woman, if not actually dead, has assumed the role, as Jaqueline Dowd Hall puts it, of ‘the quintessential Woman as Victim: polluted, >ruined for life<., the object of fantasy and secret contempt.”

7) Charlotte F. Otten: Ophelia’s “Long Purples” or “Dead Men’s Fingers”. In: Shakespeare Quarterly Vol. 30, No. 3 (1979).



   
 
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