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Pneumatische Tiere, göttliche Vögel und das Bild des erotischen Überschattens

Archetypisch ist die Vorstellung, dass die Seelen Verstorbener als körperlose Wesen in der Luft fliegen (1). Bei Hesiod (Werke und Tage 121-126) schweifen die Seelen der verstorbenen Menschen des Goldenen Zeitalters als wohltätige Dämonen durch die Lüfte:

Aber sobald nun dieses Geschlecht die Erde bedeckte,
wurden sie alle zu Geistern nach Zeus, des erhabenen, Willen,
freundlichen, die hier auf Erden die sterblichen Menschen behüten.
Hüter sind sie des Rechts und achten auf grausame Taten,
wenn in luftigem Kleid sie alle Länder durchschweben,
Reichtum spendend; zuteil ward ihnen dies herrliche Anrecht.
(Sammlung Tusculum; Übertragung: Albert von Schirnding)

Es liegt nahe, sich eine Seele, die körperlos durch die Luft fliegt, als Hauch oder Wind vorzustellen (3). In der biblischen Schöpfungsgeschichte ist die Seele des Menschen zuerst ein Hauch, der ihm von Gott in den Leib eingeblasen wird: "Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen." (1. Mos. 2,7). Stirbt ein Mensch, heißt es, er haucht seine Seele aus. Sie wurde ihm eingehaucht und verlässt den Leib auch wieder als Hauch.
Wilde Jagd, Wilde Fahrt oder Wildes Heer heißt im deutschen Aberglauben die Vorstellung germanischen Ursprungs, dass eine Schar Seelen Verstorbener durch die Lüfte braust, angeführt ursprünglich vom Sturmgott Odin, so dass man sie bis in die christliche Zeit hinein auch Wotans Wütendes Heer nannte (4).

Auf der archetypischen Vorstellung von der Seele als Hauch oder Wind beruht die Urverwandtschaft von lat. anima mit griechisch anemos "Wind" und die Doppelbedeutung von Begriffen wie anima, spiritus, pneuma, die man sowohl mit "Hauch, Wind", als auch mit "Seele, Geist" übersetzen kann.

Da archetypische Vorstellungen angeboren sind, verschwinden sie auch nicht in einer säkularisierten Konsumgesellschaft, in der die Menschen atheistisch und materialistisch erzogen werden, um Bedürfnisse nach Religion oder anderen höheren Werten gar nicht erst aufkommen zu lassen. Solch eine Gesellschaft schildert Aldous Huxleys dystopischer Roman Schöne neue Welt. Im V. Kapitel werden in einem Krematorium die Verstorbenen industriemäßig so verbrannt, dass ihre sterblichen Überreste zu phosphorhaltigem Dünger verarbeitet werden; durch Schornsteine bläst man die dabei anfallenden Abgase in die Luft, was zwei Reisende in ihrem Hubschrauber kaum ablenkt:

Als sie das Krematorium überflogen, schoss das Flugzeug plötzlich in die Höhe, hinaufgetrieben von der heißen Luftsäule, die den Schloten entstieg, und sank ebenso plötzlich wieder in der kühleren Zone dahinter.
"Ein wundervoller Hops (4a)!" lachte Lenina entzückt.
Aber Henrys Stimme hatte für einen Augenblick fast etwas Schwermütiges. "Weißt du auch, was dieser Hops bedeutete?" fragte er. "Ein Mensch schied endgültig und für immer aus der Reihe der Lebenden. Ging auf in einer heißen Wolke aus Gas. Ob es wohl ein Mann oder eine Frau war? Ein Alpha oder ein Epsilon...?" Er seufzte. Dann sagte er mit betont fröhlicher Stimme: "Was immer er gewesen sein mag, eines ist jedenfalls gewiss: Er war glücklich, solange er lebte. Jeder ist heutezutage glücklich." 
(Übersetzung: H.E. Herlitschka) 

Der Archetypus ist als Relikt in der Seele erhalten und meldet sich, wird aber vom aufgeklärten Rationalisten nicht mehr als solcher erlebt, sondern entstellt, verkümmert wahrgenommen, zum Beispiel wie hier als belanglose Episode.

Als Verkörperungen von solchen umherfliegenden oder -wehenden Seelen sind geflügelte Tiere als Seelentiere (z.B. Seelenvögel) weit verbreitet; hier nur einige Beispiele aus Jakob Grimms Deutscher Mythologie (788-789, Nachdruck 690-691), die reichhaltiges Material bietet:

Nicht anders gilt die seele der kindlichen fantasie des volks für einen vogel, der aus des sterbenden munde geflogen kommt. darum sind in alten grabsteinen häufig tauben eingehauen, die der christliche glaube noch näher auf den geist bezieht. Ein schif versinkt, vom meerufer gewahrt man der untergegangenen seelen in gestalt weißer tauben aus der flut gen himmel steigen. die romanische legende von der gemarterten Eulalia sagt: ‘in figure de colomb volat a ciel’.
...
Vor Mahomed glaubten die alten Araber, aus dem blut eines ermordeten werde ein klagender vogel, der um das grab fliege, bis für den todten rache genommen sei.
...
Als der räuber Madej unter einem apfelbaum beichtete und seiner sünden entbunden wurde, flog ein apfel nach dem anderen in weiße taube verwandelt in die luft. es waren die seelen der von ihm ermordeten, nur ein apfel blieb übrig, die seele seines vaters, weil er dessen mord verhehlt hatte; als er endlich auch diese schwere schuld bekannte, flog der letzte apfel in graue taube verwandelt den übrigen nach."

Auch Schmetterlinge stellt man sich als menschliche Seelen vor (5). Psyche, das griechische Wort für Seele, bedeutet zugleich Schmetterling, in Yorkshire heißt ein Nachtschmetterling soul (6) und das russische Wort für Schmetterling, babotschka, leitet sich von baba "Großmutter" ab, weil man ihn für die Seele einer Ahnin hielt (7).
"In Irland hält man einen weißen Schmetterling für die Seele eines sündenreinen oder begnadigten Toten, der sich auf dem Wege zum Paradies befindet: sind die Flügel eines Schmetterlings gefleckt, so ist die Seele zum Fegefeuer verurteilt, doch muss sie noch eine Zeit lang auf Erden zubringen" (8).

In Homers Odyssee gleichen die Seelen der von Odysseus getöteten Freier Fledermäusen. Hermes, der Seelengeleiter, führt sie in den Hades (9):

Hermes von der Kyllene holte der freienden Männer
Seelen, indem er sie rief; er trug in der Hand seinen schönen,
Goldenen Stab, womit er die Augen der Menschen bezaubert,
Wo er es will, und andere wieder erweckt, wenn sie schlafen;
Setzte sie so in Bewegung: ein schwirrendes, ganzes Gefolge.
Wie wenn Fledermäuse im Eck einer göttlichen Grotte
Schwirren und flattern, so oft sich nur eine der Kette am Felsen
Loslöst, dass sie herabfällt - hängen doch alle zusammen -
Grad so schwirrten sie drängend heran und folgten dem Führer
Hermes, dem Retter, entlang den Pfaden im dämmrigen Düster

Die zum Himmel auffahrende Seele eines verstorbenen Imperators stellten sich die Römer als majestätischen Vogel vor. Deshalb ließen sie, wie Cassius Dio 56,42 schildert, am brennenden Scheiterhaufen des Augustus einen Adler frei, der emporflog (10).

Marina Zwetajewa vergleicht in ihrem Gedicht Seiner Tochter die Seele eines Neugeborenen vor und nach seiner kurzen Existenz in Fleisch und Blut mit einer Schwalbe. Das Gedicht beginnt:

Mit den Schwalben eines Maien-
tags du angekommen warst.
Glück des kleinen Leibs, des neuen
Augenpaars.

Als Schwalbe in einem Schwarm (auch die Freier reisen im Schwarm!) ist die Seele des Neugeborenen aus einem fernen Land gekommen, das man sich als Reich der Seelen vorstellen kann. Die Seele ist in den Babykörper eingegangen, ihre leiblich-irdische Existenz hat begonnen, doch sind die Brücken zu ihrem Dasein davor als pneumatisches Wesen noch nicht abgebrochen, die Gemeinschaft mit den Gefährtinnen ihrer Reise aus dem Jenseits besteht noch, denn diese nisten am Haus und umgeben es mit ihrem Gezwitscher, das sich mit dem Babylallen mischt:

Schwalben in der Bläue schwimmen.
Drunt' und drüber geht's im Haus:
Kinderlallen, Vogelstimmen
Und -gesaus.

Die Seele hat noch nicht völlig in der Erdenschwere Fuß gefasst, ist im Irdischen noch nicht mit Haut und Haar verhaftet, hat noch keinen Anteil am Wesen des Menschen, Falsch und Neid, genommen, die Unschuld der Tierwelt noch nicht verloren und ihr luftig-leichtes Wesen noch nicht ganz abgelegt, deshalb vermag sie, um mit ihren Gefährtinnen ins Seelenland zurückzufliegen, ohne Mühe, ohne Todesangst und -kampf, ohne Trennungschmerz wieder aus Fleisch und Erdenschwere zu scheiden - das ist der Trost, den das Gedicht Pjotr Efron, dem Vater des Kindes, schenken will.

Von des Nordens Frost wird deine
Zarte Brust berührt, gedrückt.
Mit den Schwalben zogst du Kleine
Da zurück.

Dieser Archetypus kommt nicht nur in poetischen Zusammenhängen vor. Kinder, die sterben, geflügelte Wesen werden und wegfliegen, bevölkern auch einen Traum einer Patientin Sigmund Freuds (GW II/III, 259f.):

Eine Menge Kinder, alle ihre Brüder, Schwestern, Cousins und Cousinen tummelten sich auf einer Wiese. Plötzlich bekamen sie Flügel, flogen auf und waren weg.

Freud deutet diesen Traum richtig als Erfüllung des verdrängten, aber im Unterbewusstsein natürlich lebendig gebliebenen Wunsches eines eifersüchtigen Kindes, seine Geschwister mögen sterben und verschwinden. Die Patientin träumte diesen Traum immer wieder, zum ersten Mal aber als Vierjährige, als sie in einer Kinderschar aufwuchs, die zwei Brüder in geschwisterlicher Gemeinschaft aufzogen. Weil die Kinder sich auf einer Wiese tummeln, liegt es nahe, sie sich als Seelenschmetterlinge vorzustellen, was Freud auch tut:

Dass sich die Kinder auf einer Wiese tummeln, von der sie wegfliegen, deutet kaum missverständlich auf Schmetterlinge hin, als ob dieselbe Gedankenverbindung das Kind geleitet hätte, welche die Alten bewog, die Psyche (11) mit Schmetterlinsgflügeln zu bilden.

Dass Schmetterlinge als Seelentiere nicht nur im Traum einer Zeitgenossin, sondern auch in früheren Epochen auftauchen, ist Freud also bewusst. Es hätte ihn zu der Erkenntnis führen können, dass es sich um eine angeborene Vorstellung handelt, die allen Menschen gemeinsam ist. Er hat diesen Schluss jedoch nicht gezogen, sondern es C. G. Jung überlassen, der solche Vorstellungen als gemeinsames Erbe der Menschheit erkannte und archetypisch nannte (12). Hätte Freud im Seelenschmetterling eine angeborene Vorstellung gesehen, hätte er es nicht nötig gehabt, sich etwas wie dieses auszudenken, um zu erklären, wie ein vierjähriges Kind zu der Assoziation kommt, dass Geflügeltwerden und Wegfliegen Sterben bedeuten:

Ich getraue mich folgende Analyse unterzuschieben. Bei dem Tode eines aus der Kinderschar - die Kinder zweier Brüder wurden in diesem Falle in geschwisterlicher Gemeinschaft aufgezogen - wird unsere noch nicht vierjährige Träumerin eine weise erwachsene Person gefragt haben: was wird denn aus den Kindern, wenn sie tot sind? Die Antwort wird gelautet haben: Dann bekommen sie Flügel und werden Engerln. Im Traum nach dieser Aufklärung haben nun die Geschwister alle Flügel wie die Engel und - was die Hauptsache ist - sie fliegen weg. Unsere kleine Engelmacherin bleibt allein, man denke, das einzige von solch einer Schar!

Auch in christlichen Seelen ist der Archetypus Seelenvogel oder Seelenschmetterling lebendig. Doch weil christlicher Hochmut die Vorstellung nicht verträgt, der Mensch sei mit den Tieren verwandt und könne deshalb tierische Gestalt annehmen, mutierte der Vogel oder Schmetterling zum Engel, das Animalische wurde beseitigt, immerhin blieb die Seele ein geflügeltes Wesen. Ergreift dieser Archetypus als Inspiration einen wahren Künster, bleibt er unverfälscht. Das beweist Marina Zwetajewas Gedicht, das beweisen zahllose Gemälde oder Skupturen von Engeln, auf denen ihre Flügel gefiedert sind.

Der Heilige Geist des Christentums, der griechisch pneuma hagion heißt, also auch als Heiliger Wind oder Göttlicher Wind übersetzt werden könnte, wird von einer Taube verkörpert (Mark. 1,10).
Dem Heiligen Geist (oder Heiligem Wind) liegt auch die archetypische Vorstellung vom
Wind als Frauen schwängerndem potentem männlichen Wesen oder Phallus Gottes zugrunde. Er ist es, der nach Luk. 1,35 von Gott zu Maria kommt und sie befruchtet. Dass eine sterbliche Frau von einem Gott schwanger wird, ist eine vertraute Vorstellung aus der antiken Mythologie. So entführt Zeus die Königstochter Europa und zeugt mit ihr drei Söhne, Minos, Rhadamanthys und Sarpedon; dazu hat er die Gestalt eines Stieres angenommen, was seine animalische Potenz symbolisiert, ohne die ja ein Zeugungsakt nicht möglich ist. Das Christentum hat für Maria und Jesus den Archetypus der Gotteszeugung übernommen, aber von Sexualität, die es als Befleckung und Sünde ansieht, gereinigt. Die Gotteszeugung ist zu einem unkörperlichen, rein geistigen Vorgang geworden, selbst das pneumatische Tier, die Taube, wurde in Luk. 1,35 weggelassen. Einziges Überbleibsel, das entfernt daran erinnert, dass es ursprünglich ein körperlich-sexueller Akt war, ist in der Verkündigung Mariae der Begriff überschatten, der im griechischen Text episkiazo lautet:

Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das von dir geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.

Was bedeutet überschatten in diesem Zusammenhang? Einen Schatten werfen kann nur etwas Körperliches, kein Geist oder Wind. Der Begriff episkiazo findet sich in der Bibel auch an einer anderen Stelle, die uns weiterhelfen könnte, Psalm 90 (91),4, wo Gott mit einem Vogel verglichen wird:

"Er wird dich mit seinen Fittichen decken
Und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln"

Decken übersetzt episkiasei (Futur-Form) - der Begriff kann übertragen offenbar auch (schützend) bedecken bedeuten.

Einen Gott in Vogelgestalt mit beschirmenden Fittichen hatten auch die Ägypter: Horus, der Himmelsgott, war ein Falke, dessen Flügel den Himmel bildeten und die Erde schützend überspannten (13)

Auch die Griechen dachten sich ihren obersten Gott Zeus gerne in Vogelgestalt.  So hat er sich als Schwan Leda genaht und Helena gezeugt und als Adler Ganymed entführt, wobei seine Tiergestalt wie auch bei der Entführung Europas seine animalische Potenz symbolisiert (14). Der Glaube der Römer und Griechen war ursprünglich Naturreligion, Naturgewalten wie Donner und Blitz, Natur in Gestalt von Bäumen und Tieren wurde als göttlich gefürchtet und verehrt. Den unteren, chtonischen Gottheiten wie Pluto oder Mutter Erde standen die Götter der oberen Welt, des Luftreichs, gegenüber. So liegt es nahe, dass Zeus als rex superum (15), Haupt der himmlischen Götter, auf seiner ursprünglichen theriomorphen Stufe der Adler, der König der Lüfte, war. Überbleibsel davon ist der Adler als Zeus' Attribut, als sein ausführendes Organ, das zum Beispiel Prometheus durch Nagen an der Leber straft, als sein Waffenträger: Nur der Adler vermag laut Ovid Zeus' Waffe, den Blitz, zu tragen: deshalb ist er der einzige Vogel, in den Zeus sich verwandelt, ja das einzige Tier, dessen Gestalt er seiner vermenschlichten Gestalt vorzieht (15).

Eine slawische Entsprechung zu dem indogermanischen Gott, der bei den Griechen Zeus und bei den Römern Juppiter hieß, war Perun, der oberste Gott der heidnischen Russen. Auch er donnert und blitzt, die Eiche ist ihm heilig, die Etymologie seines Namens verweist auf seine ursprünglich theriomorphe Gestalt als Vogel: Perun ist von der slavischen Wurzel *per- "Feder, Flügel"  gebildet, bedeutete also anfangs "gefiederter Gott", "geflügelter Gott", "Vogelgott" (17).

Ist der oberste Gott ein Vogel, so auch sein Sohn. Madonna Litta, ein Gemälde, das Leonardo da Vinci zugeschrieben wird, zeigt Maria, die das Jesuskind stillt. Sieht man genau hin, entdeckt man einen Vogel, einen Nestling, der noch groß werden will. Er verkörpert Jesus, der Anteil an dem göttlichen Wesen seines Vaters hat. Etwas Adlerhaftes steckt schon in ihm, auch wenn er noch klein ist, seinem Vater ,den der Archetypus gerne Adlergestalt annehmen lässt, will er ähnlich werden, deshalb ist er als Vogeljunges dargestellt. Vergleichbares überliefert Ovid. Die beiden von  Boreas gezeugten Söhne der Orithyia, Calais und Zetes, weisen körperliche Merkmale auf, die an die Raubvogelgestalt ihres Erzeugers erinnern: Federn an beiden Seiten, die in ihnen allerdings erst zusammen mit dem Bart wachsen; erst als sie mannbar werden, kommt der Vater in ihnen durch (Metamorphosen VI, 713-718).

Dass Zeus-Juppiter (wieder) Tiergestalt annimmt, wenn er Europa als Stier oder Ganymed als Adler entführt und Leda als Schwan schwängert, symbolisiert, wie gesagt, auch seine animalische Potenz - im Gegensatz zum chistlichen Gott hat er nie aufgehört, auch Tier zu sein. Der Archetypus der Gotteszeugung wäre dann in der Bibel gewaltsam desexualisiert und vergeistigt, und nur der Begriff überschatten als einzige Spur nicht getilgt worden.
Aber ein Archetypus erträgt Verstümmelung nur widerwillig und neigt dazu, sich wiederherzustellen. So enthalten verschiedene Gemälde, die die Verkündigung Mariae darstellen, als körperliches Symbol für den Heiligen Geist oder Wind die Taube, die bei Lukas weggelassen wurde, zum Beispiel auf dem Gemälde
Verkündigung Mariae von Fra Filippo Lippi (1406-1469).

Auch in einem rheinischen Wirkteppich aus dem 15. Jahrhundert, der Obumbratio Mariae heißt und die Befruchung der Gottesmutter durch den Heiligen Geist darstellt, kommt vom Himmel "eine Röhre oder ein Schlauch herunter und begibt sich unter die Röcke der Maria; darin fliegt in Gestalt der Taube der Heilige Geist herunter zur Befruchtung der Gottesmutter" (18). Die Taube als Verkörperung des befruchtenden Windes ist eng verwandt mit dem Archetypus des Sonnenpenis - ist doch die Sonne in vielen Religionen eine hohe oder gar die höchste Gottheit. Dieser rheinische Wirkteppich hat die unnatürliche Vergeistigung des Zeugungsaktes zur asexuellen Empfängnis rückgängig gemacht.

Das gleiche leistet Puschkins Gabrieliade (Gavriiliada), eine frivol-blasphemische Dichtung. In dem Poem, das seinem Autor viel Ärger mit dem zaristischen Regime einbrachte und erst 40 Jahre nach seiner Entstehung gedruckt im Ausland erscheinen konnte, ist Maria eine erotisch attraktive 16-Jährige, mit der zuerst der Teufel, dann der Engel Gabriel und schließlich Gottvater den Beischlaf vollziehen, letzterer in Gestalt einer Taube, wobei die Darstellung eindeutig ist:

... Plötzlich fliegt eine liebe flauschige
Taube mit weißen Flügeln durch ihr Fenster herein,
Kreist flatternd über ihr,
Versucht sich in lustigen Melodien
Und fliegt plötzlich der lieben Jungfrau zwischen die Knie.
Sie lässt sich über der Rose nieder und zittert,
Hackt sie, schwirrt herum, dreht sich im Kreise,
Und müht sich ab mit Näschen und Beinchen.
Er, ja er! - Maria begriff,
Dass sie in Gestalt der Taube einen anderen bewirtete,
Das jüdische Mädchen presste die Knie zusammen und schrie,
Begann zu stöhnen, zittern, beten,
Brach in Tränen aus, aber die Taube triumphiert,
Zittert und gurrt in Liebesglut
Und fällt hin, von einem leichten Schlaf umfangen,
Die Blüte der Liebe mit einem Flügel sanft bedeckend.

Bedeckend in der letzten Zeile des Zitats übersetzt pri-osenja im russischen Original, welches das Verb osenit’ "beschatten" (mit einer Vorsilbe versehen, die "leicht, sanft" bedeutet) ist. Osenit’ übersetzt in der russischen Bibel episkiazo "beschatten" - Puschkins Wortwahl spielt also auf Luk. 1,35 an.

Die Gabrieliade ist mehr als nur eine witzige Provokation aus "voltaireskem Übermut" (19); der alte Archetypus der Gotteszeugung hat den Dichter Puschkin als Medium benutzt, um die Reduzierung und Verkümmerung zum rein geistigen Akt, die das sexualfeindliche Christentum mit ihm vorgenommen hat, aufzuheben. Das Sexuell-Triebhafte ist von dem christlichen Gott, der eine asexuelle, von allem Bösen gereinigte Lichtgestalt geworden ist, abgespalten und im Teufel verkörpert worden. Das Jesuskind, das vom Teufel (oder vom nebenbuhlerischen Engel Gabriel) stammt, erkennt Gott im Poem als seines an. Puschkin wurde zu seiner Gabrieliade inspiriert, weil das archetypische Gottesbild wieder ganzheitlich werden und die unnatürliche Abspaltung des Sexuellen rückgängig machen wollte (20).

Auch Inspiration, die man sich als Pneuma denkt, das Gott einem Menschen schickt, um ihm Anteil an seiner höheren Weisheit zu gewähren, wird gerne durch ein pneumatisches Wesen symbolisiert - mehr dazu in diesem Zusammenhang.

In unverstümmelter Form gestaltet dieser Archetypus ein berühmtes Gemälde von Leonardo da Vinci mit, die Heilige Anna Selbdritt. Man achte auf Marias Gewand. Erinnert es nicht an einen Vogel? (21) Man erkennt einen Kopf, der in einen Schnabel ausläuft, einen länglichen Hals, einen Flügel und fächerförmig angeordnete Schwanzfedern. Der Vogel umhüllt Maria als Gewand und erinnert uns an die beiden episkiazo-Stellen in der Bibel. In Psalm 90 (91), 4 bedeutet episkiazo „(schützend) bedecken“, in Lukas 1,35 immerhin „überschatten“, was ja auch eine Art von Bedecken ist. Ein stattlicher Vogel, nicht zur Taube verniedlicht, umfängt Maria – es ist Gott als Vater des Jesuskindes, der Maria in Raubvogelgestalt begattet; auch in der in diesem Kapitel behandelten Ovid-Stelle, wo der Windgott Boreas – ebenfalls in Raubvogelgestalt -  Orithyia zur Befruchtung raubt, „umfängt er“ sie „in Liebe mit seinen braunroten Flügeln“. Die Vorstellung vom schützenden und auch gefangen haltenden Umfangen oder Bedecken scheint sich zum Archetypus der Befruchtung durch (einen) Gott als pneumatisches Wesen gerne hinzuzugesellen, schon der Liebesakt zwischen dem Himmel, Uranos, dem Stammvater der oberen Götter, und Mutter Erde, Gaia, spielt sich bei Hesiod, Theogonie 176ff. so ab:

Es kam aber der große Himmel, führte die Nacht herauf, umfing die Erde voller Liebesverlangen und breitete sich ganz über sie (22)

Die archetypische Vorstellung vom Himmel, der die als weiblich gedachte Gaia, die nährende Mutter Erde, schützend oder befruchtend bedeckt, bestimmt auch die Etymologie des deutschen Wortes Himmel, das auf die indogermanische Wurzel *kem- "bedecken, verhüllen" zurückgeht. Von derselben Wurzel stammt auch das deutsche Wort Hemd  (23); das Kleidungsstück ist also mit dem Himmel verwandt, und nicht nur etymologisch: Wie der Himmelsgott Uranos oder Horus die Erde, so bedeckt das Kleidungsstück einen Teil des menschlichen Körpers - wir denken natürlich an die oben gedeutete Darstellung der Gottesmutter, die mit einem Vogel(gott) bekleidet ist, der sie vor Kälte und fremden Blicken schützt. 

In diesem Zusammenhang wird auch verständlich, warum das Gewand, das die Gottesmutter Maria auf den Gemälden alter Meister in der Regel trägt, blau ist - es ist das Blau des Himmels, der sie umfängt und befruchtet.
Auch die Kopfbedeckung einer Frau kann ein Kleidungsstück sein, das für ihren Ehemann und seine Sexualität steht. So deutet Sigmund Freud den Traum, den ihm eine junge Patientin erzählte, die wegen schwer zu unterdrückender Wünsche nach Fremdgehen nur widerstrebend "ohne Schutz und Begleitung" das Haus verließ:

Ich gehe im Sommer auf der Straße spazieren, trage einen Strohhut von eigentümlicher Form, dessen Mittelstück nach oben aufgebogen ist, dessen Seitenteile nach abwärts hängen (Beschreibung hier stockend), und zwar so, dass der eine tiefer steht als der andere. Ich bin heiter und in sicherer Stimmung, und wie ich an einem Trupp junger Offiziere vorbeigehe, denke ich mir: Ihr könnt mir alle nichts anhaben.
(Die Traumdeutung, GW II/III, S. 365f.)

Freud deutet den Hut "mit seinem emporgerichteten Mittelstück und den beiden herabhängenden Seitenteilen" als männliches Geschlechtsteil und erinnert daran, dass man früher von einem Mädchen "unter die Haube kommen" sagte, wenn es verheiratet wurde - die Haube war Tracht der Ehefrauen. Der Traum - so Freuds Deutung - will der jungen Frau sagen: Du musst dich vor den jungen Offizieren, das heißt, davor, in Versuchung zu geraten, nicht fürchten, weil du "einen Mann mit so prächtigem Genitale" hast. Auch die islamische Verhüllung hat diese Funktion: Die muslimische Ehefrau trägt ihren Mann (und die Tochter den Vater), der ihre Reize den Männerblicken entzogen wissen will, gleichsam stets mit sich herum, wenn sie ihren Privatbereich verlässt.

Die archetypische Vorstellung von einem Mann oder männlichem Gott, der in Vogelgestalt eine Frau umfängt, um ihr beizuwohnen, gehört auch zu den "Wahn"vorstellungen einer Patientin von C.G. Jung, die als 15-jährige von ihrem Bruder sexuell missbraucht wurde und sich zur Abwehr eigener inzestuöser und überhaupt sexueller Wünsche von den Menschen abkehrte und "merkwürdig" wurde, so dass sie ins Irrenhaus kam, wo sie mutazistisch war, das heißt, nicht mehr sprach. C.G. Jung gelang es, ihr Vertrauen zu gewinnen, und sie erzählte ihm Folgendes:

Nach Überwindung heftiger Widerstände erzählte sie mir, dass sie auf dem Mond gelebt hätte. Dieser sei bewohnt, aber zuerst hätte sie nur Männer gesehen. Die hätten sie sofort mit sich genommen und in eine <untermondliche> Behausung gebracht, wo sich ihre Kinder und Frauen aufhielten. Auf den hohen Mondbergen hauste nämlich ein Vampyr, der Weiber und Kinder raubte und tötete, so dass das Mondvolk von Vernichtung bedroht war. Das war der Grund für die <untermondliche> Existenz der weiblichen Bevölkerungshälfte.
Meine Patientin beschloss nun, etwas für das Mondvolk zu tun und nahm sich vor, den Vampyr zu vernichten. Nach langen Vorbereitungen erwartete sie den Vampyr auf der Plattform eines Turmes, der zu diesem Zwecke gebaut worden war. Nach einer Reihe von Nächten sah sie ihn endllich von fern wie einen großen schwarzen Vogel heranschweben. Sie nahm ihr langes Opfermesser, verbarg es unter ihrem Gewand und erwartete seine Ankunft. Plötzlich stand er vor ihr. Er hatte mehrere Flügelpaare. Sein Gesicht und seine ganze Gestalt waren von ihnen bedeckt, so dass sie nichts sehen konnte als seine Federn. Sie war verwundert, und Neugier packte sie zu erfahren, wie er aussähe. Sie näherte sich ihm, die Hand am Messer. Da öffneten sich plötzlich die Flügel, und ein überirdisch schöner Mann stand vor ihr. Mit eisernem Griff schloss er sie in seine Flügelarme, so dass sie sich des Messers nicht mehr bedienen konnte. Überdies war sie so gebannt von dem Blick des Vampyrs, dass sie gar nicht mehr imstande gewesen wäre, zuzustoßen. Er hob sie vom Boden auf und flog mit ihr davon.                                                                    (23a)

Es sind ihre eigenen Wünsche nach sexuellem Verkehr mit ihrem Bruder, die sie als sündig in ihr Unterbewusstsein verdrängt hat, von wo sie sie in verfremdeter, unheimlicher, dämonischer Gestalt und in archetypische Bildlichkeit gekleidet heimsuchen (23b).

Dazu passt auch die sexuelle Bedeutung des Begriffs decken, wenn man sagt: Der Hengst deckt die Stute, was auch für englisch to cover, französisch couvrir, italienisch coprire und russisch покрывать gilt. Die Vorstellung vom Umfangen verbindet sich also auch mit Erotik, an der kein Gott beteiligt ist, zum Beispiel in einer Fantasie des Schriftstellers Peter Bamm über Angorakaninchen und Angorapullover:

"Auf einem Kaninchen wachsen zwei Pullover." Dies, ohne Zweifel, muss als eine unmoralische Tatsache empfunden werden. Dass die Kaninchen Haare lassen müssen, ist nicht so schlimm. Das müssen Lämmer sowohl als mancher von uns auch. Dass sie nur noch als eine Art von Oberfläche betrachtet werden, auf denen die Rohstoffe wachsen, die zur Erfüllung der leichtsinnigen Träume unserer jungen Mädchen benötigt werden, das heißt, den Kaninchen bitteres Unrecht tun. Damit beraubt man sie nicht nur ihrer Unschuld, sondern ihres immananten Charakters als Geschöpfe. Es wäre so, als ob die Kaninchen unsere jungen Mädchen nur noch als eine Art von Oberfläche betrachten, die dazu da ist, mit Kaninchenhaaren bedeckt zu werden. ... Man mag die Oberfläche junger Mädchen betrachten, wie man will, auch für sie, als Geschöpfe des Himmels, ist das Äußere nur das Gefäß ihrer Seele. ...
Christian Fürchtegott Gellert, in Pullover gebunden, das wäre ein schönes Geschenk der Textilindustrie für die jungen Mädchen. Selbst wenn sie keinen Bücherschrank haben, so können sie das Werk in diesem Einband immer ruhig in den Kleiderschrank stellen. Dann haben sie jederzeit ein schönes Beispiel vor Augen, wie ein Pullover nicht nur einen oberflächlichen Inhalt, sondern einen tiefen Gehalt umhüllt.
Freilich, wenn ich ein Pullover wäre,würde ich die Oberfläche eines jungen Mädchens der Tiefe eines Fabeldichters vorziehen.                                                                 (23c)

Bedecken, Bekleiden als erotisches Symbol begegnet auch in Shakespeares Drama The Merchant of Venice. Der Kaufmann Antonio ist depressiv und weiß nicht warum. Sein Freund Salerio vermutet als Ursache Angst um seine stattlichen Handelsschiffe, die alle auf hoher See unterwegs sind und samt ihrer kostbaren Ware jederzeit durch Klippen oder Stürme zerstört werden können, so dass die "brüllenden Wassermassen" von edlen "Seidenstoffen" "bekleidet" würden:

And not bethink me straight of dangerous rocks,
Which touching but my gentle vessel's side
Would scatter all her spices on the stream,
Enrobe the roaring waters with my silks               I,1,31ff.

Dieses Bild ist auch deshalb erotisch, weil das Meer als der Schoß, aus dem das Leben kommt, Muttersymbol ist (Beispiele hier), also weiblich. Und das Meer ist stürmisch ("roaring"), also erregt. Was nun dieses sexuell erregte weibliche Element "bekleidet", "deckt", ist etwas, das Antonio gehört und teuer ist: "silks", dessen Verlust für ihn ein schwerer, ja existenzbedrohender Schlag sein könnte und das natürlich, damit es in die erotische Metaphorik passt, ein männliches Wesen sein muss. Solch ein Mann, der Antonio teuer ist, erscheint fast unmittelbar nach Äußerung dieser Metapher auf der Bühne: Bassanio. Ihn liebt Antonio wie ein Vater seinen Sohn. Der junge Bassanio aber will um die attraktive Portia freien, ist also flügge und will seinen väterlichen Freund verlassen, was der eigentliche Grund für Antonios Depression ist; die Vorstellung, Bassanio würde Portia heiraten und liebend umfangen, quält ihn, die Seidenstoffe, die er an das stürmisch erregte Meer verlieren könnte, sind Symbol für seine Verlustangst.

Nicht sehr edel und romantisch ist, was diese Metapher auch enthält: der Vergleich eines Menschen mit Ware. Betrachtet Antonio seinen Bassanio als Sache, die ihm gehört? Das trifft doch eher auf Antonios Antagonisten Shylock zu, der sein Kind Jessica bei sich zu Hause einsperrt, um zu verhindern, dass sie flügge wird und ihn verlässt! Antonio dagegen, der Bassanio beim Freien auch noch mit einem ansehnlichen Geldbetrag unterstützt, verhält sich uneigennützig - und doch: Tief in seinem Unterbewusstsein würde er Bassanio gerne wie seinen Besitz behandeln und nicht gehen lassen, so dass Shylock, der das mit seiner Tochter versucht, Antonios bösen, verdrängten Persönlichkeitsanteil verkörpert, in der Sprache C.G. Jungs sein Schatten ist. Antonio ahnt, dass er Bassanio an Portia verliert wie er seine teuren Seidentücher an die stürmische See verlieren könnte. Die Liebe ist wie Meer und Wind eine Naturkraft, die wir Menschen wie die Natur überhaupt kontrollieren und beherrschen wollen, damit sie uns nicht schadet, nicht kränkt - dafür steht Shylock, der die Natur seiner pubertierenden Tochter unterdrücken will und dafür bestraft wird
(23d).
Die Metapher des Bekleidens in erotischer Bedeutung taucht im Kaufmann von Venedig ein zweites Mal auf, als Jessica in Jungenkleidern von zu Hause von ihrem Vater wegläuft. Vordergründig dient ihre männliche Verkleidung der Tarnung im Karnevalstreiben, aber es steckt mehr dahinter, denn Jessica empfindet deswegen Scham:

For I am much asham’d of my exchange

…                         Cupid himself would blush
To see me thus transformed to a boy.  (II,6,35ff.)

Scham ist laut Freud eine Abwehrreaktion zur Eindämmung sexueller Begierden (die menschlichen Sexualorgane heißen deshalb Schamteile, pudenda, weil das Gefühl der Scham ihre Verhüllung fordert). Also muss sich in dieser männlichen Kleidung, die in Jessica Scham erregt, etwas Sexuelles verkörpern, nämlich Lorenzo, der Mann, zu dem sie von ihrer Libido getrieben wird, mit dem sie sich erotisch vereinen, von dem sie sich „decken“ lassen will (23e).
Der Mann, der ein Mädchen besitzergreifend und liebend umfängt, erscheint im Archetypus gerne als Vogel, was auch im Kaufmann von Venedig anklingt, als Salerio gegenüber Shylock auf Jessicas Jungenkleidung mit einem poetischen Bild anspielt:

I … knew the tailor that made the wings she flew withal   (III, 1)

Die männliche Kleidung wird mit Flügeln verglichen und steht für Lorenzo, von dem sich Jessica entführen lässt (23f).

Die Symbolik des sexuellen (und oft besitzergreifenden) Umhüllens liegt im Kaufmann von Venedig auch dem Motiv der Kästchenwahl zugrunde. Die Freier der schönen und reichen Portia müssen zwischen einem goldenen, einem silbernen und einem bleiernen Kästchen wählen. Wer das richtige wählt, bekommt Portia zur Frau. Sigmund Freud hat erkannt, dass die Kästchen erotische Vereinigung zwischen Mann und Frau symbolisieren:

Ein Mann wählt zwischen drei – Kästchen. Wenn wir es mit einem Traum zu tun hätten, würden wir sofort daran denken, dass die Kästchen auch Frauen sind, Symbole des Wesentlichen an der Frau und darum der Frau selbst, wie Büchsen, Dosen, Schachteln, Körbe usw.  … und sehen nun, es behandelt ein menschliches Motiv, die Wahl eines Mannes zwischen drei Frauen.    (23g)

Allerdings ist es hier umgekehrt. Die Kästchen stehen für drei Männer, von denen jeder die Frau umfangen will. Das verrät der Prinz von Marokko, der das goldene Kästchen wählt, weil er besitzfixiert, „a golden mind“ (II,7,20) ist, der sich selbst, seinen Wert, durch Gold definiert; seine Fantasien kreisen um das Edelmetall, mit dem er sich identifiziert:

      …                              never so rich a gem
Was set in worse than gold. They have in England
A coin that bears the figure of an angel
Stamp’d in gold, but that’s insculp’d upon:
But here an angel in a golden bed
Lies all within.                                                         (II,7,54ff.)

Als Goldfassung will er Portia, seinen Juwel, einschließen, er betrachtet sie als Sache, als Besitztum. Und im zweiten Bild sieht er sich als das Gold einer Münze, in das Portia eingebettet ist – in solch einer Ehe wäre Portia zum leblosen Wertgegenstand verdinglicht, zu einer Existenz in einem goldenen Käfig verurteilt, die keine Lebendigkeit atmen würde, steril und ohne menschliche Wärme wäre – als Symbol enthält das goldene Kästchen deshalb einen Totenkopf und einen Zettel, auf dem dem Prinzen vorgeworfen wird: „Deine Werbung (um Portia) ist kalt“, das heißt, nicht von Liebe inspiriert, da es ihm nur um den Reichtum geht, den Portia als gute Partie mit in die Ehe brächte. Außerdem wird die Art von Ehe, die er anstrebt, mit einem „vergoldeten Grab“ verglichen.
Mit einem verwandten Bild aus dem Bereich des Todes, einem Sarg, charakterisiert Shakespeare die besitzergreifende Liebe, mit der Shylock seine Tochter Jessica inzestuös an sich binden wollte:

I would my daughter were dead at my foot, and the jewels in her ear: would she were hears’d at my foot, and the ducats in her coffin                    (III,1)

Er will sie als Sarg umschließen, in sich begraben (für seine inzestuösen Wünsche stehen seine Juwelen, die sich gleichsam als Sperma in einer Körperöffnung Jessicas befinden (23h)) , so dass sie nicht flügge werden, einen Mann finden und Mutter werden kann – sie wäre zu einer unfruchtbaren, “barren”, Existenz verurteilt, für die das Bild des Sarges steht, in dem ihr Vater sie wie eine Wertsache zusammen mit anderen Wertsachen bunkert – man fühlt sich an den österreichischen Horrorvater Fritzl erinnert (dessen Tochter allerdings Mutter wurde  - da hinkt der Vergleich).

Überschatten, mit seinem Schatten bedecken als Symbol für Penetrieren, Schwängern liegt auch einer Kürzestgeschichte von Franz Kafka zugrunde, Zerstreutes Hinausschaun:

Was werden wir in diesen Frühlingstagen tun, die jetzt rasch kommen? Heute früh war der Himmel grau, geht man aber jetzt zum Fenster, so ist man überrascht und lehnt die Wange an die Klinke des Fensters.
Unten sieht man das Licht der freilich schon sinkenden Sonne auf dem Gesicht des kindlichen Mädchens, das so geht und sich umschaut, und zugleich sieht man den Schatten des Mannes darauf, der hinter ihm rascher kommt.
Dann ist der Mann schon vorübergegangen und das Gesicht des Kindes ist ganz hell.

Es ist Frühling, die Zeit des Erwachens und Aufblühens der Natur, in der auch die Tiere Nachwuchs zeugen. Der Schatten eines Mannes fällt auf ein kleines Mädchen – es ist die Vorankündigung seines späteren Schicksals: Es wird mit einem Mann verheiratet werden, der über sie kommen und sie schwängern wird. Der Schatten, den dieser Mann auf das Mädchen wirft, ist ein Phallussymbol, was auch für den Schatten gilt, den der Protagonist in Chamissos Peter Schlemihl's wundersame Geschichte dem Teufel verkauft hat, um sich dafür unermesslichen Reichtum einzuhandeln. Die phantastische Erzählung des romantischen Dichters klagt die Geldgier an, die in der Seele des vom Kapitalismus geprägten Menschen auf Kosten seines Liebeslebens herrscht; seine Erotik verkümmert, weil ihm Geld wichtiger als Liebe ist. Peter Schlemihls Unfähigkeit, einen Schatten zu werfen, die für Impotenz steht, zwingt ihn zu einer lichtscheuen regressiven Existenz und verhindert seine Annäherung an das schöne Geschlecht.  

Die Fähigkeit, Schatten zu werfen, zu überschatten, verlor man der Sage nach in einem Machtbereich des höchsten griechischen Gottes; Pausanias berichtet 8, 38, 6, dass im Heiligtum des Zeus Lykaios in Arkadien Menschen und Tiere keinen Schatten warfen. Es war ein temenos, ein abgeteiltes und Zeus geweihtes Stück der Mutter Erde, das kein Sterblicher betreten durfte. Der oberste der uranischen Götter war ursprünglich Sonnengott, Spender des himmlischen Feuers und des Tageslichts, sein Name ist mit lateinisch dies "Tag" urverwandt (24). Und Zeus war die höchste Vatergottheit, "Vater der Menschen und Götter" heißt er unzählige Male bei Homer. Da, wo Mutter Natur nur ihm geweiht ist und wo er sie mit seinem Sonnenlicht und seiner Sonnenwärme wachsen lässt, also fruchtbar, befruchtend auf sie einwirkt, ist der Mensch seines Schattens beraubt - man denkt an die von Sigmund Freud entdeckte ödipale Urszene: Der Sohn darf beim Koitus der Eltern nicht dazwischenfunken, bei Strafe der Kastration, schon das verstohlene Beobachten ist Sünde.

Auch der christliche Gott begegnet uns in seiner ursprünglichen naturreligiösen Stufe als Sonne. In der Offenbarung schwängert er eine Frau, wobei er sie umhüllt, und zwar als Kleid, vergleichbar also mit dem Vogel auf Leonardo da Vincis Gemälde Heilige Anna Selbdritt:

Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet ... Und sie war schwanger und schrie in Kindesnöten und hatte große Qual bei der Geburt (25)

Dem neugeborenen göttlichen Kind droht Gefahr: Ein Drache will es verschlingen. Es muss in Sicherheit gebracht werden - ein Motiv, das Tradition hat. Hesiod erzählt in seiner Theogonie (453ff.), dass Kronos seinen von Rheia neugeborenen Sohn Zeus fressen will, weil er fürchten muss, von ihm entmachtet zu werden. Rheia schlug einen großen Stein in Windeln, den Kronos verschlang, im Glauben, seinen Sohn zu beseitigen; Zeus wuchs vor seinem Vater verborgen auf, stürzte ihn dann in den Tartaros und übernahm die Herrschaft.

Der Bibel- und der Hesiodstelle liegt ein und dasselbe archetypische Motiv zugrunde: Der Vater will seinen Sohn fressen - aber mit einer entscheidenden Abwandlung: Im griechischen Mythos ist der Vater sowohl Erzeuger, als auch Todfeind seines Sohnes, im Christentum, dessen Gott nur gut ist, "der liebe Gott", ist das Böse abgespalten als Satan in Drachengestalt. Realistischer ist der griechische Vatergott Kronos, der die Urfeindschaft zwischen Vater und Sohn widerspiegelt. Diese Feindschaft geht sowohl vom Sohn aus, der mit seiner Mutter schlafen und seinen Vater als Konkurrenten kastrieren oder töten will - der Freudsche Ödipuskomplex - , als auch vom Vater, der "im Sohn nicht nur einen Schützling und Nachfolger heranwachsen" sieht, sondern auch einen Rivalen, "der ihn einmal ersetzen und verdrängen wird" - der so genannte Laios-Komplex (26).

Der Begriff (be)kleiden (periballesthai) in erotischer Bedeutung findet sich in der Offenbarung an einer weiteren Stelle, Kapitel 19, 7-8:

Lasset uns freuen und fröhlich sein und ihm die Ehre geben, denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und seine Braut hat sich bereitet! Und es ward ihr gegeben, sich zu kleiden in lichte reine Leinwand. Die Leinwand aber sind die gerechten Taten der Heiligen.

Das Lamm ist Jesus Christus, die Braut das himmlische Jerusalem (21,2), das laut Galaterbrief 4,26ff. die Mutter ist: "Aber das Jerusalem, das droben ist, das ist die Freie, die ist unsere Mutter". Jesus Christus wird nach seiner Apotheose die Vereinigung mit der Mutter zuteil, der Inzest, Vorrecht der Götter (27) und den Menschen auf Erden verwehrt. Das Lamm, das die Weltherrschaft antritt und Hochzeit hält, ist mannbar geworden: Es hat Hörner (5,6), ist also zum Widder gereift, zum phallischen Tier - in Bocksgestalt vermählt sich Jesus Christus mit der himmlischen Braut wie Zeus als Stier mit Europa oder als Schwan mit Leda. Wie in Puschkins Gabrieliade wird die Desexualisierung des höchsten uranischen Gottes rückgängig gemacht. Was das Christentum von dessen Lichtgestalt abgespalten und im Teufel verkörpert hat, das Sexuell-Animalische, symbolisiert durch die Hörner, kehrt in den Himmel zurück, und nicht ausgeschlossen von dieser Hochzeit, sondern intime Teilhabende an ihr sind die "Heiligen", also alle frommen christlichen Gotteskinder, denn etwas von ihnen, das sie zum himmlischen Leben adelt, ein nicht zufälliges pars pro toto, ihre "gerechten Taten", also ihre gottgefällige Lebensführung, umhüllt die himmlische Mutter als Kleid - vielleicht hat diese Bibelstelle Leonardo da Vinci zu seiner Heiligen Anna Selbdritt inspiriert. Die "gerechten Taten" sind gleichsam die Schwingen, mit denen die frommen Christen sich über die anderen, verworfenen Menschen erheben, um zu "Berufenen", "Auserwählten" zu werden, die mit dem Lamm sind. Auf den lichten Schwingen ihrer frommen Taten gelangen ihre Seelen in den Himmel und nehmen mit ihnen die göttliche Mutter in Besitz.

Eine Göttin, gewandet in die Flügel derer, die sie verehren, ist auch das Schmetterlingsmädchen Aischa in den Satanischen Versen. Salman Rushdie lässt sie im IV. und VIII. Kapitel seines Romans auftreten:

... obgleich sie völlig nackt war, hatten sich Schmetterlinge in so dicken Schwärmen auf ihr niedergelassen, dass sie ein Kleid aus dem feinsten Material der Welt zu tragen schien (28)

Schmetterlinge sind Seelentiere. Es sind die Seelen frommer indischer Muslime, die dem erotischen Charisma der schönen Prophetin verfallen und ihr auf eine Pilgerfahrt nach Mekka folgen, die eine Fahrt in den Tod ist: Manche sterben schon unterwegs an Entkräftung, viele ertrinken, weil das Arabische Meer, das zwischen Indien und Mekka liegt, sich nicht teilt, wie Aischa es versprochen hat.
Das Schmetterlingsmädchen ist die wiedergeborene Al-Lat, eine altarabische Göttin der Liebe und Weiblichkeit, die von dem Propheten Mohammed entmachtet wurde, als er den Islam etablierte. Was diese patriarchalische Religion unterjocht, Sexualität und weibliches Prinzip, sind unzerstörbare Bestandteile der menschlichen Natur und erleben ihre rächende Wiederauferstehung in Gestalt der dämonischen Seelenfängerin Aischa. Von Sigmund Freud wissen wir, dass ein menschliches Grundbedürfnis, das wir unterdrückt und verdrängt haben, nicht unwirksam geworden ist, sondern uns vom Unterbewusstsein aus umtreibt, gerne an der Nase herumführt oder in Gefahr bringt.  Was Mohammed und spätere Religionsführer wie Khomeini (in Kapitel IV von Rushdie als der frauenfeindliche Imam im westlichen Exil dargestellt) unterdrücken wollen, die Macht der weiblichen Erotik, rächt sich, indem es die frommen Seelen der Muslime in seinen Bann schlägt - Seelentiere, die eine Liebesgöttin als Kleid umhüllen, sind ein Bild sexueller Hörigkeit - das Unterdrückte schlägt zurück und lockt in den Tod.

War in der polytheistischen griechischen Religion das weibliche Prinzip, Mutter Erde, dem obersten männlichen Gott, Vater Zeus, mindestens ebenbürtig, so haben die drei großen monotheistischen Religionen das Patriarchat errichtet. Wie Judentum und Islam hat auch das Christentum als obersten Herrscher einen Vatergott,weibliche Gottheiten wie Artemis, Aphrodite oder Al-Lat gibt es nicht mehr, Mutter Natur ist abgewertet und entmachtet, dem Menschen untertan wie die Frau dem Mann. Das ist wider die Natur, in der männliches und weibliches Prinzip gleich notwendig und ebenbürtig sind. Deshalb ist die Etablierung einer patriarchalischen Religion ein gewaltsamer, unorganischer Akt, und die ursprünglichere, natürliche Stufe neigt dazu, sich wiederherzustellen, wenigstens in Ansätzen. Im Katholizismus geschah das durch die Assumptio Mariae, die Aufnahme der Gottesmutter an den himmlischen Hof (29), der Katholik kann heute zu einer weiblichen Gottheit, der Himmelskönigin, beten. Auch in der Apokalypse kehrt das Weibliche in den Himmel zurück: in Gestalt der Frau, die von der Sonne bekleidet und befruchtet wird. Oder als die Himmlische Braut Jerusalem.
Zur Natur des Menschen gehören Eros und weibliches Prinzip. Über sie kann er sich nicht erheben. Auch nicht in der Religion.



1) Vgl. Wilhelm Roscher: Hermes der Windgott, Leipzig 1878, S. 56-62

2) Zitiert nach Roscher (a.a.O., S. 59), von dem auch die Übersetzung ist

3) Beispiele bei Roscher, a.a.O., S. 54-62. Auch die Seelen "in luftigem Kleid" (wörtlich: "in Luft gewandet") in obigem Hesiod-Zitat lassen die Vorstellung von windartigen Seelen zu.

4) Vgl. Jakob Grimm: Deutsche Mythologie, S. 870-872 (Nachdruck S. 765-767); Wilhelm Mannhardt: Germanische Mythen, Berlin 1858, S. 269-273; Brockhaus 1966-1974, Stichwort Wilde Jagd

4a) Im Original steht für "Hops" "switchback" - Lenina fühlt sich in eine Achterbahn in einem Vergnügungspark versetzt.

5) Viele Beispiele, nicht nur aus Deutschland, bietet das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Stichwort Schmetterling, Kapitel 3: Seelenepiphanie.


6) = Fußnote 5

7) = Fußnote 5

8) = Fußnote 5

9) 24,1-10, zitiert aus der Tusculum-Ausgabe, Übertragung: Anton Weiher

10) Vgl. auch: Kurt Latte: Römische Religionsgeschichte. 1960, S. 309.

11) Freud meint die griechische Sagengestalt Psyche, ein schönes Mädchen mit Schmetterlinsgflügeln, die als Allegorie der menschlichen Seele galt - vgl. W.H. Roscher: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Artikel Psyche, besonders S. 3237-3251

12) freilich in der Tradition von Forschern wie Jacob Grimm, Hermann Usener und vielen anderen, denen nicht entging, dass ihr Studienobjekt, germanische bzw. griechische Mythen, frappante Parallelen bei anderen Völkern haben, dass zum Beispiel  nicht nur der Hellene Zeus donnert und blitzt, sondern auch sein russischer Bruder Perun. Dass solche gemeinsamen Vorstellungen angeboren sein müssen, folgerten sie jedoch nicht daraus, sondern ahnten es allenfalls.

13) Der Kleine Pauly: Artikel Horus / Heinrich Schäfer: Weltgebäude der alten Ägypter, in: Heinrich Schäfer: Ägyptische und heutige Kunst und Weltgebäude der alten Ägypter. Zwei Aufsätze. Berlin und Leipzig 1928, besonders die Seiten 113-119

14) Ein Schwan gilt vor allem als ästhetisches, Dichtkunst und Musik verkörperndes Tier, doch gehören auch Kampfbereitschaft und Gefährlichkeit zu seinem Wesen. Beobachtet man einen Schwan und versenkt sich in seinen Anblick, so wird man diese Gegensätze wahrnehmen. Sein edles weißes Gefieder, seine elegante Gestalt sind schön, er passt in eine gepflegte Parklandschaft. Aber sein Gesicht hat etwas Gefährlich-Schönes. Der lange, bewegliche Hals - erinnert er nicht an eine Schlange? Als Kind bin ich einmal beim Baden in einem See nahe dem Ufer aus Versehen einem Schwan zu nahe gekommen. Der Hals richtete sich auf wie eine Schlange, das Tier zischte wie ein Drachen und seine ausgebreiteten Flügel verliehen ihm eine bedrohliche Größe. Der Schreck war mir in die Knochen gefahren.

15) Ovid, Metamorphosen X, 155

16) "Einst entbrannte der König der Himmlischen in Liebe zu Ganymed, dem Phryger, und es fand sich etwas, was Juppiter lieber sein wollte als was er war. Doch geruht er sich in keinen anderen Vogel zu verwandeln als den, der seine Blitze tragen kann"  (Ovid, Metamorphosen X,155ff., Übersetzung: Michael von Albrecht, zweisprachige Reclam-Ausgabe) - Ovid dachte offenbar nicht an die Sage von Zeus und Leda.

17) An die Wurzel *per- ist das russische Suffix -un gehängt, vgl. russisch korsch-un "Geier, Weihe, Milvus" mit ukrainisch korsch-ak "dasselbe". Das Suffix -un haben z.B. russisch gorb-un "Buckliger" zu gorb "Buckel", bolt-un "Schwätzer" zu bolt-at' "schwätzen" und viele mehr. Von der slawischen Wurzel *per- "Feder, Flügel" sind gebildet: tschechisch, slovakisch, serbokroatisch, bulgarisch pero "Feder", polnisch pióro "Feder", altrussisch pero "Feder, Flügel", urverwandt sind litauisch sparnas "Flügel, Fittich" und lettisch sparns "dasselbe".


18) C.G.Jung: GW 5, § 150

19) Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. 2000, S. 189

20) Vgl. Wörterbuch der Analytischen Psychologie, Stichwort Schatten in den Gottesbildern

21) Vgl. Sigmund Freud: Gesammelte Werke VIII, 186, Fußnote

22) Schon in Vers 126f. der Theogonie heißt es: "Gaia brachte zuerst, ihr gleich, den sternenreichen Uranos hervor, damit er sie ganz bedecke" (Übersetzung beider Stellen: Otto Schönberger) "Ganz bedecke" gibt "peri kalyptoj" wieder; "kalyptoj" ließe sich auch mit "verhüllen" übersetzen. Hat die archetypische Vorstellung vom Liebesakt als Bedecken, Verhüllen seinen Ursprung in dem Eindruck, dass der Himmel die Erde umgibt? Gaia und Uranos sind die Urpotenzen, die durch ihre Liebesvereinigungen die Stammeltern der Götter und Menschen geworden sind.

23) Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Akademieverlag Berin 1989, Artikel Himmel und Hemd / J. Pokorny: Indogermanisches etymologisches Wörterbuch. 1959, Artikel kem- (3) / Jan de Vries: Nederlands etymologisch woordenboek, Leiden 1963, Artikel hemel.

23a) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. Aufgezeichnet von Aniela Jaffé. 12. Auflage 2001, S. 135

23b) Zur Deutung dieser "Wahn"vorstellung gehört natürlich auch der göttliche Inzest; C.G. Jung dazu a.a.O., S. 136: Die Patientin "wurde sozusagen in ein mythisches Reich versetzt; denn der Inzest ist traditionsgemäß eine Prärogative des Königs und der Götter." Außerdem ist diese Phantasie ein Beispiel für das Entrückungsmotiv: Ein Mensch wird von einem himmlischen Numen entführt, so dass sich ein Vergleich mit Goethes Gedicht Ganymed lohnt, das hier interpretiert wird.

23c) Peter Bamm: Oberflächliche Betrachtung. In: Kleine Weltlaterne. 1935

23d) Portia erscheint in diesem Vergleich als feindselige Naturmacht, die die Seidentücher, nachdem sie sich von ihnen "bekleiden" ließ, wie auch das Schiff, in dem sie geborgen waren und das sie zerstört hat, zuschanden macht, ja wahrscheinlich verschlingt. Natürlich tut dieser Vergleich der liebenswürdigen Braut unrecht, aber aus der Sicht des eifersüchtigen Antonio ist sie eine Gefahr, die seinen Bassanio dahinraffen will.

23e) An Jessicas Jungenkleidung nimmt Heinrich Heine in Shakespeares Mädchen und Frauen Anstoß. Heine, der als Jude sein ganzes Leben hindurch angefeindet wurde, sympathisiert mit Shylock, den Antisemiten als Verkörperung des bösen, geldgierigen Juden verteufeln, und verurteilt Jessicas Flucht als Verrat an ihrem Vater, wirft ihr Mangel an Keuschheit vor, findet, ein anständiges jüdisches Mädchen tue so etwas nicht, fühlt und argumentiert hier also puritanisch, als „Nazarener“, dem wie Shylock der venezianische Karneval mit seiner dionysischen Ausgelassenheit, mit seiner Musik, dieser „heidnische Mummenschanz“, der doch Jessicas erotische Befreiung symbolisiert, zuwider ist:

„Das leichtfertige Herz ward allzusehr angezogen von den heiteren Tönen der Trommel und der quergehalsten Pfeife. Hat Shakespeare hier eine Jüdin schildern wollen? Wahrlich nein; er schildert nur eine Tochter Evas, einen jener schönen Vögel, die, wenn sie flügge geworden, aus dem väterlichen Neste fortflattern zu den geliebten Männchen. …
Bei Jessika ist besonders bemerkbar eine gewisse zagende Scham, die sie nicht überwinden kann, wenn sie Knabentracht anlegen soll. Vielleicht in diesem Zuge möchte man jene sonderbare Keuschheit erkennen, die ihrem Stamme eigen ist, und den Töchtern desselben einen so wunderbaren Liebreiz verleiht. Die Keuschheit der Juden ist vielleicht die Folge einer Opposition, die sie von jeher gegen jenen orientalischen Sinnen- und Sinnlichkeitsdienst bildeten, der einst bei ihren Nachbarn, den Egyptern, Phöniziern, Assyrern und Babyloniern, in üppigster Blüte stand, und sich … bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Die Juden sind ein keusches, enthaltsames, ich möchte fast sagen, abstraktes Volk … “

23f) ) Diese Flügel-Metapher begegnet schon in I,1. Die Segel von Antonios Handelsschiffen sind „woven wings“. Die Metapher verbindet Jessica mit Antonios Segelschiffen, die für Bassanio stehen: Beide sind flügge und machen sich auf und davon.

23g) Sigmund Freud: Das Motiv der Kästchenwahl In: Gesammelte Werke X, S. 26

23h) Im Christentum gab es den Glauben an die Ohrzeugung: Maria sei vom Heiligen Geist auf unbefleckte, asexuelle Weise durch das Ohr schwanger geworden. Das Bild von den sterilen („barren“) Sperma-Juwelen im Ohr könnte für eine Vater-Tochter-Beziehung stehen, deren inzestuöser Charakter sublimiert ist, also ohne sexuelle Erfüllung bleibt.

24) Auch die Etymologie von Lykaios, dem Beinamen des Zeus als des Gottes, dem das Heiligtum geweiht ist, in welchem sein Licht unangefochten herrscht, so dass Menschen und Tiere keinen Schatten werfen, weist ihn als Lichtgott aus. Lyk-aios ist verwandt mit griechisch leuk-os "weiß, leuchtend, hell", lateinisch lux, luc-is "Licht", russisch луч / lutsch "(Sonnen)Strahl" - vgl. H. Gelzer: Lykurg und die delphische Priesterschaft. In: Rheinisches Museum 28 (1873), S. 36

25) Offenbarung 12, 1-2; "bekleidet" übersetzt griechisch periballesthai (das im Perfekt steht)

26) Josef Rattner: Kritisches Wörterbuch der Tiefenpsychologie für Anfänger und Fortgeschrittene. 1994, Artikel: Laioskomplex - Laios ist der Vater des Ödipus. Ein Orakelspruch hat ihm den Tod durch Sohneshand geweissagt. Deshalb lässt er den neugeborenen Ödipus mit durchbohrten Füßen aussetzen. Doch sein Sohn überlebt, wächst heran, tötet ihn und heiratet seine Mutter.

27) Vgl. Wolfgang Speyer: Zum magisch-religiösen Inzest im Altertum. In: Wolfgang Speyer: Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. Kleine Schriften III. 2007. S. 137-152.

28) Salman Rushdie: Die satanischen Verse. Knaur Taschenbuch Verlag 1997, S. 299. Übersetzung: NN

29) Die Dogmatisierung der Assumptio Mariae durch Papst Pius XII. im Jahre 1950 heißt C.G.Jung gut: "Die Konsequenz der päpstlichen Deklaration ist nicht zu überbieten und überlässt den protestantischen Standpunkt dem Odium einer bloßen Männerreligion, die keine metaphysische Repräsentation der Frau kennt; ähnlich dem Mithraismus, welchem diese Präjudiz sehr zum Nachteil gereicht hat. Der Protestantismus hat offenbar die Zeichen der Zeit, die auf die Gleichberechtigung der Frau hinweisen, nicht genügend beachtet. Die Gleichberechtigung verlangt nämlich ihre metaphysische Verankerung in der Gestalt einer <<göttlichen>> Frau, der Braut Christi. - GW 11, § 753


   
 
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