Home
So sehe ich aus
Reverse Colonization
Aktuelles
Essays
1968ff - Romanauszüge
Lyrik
Kurzgeschichten
Zwetajewa: Lyrik
Selbsterlebtes
Interpretationen
Archetypen
Verschiedenes
Narzissmus
Zwetajewa als Mann
Inspiration
Wiedergänger
Dein Leben ist leer wie dein Tank
taz zu Rushdie-Ehrung
Triumphierende Minarette
"Demographische Rendite"
"Frauen altern spannender"
Old Cohn-Bendit und sein Winnetou...
Seyran Ates will keine Nscho-Tschi sein
EMMAs outgesourcte Kinder
Архетипы и интерпретации
Archetypes
Gästebuch
   
 


Familienministerin von der Leyen, die Strahle-Frau, hat einen Strahle-Begriff benutzt, der sich hoffentlich nicht einbürgert: "Demographische Rendite". Rendite klingt positiv im Land der Sparer und Erben: der jährliche Ertrag eines Kapitelvermögens, also Gewinn, Prosperieren, sogar Wachstum. Negative Assoziationen weckt das Adjektiv „demographisch“: immer mehr Alte, immer weniger Kinder, der deutsche Volkskörper vergreist und ist bald ein Pflegefall, der ohne Zuwanderer nicht existenzfähig ist.
„Demographische Rendite“ – ist das nicht eine contradictio in adiecto, eine Zusammenfügung zweier Begriffe, die unvereinbar sind wie zum Beispiel „viereckiger Kreis“? Oder will die Strahlefrau uns bedeuten, der Geburtenrückgang sei gar nicht so schlimm, sondern hätte auch positive Effekte? Ja, wahrscheinlich will sie auf Letzteres hinaus. Es ist ja so beliebt, dieses Gutmenscheln: Weniger Kinder sind doch auch eine Entlastung für Wirtschaft und Gesellschaft, denn Kinder kosten Geld, das wir einsparen, wenn sie nicht geboren werden. Schluss mit der Unkerei vom Aussterben der Deutschen und Untergang des Abendlands! Allein die Ausgaben für Schule und Lehrer werden auf ca. vier Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Eine Finanzspritze, die unsere Wirtschaft belebt und uns zugute kommt!
Eine Gesellschaft, also Menschen, mit Kapital vergleichen, geht das denn? Ja, es geht. Schopenhauer, der sich auf Geld verstand und auch darüber philosophierte (Von dem, was einer hat in den Aphorismen zur Lebensweisheit), hatte ein ansehnliches Vermögen von seinem Vater geerbt und es nicht verschleudert, so dass er davon leben konnte, nicht als Playboy, als Schmarotzer – es verschaffte ihm die Muße, die er brauchte, um sein großes Werk zu schaffen. In seiner Schrift Vom Unterschiede der Lebensalter zieht er solch einen Vergleich mit einem einzelnen Menschen:

Hinsichtlich der  L e b e n s k r a f t  sind wir, bis zum 36sten Jahre, denen zu vergleichen, welche von ihren Zinsen leben: was heute ausgegeben wird, ist morgen wieder da. Aber von jenem Zeitpunkt an ist unser Analogon der Rentenier, welcher anfängt, sein Kapital anzugreifen. Im Anfang ist die Sache gar nicht merklich: der größte Teil der Ausgabe stellt sich immer noch von selbst wieder her: ein geringes Defizit dabei wird nicht beachtet. Dieses aber wächst allmälig, wird merklich, seine Zunahme selbst nimmt mit jedem Tage zu: sie reißt immer mehr ein, jedes Heute ist ärmer, als das Gestern, ohne Hoffnung auf Stillstand. So beschleunigt sich, wie der Fall der Körper, die Abnahme immer mehr – bis zuletzt nichts mehr übrig ist.

Hingegen Anfangs, bis zur Volljährigkeit und noch etwas darüber hinaus, gleichen wir, hinsichtlich der Lebenskraft, denen, welche von den Zinsen noch etwas zum Kapitale legen: nicht nur das Ausgegebene stellt sich von selbst wieder ein, sondern das Kapital wächst.

Nun kann man den Körper eines Menschen mit einem Volk oder Staat vergleichen und von Volkskörper oder Gesellschaftsorganismus sprechen, weil beide als biologische Gebilde – ein Mensch besteht aus Zellen, ein Volk aus Menschen – altern und schließlich (aus)sterben (wofür sich Beispiele hier finden). Wir Deutschen altern, weil wir immer weniger Kinder bekommen, und Geld, das dadurch für uns herausspringt, ist keine Rendite, kein Zins, erst recht keine Vermehrung, sondern wird vom Kapital genommen, zu dem es gehörte, weil es angelegt wurde, um zu arbeiten, zum Beispiel, indem es Lehrer entlohnt und so die Ausbildung unserer Kinder ermöglicht.Wir leben von der Substanz, unser Kapital schrumpft, auch was unsere Kinder betrifft, denn sie sind Humankapital, man hat Zeit, Nervenkraft und Geld in ihre Erziehung und Bildung investiert, nicht nur, um urteilsfähige  Menschen aus ihnen zu machen, sondern auch, damit ihre Arbeitskraft einem später zugute kommt. Mir ist natürlich klar, dass Humankapital zum Unwort des Jahres 2004 gewählt worden ist. Begründung: es degradiere den Menschen, der doch ein selbstbestimmtes Subjekt sein soll, zum Objekt, das sich auf dem Arbeitsmarkt als Ware verkaufen und als Rädchen im Getrieb funktionieren soll. Nun bin auch ich dafür, dass aus Kindern mündige Erwachsene werden sollen, die fähig sind, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Aber die Gesellschaft erwartet von einem Menschen auch, dass er für seine Brötchen etwas tut, wie zum Beispiel ein Arzt etwas für ihn tut. Do ut des, zu Deutsch Ich gebe (dir etwas), damit du (mir etwas) gibst – ist ein tragendes Prinzip des Menschseins seit Urzeiten. Jeder Mensch ist – nicht nur, aber auch – Humankapital, in den die Eltern, die Nation investiert haben und etwas von ihm dafür erwarten; Parasiten sind verächtlich. Die Gutmenschen, die Humankapital zum Unwort erklärten, müssten dies konsequenterweise auch mit Begriffen wie zum Beispiel Arbeitsmarkt tun.

Ich bin dafür, den Begriff „demographische Rendite“, wenn er sich denn einbürgert, zum Unwort zu erklären, weil er ein makaberer Euphemismus ist, der uns vergreisenden Deutschen schmeichelt, statt uns eine kränkende Wahrheit zu verabreichen, wie es der Begriff Humankapital tut, indem er daran erinnert, dass der einzelne Mensch nicht grenzenlos autonom ist, sondern neben Ansprüchen auch Pflichten hat. Das aber geht den Gutmenschen gegen den Strich – ihre Version von Artikel 1,1 Grundgesetz: Der Narzissmus des Menschen ist unantastbar.

   
 
Top