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ZUM BEGRIFF HOLOCAUST, ZU SEINEN WURZELN IM MENSCHENOPFER UND ZUR RITUALMORDLEGENDE ALS PROJEKTION


„Holocaust“, der Begriff für die Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten, hat eine lange Vorgeschichte, die als Wurzel in archaische Zeiten zurückreicht und uns zu archaischen religiösen Auffassungen und Praktiken zurückführt, die heute für überwunden gelten, aber nicht wirklich tot sind, sondern nur verdrängt und in Abgründen der menschlichen Seele weiterleben und von dort aus weiterwirken wollen. „Holocaust“ kommt von dem lateinischen „holocaustum“,  das in der Antike eine Bezeichnung für ein vollständig verbranntes Tieropfer oder Menschenopfer war. In der lateinischen Bibelfassung, der Vulgata, wird dieser Begriff zum Beispiel in Genesis 22 gebaucht, als Gott Abraham befiehlt, ihm seinen Sohn Isaak als „holocaustum“ darzubringen. In einer von katholischer Seite veranlassten Übersetzung der Bibel ins Englische wurde der Begriff mit „holocaust“ wiedergegeben und fand so Eingang in die englische Sprache:

Take thy only begotten son Isaac, whom thou lovest, and go into the land of vision; and there thou shalt offer him for a holocaust, upon one of the mountains which I will shew thee.
(Douay-Rheims Bible 1609)

Im letzten Moment, als Abraham seinen Sohn schon gefesselt auf den Altar gelegt hat, um ihn mit seinem Messer zu töten, gebietet ihm ein Engel Einhalt und statt Isaak opfert Abraham einen Widder. Diese Erzählung, die in der jüdischen Theologie „Akedah“ und im Englischen „The Binding of Isaac“, also „Fesselung des Isaak (als Vorbereitung zu seiner Tötung und Verbrennung)“ heißt, ist auch deshalb bedeutsam, weil sie den Übergang vom Menschenopfer zum Tieropfer zum Thema hat. Die barbarische und grausame Praxis, Menschen zu opfern, ist im Christentum, Judentum und Islam überwunden – das ist der Sinn dieser Geschichte. Aber auch: Die Schlechtigkeit der Menschen ist so groß, dass Gott eigentlich nur durch ein Menschenopfer versöhnt werden kann, denn die Schlachtung und Verbrennung des Sohnes fordert er ja nicht zum Scherz. In seiner Gnade aber begnügt er sich mit einem Tieropfer – dieser historische Akt göttlicher Barmherzigkeit weist auf Christi Opfertod voraus, der Gottes Zorn über die Sünden der Menschen ein für alle Mal beschwichtigt und so alle weiteren Menschenopfer für immer überflüssig macht.
Solch ein Begriff – sollte man mit Garber und Zuckerman meinen (1) - , in dem archaische religiöse Auffassungen weiterleben und der die im Holocaust ermordeten Juden zu Opfern macht, deren Bestimmung es war, getötet zu werden, und die Nazis zu gehorsamen frommen Priestern, die Gott die verlangten Menschenopfer dargebracht haben, solch ein Begriff sollte doch das allerletzte sein, was sich insbesondere Juden als Bezeichnung für die Shoa wünschen, sollte von ihnen energisch zurückgewiesen werden. Doch dem ist nicht so. Viele Juden, deren theologisches Denken um die Shoa kreist und sie zu deuten versucht, legen Wert auf diesen Begriff. Bekanntestes Beispiel ist der jüdische Religionsphilosoph und Auschwitz-Überlebende Elie Wiesel, der entscheidend an der Einführung des Begriffs „holocaust“ für die Shoa beteiligt war und zum Beispiel 1965 schrieb:

It is said that three Jewish sages in one of the Nazi concentration camps once decided to form themselves into a bet din, a court of law, and summon the Almighty to a din torah, to trial, where he could defend himself for permitting so many of His children to perish on the Akedah, the sacrificial altar.                                                                   (2)

Oder 1980 erklärte:

The Akedah is one of the most mysterious, one of the most heartbreaking, and, at the same time, one of the most beautiful chapters in our history. All of Jewish history can actually be comprehended in that chapter. I call Isaac the first survivor of the Holocaust because he survived the first tragedy. Isaac was going to be a burnt offering, a korban olah, which is really the Holocaust. The word “holocaust” has a religious connotation. Isaac was meant to be given to God as a sacrifice.                                                          (3)

Mit der Auffassung, dass ermordete Juden Menschenopfer sind und Nachfolger Isaaks, steht Elie Wiesel in einer alten jüdischen Tradition. Das wird offensichtlich, wenn man zum Vergleich die Schilderung der Judenpogrome während des Ersten Kreuzzugs durch den jüdischen Chronisten Salomo bar Simeon von Mainz heranzieht. Der Augenzeuge überliefert, wie die christlichen Kreuzfahrer mit der Ausrottung von Nichtchristen bereits im Rheinland begannen. Die Juden empfangen den Tod durch den Lynchmob fatalistisch und deuten ihr Schicksal als Strafgericht Gottes, der über ihre Sünden erzürnt ist und sich nur durch Menschenopfer versöhnen lässt:

… und saßen so in dem Hofe, um schnell den Willen ihres Schöpfers zu erfüllen; sie wollten nicht in die Gemächer flüchten, um eine Stunde länger leben zu können, denn in Liebe nahmen sie das himmlische Strafgericht an. Die Feinde schleuderten Steine und Pfeile gegen sie und sie hatten nicht den Gedanken, zu entfliehen. Da schlugen die Feinde alle, die sie dort fanden, mit Schlägen des Schwertes, des Würgens und der Vernichtung. Als die in den Gemächern Versammelten solche That der Gerechten sahen und wie die Feinde über sie herfielen, da schrieen sie alle: „Es ist das Beste, unser Leben zum Opfer zu bringen!“ Und die Frauen dort gürteten mit Kraft ihre Lenden und schlachteten ihre Söhne und Töchter und dann sich selbst; viele Männer stärkten sich und schlachteten ihre Frauen, ihre Kinder und ihr Gesinde; die zarte und weichliche Mutter schlachtete ihr Lieblingskind; alle erhoben sich, Mann wie Frau, und schlachteten einer den anderen. Und die Jungfrauen, die Bräute und Bräutigame schauten durch die Fenster und riefen mit lauter Stimme: „Schaue und siehe, unser Gott, was wir zur Heiligung deines grossen Namens thun, um dich nicht zu vertauschen mit dem Gekreuzigten.“ Zions theuere Kinder, die Kinder der Gemeinde Mainz wurden mit zehn Prüfungen heimgesucht, wie unser Stammvater Abraham, wie Chanania, Mischael und Asaria, dann banden sie ihre Kinder als Opfer, wie Abraham seinen Sohn Isac band, und nahmen willig das Joch der Furcht vor Gott, dem Könige aller Könige, dem Heiligen, gelobt sei er, auf sich. Sie wollten ihn nicht verleugnen, wollten den Glauben an unsern König nicht vertauschen mit dem eines verächtlichen Sprösslings; sie strecken ihren Hals auf die Schlachtbank hin und übergaben ihre reine Seele ihrem Vater im Himmel.         (4)

Über diese Pogrome während des ersten Kreuzzugs überliefert eine andere jüdische Quelle, der Bericht des Mainzer Anonymus (Darmstädter Handschrift):

Es war am 8ten des Monats Jjar, am Sabbathtage, da begann das Strafgericht über uns zu kommen. Die Irrenden und Städter erhoben sich zuerst gegen die heiligen und hohen Frommen in Speyer, und hatten im Plane, sie zusammen in der Synagoge zu ergreifen.

Und es geschah, als die schlimme Nachricht nach Worms gelangte, dass ein Theil der Gemeinde Speyer ermordet worden, da schrieen sie zum Ewigen auf und weinten sehr, denn sie erkannten, dass es ein vom Himmel aus beschlossenes Verhängnis ist, dem zu entfliehen kein Ausweg bleibt, weder vor- noch rückwärts.

Dort befand sich ein junger Mann, namens R. Meschulam bar Isac. Der rief mit lauter Stimme allen Umstehenden zu: Höret auf mich, ihr Grossen und Kleinen! Diesen Sohn hat mir Gott geschenkt, meine Frau Ziporah gebar ihn in ihrem Alter und er wurde Isac genannt. Ich opfere ihn jetzt, wie dereinst unser Vater seinen Sohn Isac geopfert hat.“  … Hierauf band er seinen Sohn und ergriff das Messer, um seinen Sohn zu schlachten; er sprach den Segensspruch über die Schlachtung und der Knabe antwortete mit „Amen“, und er schlachtete den Knaben.                             (5)

Als Strafgericht Gottes deutet auch der Bericht des Ephraim bar Jacob ein Pogrom während des Zweiten Kreuzzugs:

Auch im Jahr 4931 hat Gott unsere Missethaten heimgesucht.              (6)

In diesen Berichten deuten Juden die Pogrome als Strafe, mit denen Gott sie für ihre Sünden heimsucht, und die mordenden Kreuzfahrer als seine Werkzeuge. Die Todesopfer, die er sich durch diese Werkzeuge holen will, bringen sie ihm selbst als Menschenopfer dar, wie Abraham das mit seinem Sohn Isaak zu tun bereit war: sie schlachten  ihre Kinder, ihre anderen Verwandten, Freunde, Glaubensgenossen, um Gottes Willen zu erfüllen, um seinen Zorn zu beschwichtigen – dieser Fatalismus, diese lammfromme Ergebung in den vermeintlichen Willen eines grausamen Gottes verstört, und man ist versucht, sie als typisch jüdisch, als jüdischen Masochismus zu deuten, dann kann man sich selber frei von solchen Anwandlungen fühlen, wenn man kein Jude ist.
So einfach machen wir es uns natürlich nicht und wenden uns Nichtjuden zu, und zwar zuerst den Christen im spätrömischen Reich. Sie wurden immer verheerender von Barbaren heimgesucht, die über Rhein und Donau eindrangen und nicht zurückgeschlagen werden konnten, weil die Römer moralisch gesunken, verweichlicht, dekadent geworden waren. Besonders schlimm waren die Hunnen unter Attila, die den Christen als „flagellum Dei / Geißel Gottes“ und „virga furoris Dei / Zuchtrute göttlichen Zorns“ galten (7) – solche Deutungen sind Ausdruck eines masochistischen Strafbedürfnisses, zu dem die Vorstellung eines Gottes gehört, der zürnt und straft, aber durch Opfer besänftigt werden kann. Am effektivsten durch Menschenopfer.
Diese innere Haltung der Juden, denen der Pogromtod durch die Kreuzfahrer sicher war und die die Rolle des Menschenopfers auf sich nahmen, finden wir auch in literarischen Werken. Die antike Sagengestalt Orest ist in Goethes Drama Iphigenie auf Tauris in die Gewalt eines barbarischen skythischen Stammes geraten, der ihn als Menschenopfer darbringen will. Da Orest seine Mutter ermordet hat und von Rachegeistern verfolgt wird, bringt sein übermächtiges Schuldgefühl ihn dazu, seine Bestimmung zum Menschenopfer zu verinnerlichen, so dass er sich nach einem entsühnenden Tod sehnt:

Soll ich     …
Als Opfertier im Jammertode bluten:
So sei es!                                      576ff.

Ich bin Orest! und dieses schuld’ge Haupt
Senkt nach der Grube sich und sucht den Tod;
In jeglicher Gestalt sei er willkommen!         1082ff.

Nicht nur aus endogenen Gründen, weil er dieses kaum bezwingbare Schuldgefühl hat, wirft der drohende Opfertod seinen Schatten auf Orests Seele, sondern auch auf Grund der äußeren Umstände, in denen er sich befindet: Er ist ein Gefangener, der von Barbaren zum Opfertod bestimmt ist – Innen und Außen wirken zusammen, Orest hat sich in sein Schicksal ergeben und fantasiert seine rituelle Schlachtung und seinen daran anschließenden Abstieg in die Totenwelt so intensiv, dass er es wirklich zu erleben glaubt:

Gut, Priesterin! ich folge zum Altar:                                     1228

Ja, schwinge deinen Stahl, verschone nicht,
Zerreiße diesen Busen und eröffne
Den Strömen, die hier sieden, einen Weg!
(Er sinkt in Ermattung.)                                                           1252ff.

Interessant ist die Formulierung „verschone nicht!“, mit der Goethe auf die Akedah-Geschichte in Genesis 22 anspielt; Gott lässt Abraham durch den Engel ausrichten:

Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.

Diese obsessive Identifizierung des Goethe‘schen Orest, der nicht verschont werden will, mit einem Opfertier, das geschlachtet werden soll, kann einem pathologisch erscheinen – es ist aber nicht krankhaft, weil es seelische Gesundung bewirkt. Das intensive innere Erleben des eigenen Todes als Menschenopfer führt zur seelischen Katharsis: Von seinen Schuldgefühlen, die ihn gequält und in eine passiv-masochistische Opferhaltung gedrängt haben, wird Orest befreit, gewinnt seine Tatkraft zurück und ist wieder auf seine Rettung bedacht – Menschenopfer, auch wenn sie nur fantasiert werden, wirken offenbar gegen Schuldgefühle.

Ein anderes Beispiel für einen Gefangenen, der getötet werden soll und sich mit einem Opfertier identifiziert, ist Antonio in Shakespeares Kaufmann von Venedig. Der angesehene ältere Kaufmann hat dem jungen, schönen Bassanio, den er wie einen Sohn liebt, eine großzügige Geldsumme zur Verfügung gestellt, damit dieser standesgemäß um die attraktive Portia freien kann. Da Antonio gerade knapp bei Kasse war, hat er sich das Geld für seinen Freund bei seinem Erzfeind Shylock geliehen, der die Bedingung gestellt hat, dass er sich ein Stück Fleisch aus Antonios Körper herausschneiden darf, und zwar an welcher Stelle es ihm beliebt, wenn er das Geld nicht zum festgesetzten Termin zurückbekommt. Als die Geldsumme fällig wird, ist Antonio zahlungsunfähig, gerät in Schuldhaft und steht schließlich in der berühmten Gerichtsszene Shylock gegenüber, der sein Pfund Fleisch aus ihm herausschneiden, also ihn schlachten will - da ruft Antonio aus:

I am a tainted wether of the flock,
Meetest for death, -the weakest kind of fruit
Drops earliest to the ground, and so let me                   (IV, 1, 114ff.)

"Wether" steht in älteren englischen Texten, die das Binding of Isaac erzählen, für den Widder, den Abraham an Stelle seines Sohnes opfert - Shakespeare spielt also auf die Akedah-Geschichte in Genesis 22 an (8). Und Antonio bezeichnet sich als "tainted", als "moralisch angefault, korrumpiert", weshalb ihm zu sterben ziemt ("meetest for death"). Aus solchen Worten spricht Schuldgefühl, ein unerbittliches Gewissen, das ihn zum Tode verdammt. Antonios Schuld, die dieses masochistische Strafbedürfnis aktiviert hat, besteht in uneingestandener Eifersucht, in verdrängten egoistischen und aggressiven Wünschen, die auf Bassanio gerichtet sind. Denn Antonio kommt nicht damit klar, dass sein junger Freund in Portia verliebt ist und sie heiraten will, dass also bald nicht mehr er, sondern eine Frau die wichtigste Peron in Bassanios Leben ist.

Ein weiteres Beispiel für einen Gefangenen, der hingerichtet werden soll und mit einem Opfertier identifiziert wird, ist Old Shatterhand in Karl Mays Roman Winnetou I. Bei Karl May sind die Indianer, denen der moralisch verdorbene weiße Mann ihr Land wegnehmen will, Edle Wilde, also die Guten, während Old Shatterhand  zunächst auf der Seite der Bösen, der Eindringlinge steht, denen er als "surveyor" dient, also das geraubte Land vermisst, das heißt, zur Kultivierung, zur Ausbeutung, zum Bau von Eisenbahnen vorbereiten hilft. Deswegen quält ihn ein heftiges Schuldgefühl, das er jedoch nicht wie Orest bewusst empfindet und äußert, sondern verdrängt. Da der aus masochistischem Strafbedürfnis fließende Wunsch, als Menschenopfer gefoltert und getötet zu werden, nicht zu dem strahlenden Helden Old Shatterhand passt, sondern im Unterbewusstsein der ihn anhimmelnden und sich mit ihm identifizierenden Leserschaft und seines Schöpfers Karl May verborgen bleiben muss, kann er sich, um nicht Anstoß zu erregen, nur in getarnter Gestalt zeigen. Dies tut er in den Worten, die Sam Hawkens in der Marterpfahlszene an Old Shatterhand richtet:

Seid ja herausgefüttert wie ein Gänserich, der zu Martini gebraten werden soll!

Dieser Satz hat – wie auch die menschliche Seele – ein Bewusstsein und ein Unterbewusstsein, einen offensichtlichen und zugleich einen verborgenen, unterschwelligen Sinn, einen Subtext.
Der oberflächliche Sinn dieser Worte ist es, Sam Hawkens' Galgenhumor zu demonstrieren, seine unverwüstliche Souveränität, die ihn über Verzweiflung und Todesangst erhaben sein lässt.
Der Subtext ist folgender: Sam Hawkens vergleicht Old Shatterhand mit einer Martinsgans, also einem Tier, das zur Schlachtung an einem religiösen Feiertag, St. Martin, also zur Tötung aus religiösen Gründen bestimmt ist. Old Shatterhand soll als Menschenopfer am Marterpfahl rituell sein Blut vergießen, getötet und schließlich verbrannt werden.

Die Identifizierung des Menschen mit einem Tieropfer, das ein ursprüngliches Menschenopfer ersetzt, ist archetypisch, das heißt, eine allen Menschen angeborene seelische Vorstellung, und findet sich deshalb nicht nur in alten Büchern von Goethe, Shakespeare oder Karl May, sondern auch in religiösen Riten der Gegenwart: Die Islamkritikerin Necla Kelek schildert in ihrem Buch Die verlorenen Söhne, S. 167, was sie auf einem türkisch-islamischen Opferfest beobachtet hat:

Ich stand am Fenster im ersten Stock und sah zu. Als die Grube fertig war, brachten die Männer das Tier zu Fall, einer von ihnen sprang hinzu und durchtrennte die Halsschlagader. Das Tier zappelte und zuckte, bis zwei Männer auf seinen Körper stiegen und so lange mit den Knien wippten, bis das Blut aus dem Rind in einem dicken Schwall in die ausgehobene Kuhle floss und einen roten See entstehen ließ. …  Dann begannen die Männer, mit Messern und Beilen den riesigen Kopf vom Körper zu trennen, und legten das Haupt in den Rinnstein der Straße. Die Kinder hatten sich das Schauspiel nicht entgehen lassen, und niemand hatte sie gehindert, dem grausigen Spektakel zuzuschauen. Jetzt wurden die Jungen mutiger und wagten, sich dem Kopf zu nähern, umkreisten ihn und imitierten die aufgerissenen Augen des Tieres, um ihre Schwestern zu erschrecken.

Eine Schlüsselstelle ist der letzte Satz des Zitats: Die Jungen sind Abrahams Söhne (9), sie identifizieren sich mit dem geopferten Rind. Die Darstellung durch die Frauenrechtlerin Kelek legt nahe, das Verhalten der Söhne als mutwilliges Erschrecken der Mädchen zu verstehen, als Ausdruck männlicher Fühllosigkeit und Brutalität, die von den schlachtenden Vätern, die sich dabei „als Herren über Leben und Tod“ fühlen,  auf die Söhne abfärbt. In Wirklichkeit ist es Ausdruck religiöser Demut: In der Tiefe der Seele aller Teilnehmer an solch einem Opferfest schlummert noch die Überzeugung, dass Gott so erzürnt über die menschliche Sündhaftigkeit ist, dass ihn eigentlich nur die Opferung der Söhne beschwichtigen kann – doch in seiner Gnade begnügt er sich mit einem Tier. Ein Abglanz von dem archaischen Leid und Entsetzen der Familie, die einen Sohn opfert, erleben aber noch die Schwestern, die von ihren das Opfertier imitierenden Brüdern erschreckt werden – dieser Schmerz und dieser Schauder gehören dazu, denn das Wesen jeden Opfers besteht im Verzicht, im leidvoll empfundenen Verlust.

Orest, Antonio, Old Shatterhand und die von Necla Kelek beobachteten türkischen Jungen dienten uns als Beispiele für das in der Tiefe der menschlichen Seele schlummernde Streben, Menschen mit Opfertieren zu identifizieren und so die abmildernde, zivilisierende Ersetzung der Menschenopfer durch Tieropfer rückgängig zu machen, weil ein Mensch mehr wert als ein Tier ist und den zürnenden Gott, Verkörperung des archaischen Schuldgefühls, durch seine Opferung effektiver zu beschwichtigen vermag. Getrieben von solchen archaischen Impulsen sind natürlich nur abergläubische, tief religiöse Menschen, sollte man meinen. Keineswegs! Auch Linke, die sich so viel auf ihre fortschrittliche Aufgeklärtheit und Rationalität einbilden, sind dafür anfällig. „Wann endlich beginnt bei Euch der organisierte Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“ appellierte der 68er Aktivist Dieter Kunzelmann 1969 in dem linksradikalen Szeneblatt Agit 883 in der Ausgabe vom 3. April 1970 (10). Auch dieser Satz hat wie die menschliche Seele ein Bewusstsein und ein Unterbewusstsein. Sein bewusster, offensichtlicher Sinn ist es, die Linken zum Kampf gegen das zionistische Israel aufzurufen. Es handelt sich also um antiimperialistische Agitation. Denn wegen ihres Schuldgefühls war es damals für die allermeisten Deutschen noch tabu, Israel zu kritisieren oder gar zu bekämpfen. Dieses Tabu ist nach Kunzelmanns Auffassung aber ebenso irrational wie das Tabu, das die heiligen Kühe in Indien unantastbar macht.
Zu dem unterschwelligen Sinn, dem Subtext, führt die Vorstellung des Schlachtens, die das Bild der heiligen Kühe impliziert. Heilige Kühe werden eben deshalb nicht geschlachtet, weil die Inder so irrational religiös, so unaufgeklärt sind. „Eine heilige Kuh schlachten“ bedeutet „ein irrationales, ein überfälliges Tabu endlich überwinden“. In Kunzelmanns Unterbewusstsein ist der imperialistische Judenstaat, der den Edlen Wilden, den Palästinensern, ihr Land raubt, also ein Opfertier (wie der Kollaborateur Old Shatterhand), das geschlachtet (und verbrannt) gehört, ein holocaustum - einen Massentod von Juden wollte Kunzelmann ja auch verursachen, als er 1969 seine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus in Berlin platzieren ließ, und das ausgerechnet am 9. November, dem Jahrestag der Novemberpogrome 1938, der „Reichskristallnacht“ , als die Synagogen in Deutschland brannten; auch die Synagoge in der Fasanenstraße, wo Kunzelmanns Brandsatz viele Teilnehmer an der Gedenkveranstaltung in den Tod reißen sollte, wurde 1938 von Flammen verzehrt (11). Im obsessiven Antizionismus vieler Linker lebt als Unterströmung der Judenhass der Väter und Urväter weiter.

Hier darf jedoch nicht pauschalisiert werden, sonst beurteilt man die westdeutsche Neue Linke unfair. Ihr Antizionismus ergab sich logisch aus ihrer antiimperialistischen Grundeinstellung. Israel ist nun einmal Stützpunkt des westlichen Imperialismus im Nahen Osten. Nehmen wir als Beispiel Albert Fichter, der im Auftrag Kunzelmanns die Bombe am 9. November im Jüdischen Gemeindehaus platzierte. Seine Schilderung der Ereignisse, die ich im Großen und Ganzen für aufrichtig halte, ist ja in Kraushaars Buch veröffentlicht. Alfred Fichters antiisraelische Einstellung, die Kunzelmann manipulierend ausnutzte, geht auf Eindrücke wie diesen zurück, als er 1967 als freiwilliger Erntehelfer in Israel war:

Man erhielt auch einiges an Propagandamaterial. Ich kann mich noch genau an ein Heftchen im DIN-A5-Format erinnern. Auf der einen Seite war ein kleiner Esel abgebildet. Darunter stand: >Als Esel geboren<., und auf der anderen Seite war ein Foto zu sehen, auf dem ein junger Palästinenser, 16 oder 17 Jahre alt, erschossen in seinem Blut lag. Darunter stand dann: >Und als Esel gestorben<.. Das war ganz übel. Es hatte mich daran erinnert, wie die Nazis die Juden entmenschlicht und als Ungeziefer diffamiert haben. Dies hat mich so sehr empört, dass ich das auch in der gemeinsamen Freizeit und während der Arbeit auf dem Erntewagen moniert habe.                                                                             (12)

Es ist Empathie für die Besiegten. Albert Fichter fühlte sich in Israel, wie Old Shatterhand sich im Wilden Westen fühlte: als Komplize der weißen Imperialisten. Mit den Palästinensern identifizierte er sich nicht aus antisemitischen Motiven, sondern weil sie für ihn edle Wilde waren – in dieser uralten romantischen Tradition, die sich bis auf Rousseau und sogar Tacitus (13) zurückführen lässt und Winnetou-Komplex genannt werden kann, identifizierten sich die 68er leidenschaftlich mit den vietnamesischen Robin Hoods, deren Wälder die US-Imperialisten mit Entlaubungsgift attackierten, oder mit Indianern, zum Beispiel mit südamerikanischen, so dass sich militante Gruppierungen in Westberlin und München „Tupamaros“ nannten, sich also einen Namen zulegten, der auf den letzten Inka-Herrscher Tupaq Amaro zurückgeht, oder mit nordamerikanischen wie zum Beispiel der Verfasser des Buback-Nachrufs, den er mit „Ein Göttinger Mescalero“ unterschrieb. Die Mescaleros waren ein Unterstamm der Apachen, zu denen bei Karl May Winnetou gehört (14). Aus diesem Winnetou-Komplex und nicht aus Rassismus floss auch der Antiamerikanismus der 68er.
Antisemitische Strömungen in der Tiefe des Antiimperialismus der westdeutschen Neuen Linken gab es, aber sie dominierten nur in Ausnahmen, waren aber oft auch nicht geringfügig. In Kunzelmanns Unterbewusstsein wirkte dieser überkommene Judenhass weiter, und zwar so stark, dass er das von ihm initiierte Bombenattentat vom 9. November prägte, ihm den Charakter eines antisemitischen Brandanschlags verlieh.

Die Etymologie des Begriffs „Holocaust“ reicht in archaische Zeiten zurück, in denen Menschen geopfert wurden. Was waren das für Götter, die solche Opfer verlangten? Und was für Sünden konnten nur durch Menschenopfer gesühnt werden?
Göttlich war in ältesten Zeiten die Natur: Mutter Erde, Wälder, Flüsse, das Meer. Wodurch erregt der Mensch ihren Zorn? Dazu ein Beispiel: Agamemnon hat in der Hafenstadt Aulis eine Kriegsflotte versammelt, um die reiche und mächtige Stadt Troja zu erobern. Doch die Göttin Artemis erzeugt eine lähmende Wildstille (oder widrige Winde in anderen Überlieferungen), so dass er nicht in See stechen kann, und lässt ihm durch den Seher Kalchas verkünden, dass er erst dann nach Troja fahren kann, nachdem er ihr seine Tochter Iphigenie geopfert hat (15). Artemis ist die Verkörperung der vom Menschen unberührten Wildnis, unter ihrem Schutz steht der Wald, also die Bäume und anderen Pflanzen, aus denen er besteht, und vor allem die wilden Tiere, die in ihm wohnen. Agamemnon hat auf der Jagd eine Hirschkuh getötet, die Artemis heilig war, und mit dieser Tat auch noch geprahlt (16) – er steht für den Menschen, der mordend und zerstörend in die jungfräuliche Natur eindringt, seine Kriegsflotte ist aus gefällten Bäumen gezimmert – ganze Wälder wurden damals gerodet, um Kriegs- und Handelsschiffe herzustellen, diesen Raubbau an der Natur gab es noch nicht im Goldenen Zeitalter, das Ovid in seinen Metamorphosen besingt:

Noch nicht war die Fichte gefällt und noch nicht, um ferne Länder zu besuchen, von ihren Bergen in die klaren Fluten hinabgestiegen; und die Sterblichen kannten keine Küste außer ihrer eigenen. … Auch gab die Erde, frei von Pflichten und Lasten, von keiner Hacke berührt, von keiner Pflugschar verletzt, alles von selbst.                                 (17)

Doch die Goldene Zeit endet und der Mensch wird zum brutalen und habgierigen Eroberer und Ausbeuter anderer Menschen und der Natur:

Segel gab der Seemann den Winden – er war mit ihnen bisher nicht vertraut - , die Bäume, die lange auf hohen Bergen gestanden hatten, tanzten übermütig als Schiffe auf Fluten, die sie noch nicht kannten, und den Erdboden, der zuvor Gemeingut gewesen war wie das Sonnenlicht und die Lüfte, zeichnete der umsichtige Feldmesser mit einer langen Grenzlinie. Und man forderte vom ertragreichen Boden nicht nur Saaten und die Nahrung, die er uns schuldig war, sondern man wühlte sich in die Eingeweide der Erde. Und die Schätze, die sie nah bei den Schatten der Styx verborgen hatte, gräbt man aus – Anreiz zu allem Bösen. Schon war das gefährliche Eisen erschienen und das Gold, das noch gefährlicher ist als Eisen.                                                              (18)

Aus Ovids Versen, in denen die naturreligiöse Frömmigkeit des antiken Menschen atmet, spricht das archaische Schuldgefühl, das durch menschliche Übergriffe auf die Natur erzeugt wird.  Selbst die Bäume in schwer zugänglichen Gebirgen fallen der Axt zum Opfer, damit Schiffe aus ihnen gebaut werden, die unberührte Mutter Erde wird vom „mensor“, vom „Feldmesser“ aufgeteilt -  was auch Old Shatterhands Beruf ist - und so zur Ausbeutung vorbereitet. Zur Ausbeutung durch Bauern, die sie mit dem Pflug aufreißen. Und durch Bergleute, die sich auf der Suche nach Metallen in ihren Schoß wühlen.
Dieses Schuldgefühl versuchte der Mensch auf vielfältige Weise zu beschwichtigen. Zum Beispiel, indem er von einem Wald, den er rodete, einen Teil stehen ließ und als heiligen Hain nicht anzutasten wagte; diesen vorchristlichen Baumkult in Gestalt heiliger Haine setzen heute unsere Naturschutzgebiete fort.

Aber die Schuld wurde als so drückend empfunden, dass sie in ältesten Zeiten nicht ohne Menschenopfer abgetragen werden konnte. So gehörte zum Baumkult unserer Vorfahren, der Germanen, dass in heiligen Hainen Menschen getötet wurden; Tacitus überliefert:

Zu einem festgesetzten Zeitpunkt kommen in einem durch Weihen der Väter und durch uralte fromme Scheu heiligen Hain Abordnungen aller Völker desselben Blutes zusammen, schlachten im Namen der Versammlung einen Menschen und begehen so den schauderhaften Beginn ihres barbarischen Kults. Dem Hain wird auch auf andere Weise fromme Verehrung erwiesen: Man darf ihn nur in Fesseln betreten, zum Zeichen der Unterlegenheit und der Achtung vor der Macht des göttlichen Wesens.               (19)

Auf heidnischen Baumkult geht auch die Sitte des Ausdärmens zurück, die sich weit ins christliche Mittelalter hinein hielt. Ein Baumfrevler wird dem von ihm beschädigten Baum zur Wiedergutmachung als Opfer dargebracht:

es soll niemand bäume in der mark schelen, wer das thäte, dem soll man sein nabel aus seinem bauch schneiden u. ihn mit dem selben an den baum nageln, u. denselben baumscheler um den baum führen, so lang bis ihm sein gedärm alle aus dem bauch um den baum gewunden seien                                                                                    (20)

Durch das Wickeln des Darms um den Stamm wird der Verurteilte an dem Baum befestigt – das ist ein wichtiger Aspekt. Denn der geopferte Mensch ist der Natur, hier repräsentiert durch einen Baum, zurückgegeben worden. Das Fixieren am Baum geschah oft durch Aufhängen; ein Beispiel dafür findet sich in dem Bericht des mittelalterlichen Chronisten Adam von Bremen über Tier-und Menschenopfer der alten Schweden:

Das Opfer nun ist folgender Art. Von jeder Gattung männlicher Geschöpfe werden neun dargebracht, mit deren Blut es Brauch ist, die Götter zu beschwichtigen. Die Körper aber werden in dem Haine aufgehängt, der zunächst am Tempel liegt. Dieser Hain ist nämlich den Heiden so heilig, daß jeder einzelne Baum durch den Tod oder die Verwesung der geopferten geheiligt erachtet wird. Dort hängen auch Hunde und Rosse neben den Menschen, und von solchen vermischt durcheinanderhängenden Körpern habe er, erzählte mir ein Christ, zweiundsiebzig gesehen.                             (21)

Der heilige Charakter der Bäume fließt aus Tod und Verwesung der ihm dargebrachten Opfer (ex morte vel tabo immolatorum) – die geopferten Menschen und Tiere fallen an den heiligen Hain als Dünger (22) zurück.
Baumkult ist auch ein von Jacob Grimm überlieferter Aberglaube altmärkischer Bauern:

wenn dem bauer ein füllen oder kalb zu wiederholtenmalen fällt, so vergräbt ers im garten und pflanzt eine fach- oder satzweide dem leichnam ins maul. Der daraus wachsende baum wird nie geköpft noch der zweige beraubt, sondern wächst wie er will, und soll das bauerngut in zukunft vor ähnlichen fällen bewahren                            (23)

Mutter Natur, der ein Vorfahr dieses Bauern zerstörend zu Leibe rückte, indem er Wald rodete, um ihr das Weideland abzuringen, ist erzürnt und will sich zur Wiedergutmachung ein Stück Vieh holen, indem sie es an der Fallsucht erkranken lässt. Der Bauer bringt ihr das verlangte Opfer dar, indem er das Tier tötet und vergräbt und eine Weide, der dieses Tier als Dünger dient, wachsen lässt und ihr keinen Zweig krümmt, sie also wie einen heiligen Baum behandelt.
Auch Menschen wurden als Dünger für Bäume getötet und vergraben, und das nicht nur in archaischen Zeiten, sondern im 20. Jahrhundert, und nicht durch Priester oder abergläubische Bauern, sondern durch Kommunisten – ein Zeuge des Terrors der Roten Khmer berichtet:

"Sehen Sie nicht, daß diese Kokospalmen größer sind, als es eigentlich ihrem Alter entspricht?" fragt mich mit einem verängstigten Blick in den Augen der Dolmetscher Rim Rom: "Sie haben einen besonderen Dünger erhalten."Unter Pol Pot war es verboten, Leichen einzuäschern. "Holz ist dazu da, um Feuer zum Kochen zu machen, und sollte nicht verschwendet werden", pflegten die Roten Khmer zu sagen. So begruben sie ihre Opfer zusammen mit Samen der Kokospalmen.

"Ich betrachte die Kokospalmen und habe noch im Ohr, wie die Tschhlop (die jungen Garden der Roten Khmer) mir zuflüsterten: ''Gute Kokosnuß, gute Kokosnuß, töten, um einen guten Kokosnußbaum zu bekommen ...''", sagt Rim Rom, der zwei Jahre auf einer Kommune in Svay Rieng arbeitete.

Ständig wurde er daran erinnert, daß er immer noch einen guten Dünger abgeben würde, wenn er als Arbeitskraft nicht mehr tauge. Jetzt glaubt er wie viele andere Kambodschaner, unter jeder "Pol-Pot-Kokospalme" liege eine Leiche.
DER SPIEGEL 16 / 1980

Die Roten Khmer sind zum Ursprünglichen, zum Barbarischen zurückgekehrt: zum Baumkult durch Menschenopfer. Als sie 1975 Phnom Penh eroberten, verschickten sie sämtliche Einwohner aufs Land, die Kapitale wurde zur Geisterstadt. Sie taten das aus Hass gegen urbane Zivilisation und Verwestlichung. Den Stadtbewohnern warfen sie vor, korrumpiert und dekadent zu sein. Und rächten diese Emanzipation von dem bäuerlich-natürlichen Dasein des alten Kambodscha durch ihren grausamen Genozid, der sich im Grunde aus sakralen Handlungen konstituierte: Menschenopfer zur Versöhnung der beleidigten Natur.

Der barbarische und grausame Brauch der Menschenopfer wurde schon früh abgemildert, zum Beispiel, indem Menschenopfer durch Tieropfer ersetzt wurden, was der Sinn der biblischen Abraham-Isaak-Geschichte ist, in der statt des Kindes ein Widder geopfert wird.
Abgemildert wurde der Brauch auch im alten Sparta. Der Altar der Artemis musste mit Blut bespritzt werden, das von Menschen stammte, die ursprünglich für die Göttin der vom Menschen geschändeten Wildnis geschlachtet wurden. Das Ritual der Besprengung wurde beibehalten, doch zur Erlangung des Blutes wurde nicht mehr getötet, sondern nur noch gegeißelt. Blut und Schmerz, aber nicht mehr das Leben mussten der Göttin dargebracht werden; Pausanias überliefert:

Und darauf erging ein Spruch an sie, den Altar mit Menschenblut zu bespritzen. Als geopfert wurde, wen das Los traf, ersetzte Lykurgos das durch die Geißelung der Epheben, und so wird der Altar ebenfalls mit Menschenblut bespritzt. Die Priesterin steht mit dem Holzbild daneben. Das ist sonst leicht durch seine Kleinheit, wenn aber jemand aus Rücksicht auf Schönheit oder Rang eines Epheben vorsichtig schlägt, dann wird das Bild für die Frau zu schwer und nicht mehr leicht tragbar. Sie beschuldigt die Geißelnden und sagt, sie werde ihretwegen bedrückt. So ist es dem Kultbild von Tauris her geblieben, sich immer noch an Menschenblut zu freuen.                                                                (24)

Die Statue der Artemis ist – wie Pausanias überliefert – aus Holz, denn sie ist die Göttin des Waldes. Der spartanische Brauch der Ephebengeißelung wurzelt also im Baumkult. Und ebenfalls wichtig ist Pausanias‘ Hinweis, dass die hölzerne Artemis mit Menschenblut bespritzt wird. Denn das Besprengen oder Bestreichen mit Blut spielt eine wesentliche Rolle im archaischen Opferkult, man versprach sich davon eine Segenswirkung, was zahlreiche Stellen im Alten Testament bezeugen, zum Beispiel 2. Moses 29,19ff.:

Den andern Widder aber sollst du nehmen, und Aaron und seine Söhne sollen ihre Hände auf seinen Kopf legen, und du sollst ihn schlachten und von seinem Blut nehmen und es Aaron und seinen Söhnen an das rechte Ohrläppchen streichen und an den Daumen ihrer rechten Hand und an die große Zehe ihres rechten Fußes; und du sollst das Blut ringsum an den Altar sprengen. Und du sollst von dem Blut auf dem Altar nehmen und Salböl und sollst Aaron und seine Kleider, seine Söhne und ihre Kleider damit besprengen. So werden er und seine Kleider, seine Söhne und ihre Kleider geweiht.

Besprengung mit Opferblut ist auch für das alte Norwegen bezeugt. Der Brauch gehörte zur germanischen Religion, die sich dort der Christianisierung zum Trotz zäh hielt. In der Heimskringla, der Snorri Sturluson zugeschriebenen Geschichte der norwegischen Könige, liest man über das heidnische Opferwesen unter König Hakon dem Guten (935-959):

Man schlachtete dort auch Vieh aller Art und besonders Pferde. Alles Blut aber von diesen nannte man Opferblut, und die Schalen, in denen das Blut stand, hießen Opferschalen, die Opferwedel aber waren nach Art von Sprengwedeln gemacht. Mit diesen sollten die Götteraltäre allesamt bespritzt werden, ferner die Wände des Tempels innen und außen. Auch auf die Menschen sollte man das Opferblut mit ihnen sprengen.            (25)

Die segnende Wirkung, die in archaischen Zeiten von der Besprengung mit Blut geopferter Menschen oder Tiere ausging, spiegelt auch die Etymologie des englischen Wortes für segnen to bless. Es kommt  von altenglisch blaedsian „mit Opferblut besprengen“, das mit blood verwandt ist; seine ursprüngliche Bedeutung war laut Oxford English Dictionary „to mark (or affect in some way) with blood (or sacrifice); to consecrate“.
Auch für den Opfertod Christi am Kreuz, der als das letzte große Menschenopfer alle weiteren Menschenopfer überflüssig macht, galt im frühen Christentum, dass das Blut des Geopferten segensreich wirkt, wenn man damit besprengt wird. So steht im Brief an die Hebräer 9,13ff.:

Denn wenn der Böcke und der Ochsen Blut und die Asche von der Kuh, gesprengt auf die Unreinen, sie heiligt zu der leiblichen Reinigkeit, wieviel mehr wird das Blut Christi, der sich selbst als Opfer ohne Fehl dargebracht hat, unser Gewissen reinigen von den toten Werken, zu dienen dem lebendigen Gott!

Und die „Besprengung mit dem Blut Jesu Christi“ nennt der Erste Petrus-Brief in seiner Einleitung als Vorzug, der den Angehörigen der christlichen Religion zuteil wird:

Petrus, ein Apostel Jesu Christi,
den Fremdlingen in der Zerstreuung … , die erwählt sind nach der Vorsehung Gottes, des Vaters, in der Heiligung durch den Geist, zum Gehorsam und zur Besprengung mit dem Blut Jesu Christi:
Gott gebe euch viel Gnade und Frieden!

Doch das sind Überreste, die auf die archaischen Wurzeln von Christi Opfertod verweisen, im Christentum gilt solcher Blut- und Menschenopferkult als überwunden und ist als barbarisch und heidnisch verpönt.
Doch Verpöntes – das wissen wir von Freud – ist oft nicht wirklich tot, sondern nur verbannt ins Unterbewusstsein, wo es gleich einem Geist in Kellergewölben eines unheimlichen Schlosses herumspukt, in verschiedener Gestalt empordrängt und weiterwirken will. Das gilt auch für den heidnischen Blut- und Menschenopferkult, der in antisemischen Ritualmordlegenden im christlichen Mittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein weiterlebte. Juden wurde von Christen vorgeworfen, christliche Kinder zu schlachten und ihnen ihr Blut abzuzapfen und zu kultischen Zwecken zu verwenden. Unser Beispiel ist die von den Brüdern Grimm überlieferte Sage Der Judenstein:

Im Jahre 1462 ist es zu Tirol im Dorfe Rinn geschehen, daß etliche Juden einen armen Bauer durch eine große Menge Geld dahin brachten, ihnen sein kleines Kind hinzugeben. Sie nahmen es mit hinaus in den Wald und marterten es dort auf einem großen Stein, seitdem der Judenstein genannt, auf die entsetzlichste Weise zu Tod. Den zerstochenen Leichnam hingen sie darnach an einen unfern einer Brücke stehenden Birkenbaum. Die Mutter des Kindes arbeitete gerade im Feld, als der Mord geschah; auf einmal kamen ihr Gedanken an ihr Kind, und ihr wurde, ohne daß sie wußte warum, so angst; indem fielen auch drei frische Blutstropfen nacheinander auf ihre Hand. Voll Herzensbangigkeit eilte sie heim und begehrte nach ihrem Kind. Der Mann zog sie in die Kammer, gestand, was er getan, und wollte ihr nun das schöne Geld zeigen, das sie aus aller Armut befreie, aber es war all in Laub verwandelt. Da ward der Vater wahnsinnig und grämte sich tot, aber die Mutter ging aus und suchte ihr Kindlein, und als sie es an dem Baum hängend gefunden, nahm sie es unter heißen Tränen herab und trug es in die Kirche nach Rinn. Noch jetzt liegt es dort und wird vom Volk als ein heiliges Kind betrachtet. Auch der Judenstein ist dorthin gebracht. Der Sage nach hieb ein Hirt den Baum ab, an dem das Kindlein gehangen, aber als er ihn nach Haus tragen wollte, brach er ein Bein und mußte daran sterben.

Was hier auf die Juden projiziert wird, ist altgermanischer Baumkult durch Menschenopfer. Sie haben das geopferte Kind an einem Baum befestigt, also dem Wald übergeben. Aufschlussreich ist auch der letzte Satz der Legende: Ein christlicher Mitmensch des heidnisch geopferten Kindes richtet seine Aggression gegen den Baum, an den es als Opfer  gehängt worden ist, und wiederholt aus Rache, als Gegenschlag gegen den Wald, die Ursünde des Fällens, wofür er bestraft wird – naturreligiöses Empfinden ließ sich von den christlichen Missionaren, die Verachtung der Natur predigten und heilige Eichen fällten, nicht ganz ausrotten, sondern ist in einer Tiefenschicht der deutschen Seele lebendig geblieben und inspirierte die mittelalterlichen Menschen zu solchen Sagen.
Die Ritualmordlegende um Anderl von Rinn hat den österreichischen Lyriker Johann Gabriel Seidl (1804-1875) zu einer Ballade angeregt, aus der zwei Strophen zitiert seien:

Tragen’s in den Waldesraum
Zu dem hohen Birkenbaum,
Wo sie’s, wie es bitt‘ und weine,
Schlachten auf bemoostem Steine.

Und sie waschen wohlgemuth
Sich die Händ‘ in seinem Blut,
Dass, gebeizt von solcher Laugen,
Besser sie zum Wucher taugen!                                       (26)

Die Vorstellung, dass die Juden körperliche Berührung mit dem Blut ihres Opfers anstreben (weil sie sich davon eine segensreiche Wirkung versprechen), prägt auch die Legende von einem anderen angeblichen jüdischen Ritualmord – an Simon von Trient:

Gaudent immanissimae ferae rivulos invisi sanguinis toto corpore scaturientes aspicere et commaculari miserabili aspersione gestiunt

Es freuen sich die unmenschlichen Bestien, die vom ganzen Körper träufelnden Bächlein des verhassten Blutes zu schauen und wünschen von demselben besprengt zu warden – erbärmliche Besprengung!                                                                (27)

Solche Vorstellungen vom Besprengen durch Opferblut beweisen, dass Ritualmordfantasien im Grunde Menschenopferfantasien sind, die - so unsere Hypothese – von den Menschen des Mittelalters und der Neuzeit auf die Juden projiziert wurden, weil die christliche Religion und die Normen der Zivilisation grausame Rituale aus heidnischer Vorzeit ächten. Trifft diese Deutung zu, erklärt sie vielleicht auch, warum in der Andreas-von-Rinn-Legende der Mutter Blut auf die Hand tropft (28): Es ist ihr verdrängter  und aus dem Unterbewusstsein heraus wirkender Wunsch, ihr Kind zu opfern (wie Abraham den Isaak) und durch die Besprengung mit seinem Blut in den Genuss einer Segenswirkung zu gelangen – diese Mutter repräsentiert die Christen, die von Christi Opfertod am Kreuz profitieren, weil ihnen dadurch die Möglichkeit zur Erlösung eröffnet wird, wobei sie die Schuld den Juden zuschoben und sie als Volk der Gottesmörder mit Pogromen heimsuchten. Bringen dann Christen in einem der zahllosen Pogrome, das oft durch einen Ritualmordvorwurf ausgelöst wurde, Juden um, so agieren sie ihre in einer archaischen Tiefenschicht der Seele schlummernden Wünsche aus: Sie schlachten Menschen ab. Die Juden, die sie morden, sind Menschenopfer – das beweist eine Freudsche Fehlleistung, die einem englischen Chronisten unterlief, als er ein Judenpogrom anlässlich der Krönung von Richard Löwenherz am 3. September 1189 beschrieb. Sehen wir uns die Stelle an, die auch historisch interessant ist, weil in ihr zum ersten Mal der Begriff „Holocaust / holocaustum“ für einen Massenmord an Juden verwendet wird:

Non sine musitatione et admiratione visus est vespertilio die medio et sereno per monasterium volitare, easdem importune auras et maxime circa solium regis circinans.
Eodem coronationis die circa illam solempnitais horam qua Filius immolabatur Patri, inceptum est in civitate Londonie immolare Iudeos patri suo diabolo. Tantaque fuit huius celebris mora misterii ut vix altera die compleri potuerit holocaustum.

Viele Menschen murmelten und staunten, als an dem heiteren Tag zur Mittagszeit eine Fledermaus erschien, durch das Kloster flatterte und zu dieser unpassenden Zeit besonders lange um den Königsthron kreiste.
An diesem Krönungstag, etwa zu der festlichen Stunde, da der Sohn dem Vater geopfert wurde, begann man in der Stadt London, die Juden ihrem Vater, dem Teufel, zu opfern. So lange dauerte dieses festliche Mysterium, dass man das Brandopfer (holocaustum) gerade noch am nächsten Tag vollenden konnte.

Richard of Devizes, der Verfasser der Chronik, ein Mönch, spricht von zwei Menschenopfer-Darbietungen. Von der Opferung Christi in biblischer Zeit und vom holocaustum  der Juden in seiner Gegenwart. Diese beiden Menschenopfer-Akte thematisiert er nicht nur, sondern nennt sie in einem Atemzug, da sie für ihn eng zusammengehören. Denn solche Pogrome galten den mittelalterlichen Christen als Strafe für Marter und Tod Christi am Kreuz, wofür sie die Juden verantwortlich machten. Sie beriefen sich dabei auf den Satz in Matthäus 27,25: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Diesen sogenannten Blutruf deuteten sie als Selbstverfluchung des jüdischen Volkes, das Christi Hinrichtung gefordert und die Schuld dafür übernommen und an seine Nachkommen weitergegeben hat; die Juden galten deshalb als Volk der Christusmörder und Pogromopfer, wie die von 1189, von denen Richard of Devizes berichtet, als Nachkommen derjenigen Juden, die Christus ans Kreuz brachten – das alles war für die mittelalterlichen Christen so selbstverständlich, dass der Mönch es in seiner Chronik nicht erwähnen musste.
Aber nun zu dem, was die zitierte Stelle brisant macht. Richard of Devizes spricht nicht, wie in solchen Berichten üblich, davon, dass die Juden als Strafe für den Christusmord oder für einen angeblichen Ritualmord an einem Christenkind getötet wurden – nein, ihre Tötung bezeichnet er ausdrücklich als Menschenopfer, ihm ist also in seiner Rage herausgerutscht, was er eigentlich verdrängen musste als guter Christ: der Wunsch, Menschenopfer darzubringen. Im Unterbewusstsein der Christen waren die von ihnen ermordeten Juden Menschenopfer. Jedes Pogrom war ein Rückfall in diesen als barbarisch und heidnisch verpönten vorchristlichen Brauch. Da der christliche Gott das summum bonum, nur gut ist und kein heidnischer Götze, der blutige Opfer verlangt, werden die Juden in Richard of Devizes‘ Vorstellung nicht ihm dargebracht, sondern dem Teufel, dessen Kinder sie im Weltbild der mittelalterlichen Christen waren. Der Teufel aber wird von der Psychoanalyse als Schatten des christlichen Gottes gesehen, von dem alles abgespalten ist, was animalisch, niedrig, barbarisch ist. Das lässt sich veranschaulichen, wenn man den christlichen Gott mit einem seiner Vorgänger, dem altgriechischen Himmelsgott Zeus vergleicht. Im Gegensatz zum christlichen Gott hatte Zeus seine animalische Sexualität behalten, sie zeigt sich zum Beispiel, als er sich von ihr getrieben in ein Tier, einen Adler, also den Herrscher der Lüfte, verwandelt und den schönen Jüngling Ganymed entführt. Die Flügel, die er als Adler hatte, sind als animalisches Merkmal mit dem christlichen Gottesbild unvereinbar, so dass sie abgespalten und dem Teufel zugeordnet wurden. Abgespalten und auf den Teufel projiziert wurde durch Richard of Devizes auch der verpönte Wunsch nach Menschenopfern. Mit der Projektion der Adlerflügel des Zeus auf den Teufel ist der Prozess der Verteufelung des Animalisch-Sexuellen noch nicht abgeschlossen. Die Flügel des strahlenden majestätischen Königs der Lüfte wurden zu Flügeln der Fledermaus, des unheimlichen Tiers der Nacht und des Todes, und solch eine Fledermaus taucht ja auch zu Beginn der zitierten Stelle auf. Sie umkreist den Thron und das auch noch am helllichten Tage, eine Teufelserscheinung, ein böses Omen, und aufschlussreich ist bei der Schilderung der Fledermaus-Epiphanie ein Detail: Um mitzuteilen, dass die Fledermaus um den Thron „in der Luft kreist“, benutzt der mittelalterliche Chronist die Formulierung  „ easdem … auras … circinans“, eine überaus gewählte Ausdrucksweise, die der offenbar auch in klassischer Literatur belesene Mönch aus Ovids Metamorphosen hat. Wir vermuten, dass dem Autor in seinem judenhassenden Furor diese Formulierung in die Feder floss, weil er, auf das Thema Menschenopfer zusteuernd, im Unterbewusstsein mit seinen Gedanken bei der Ovidstelle war, in der die Formulierung „easdem circinat auras“  (29) vorkommt, nämlich Vers 721 im zweiten Buch der Metamorphosen. Sehen wir uns also die Stelle an: Ovid schildert, wie ein antiker geflügelter Himmelsgott, Hermes, im Fluge um  eine schöne junge Priesterin kreist, weil er sie begehrt (wie Zeus den Ganymed). Den verliebten fliegenden Himmelsgott vergleicht Ovid mit einem Raubvogel, einem Weih, der um leckere Fleischstücke kreist, die von einem Opfertier stammen und auf die er Appetit hat. In seinem Unterbewusstsein hielt Richard of Devizes die um den Thron kreisende Fledermaus gleichfalls für die Erscheinung eines Gottes, der Opfer begehrt, die ihm dann auch dargebracht wurden: die Juden als holocaustum.
Aber warum der unbewusste Wunsch, Menschen zu opfern? Warum genügen nicht Tieropfer? Ein Mensch ist mehr wert als ein Tier, ein Menschenopfer bringt mehr, ist ein größeres Opfer denn ein Tier, beschwichtigt den Zorn Gottes effektiver als das ein Widder oder ein Schwein vermag. Menschenopfer können selbst starke Angst vor göttlicher Strafe lindern. Und besonders intensive Angst, die aus Schuldgefühlen fließt,  hat man ja, wenn man etwas Gefährliches und Böses vorhat. Zum Beispiel, wenn man ein Meer überqueren und durch fremde Gegenden ziehen will, um ferne Länder zu erobern. Klippen, Stürme, Gewitter, feindliche Krieger können einen heimsuchen. Solch ein gefährliches Abenteuer hatte Agamemnon vor, als er von Aulis aus in See stechen wollte, um Troja zu erobern und seine Tochter Iphigenie opferte. Solch etwas Gefährliches und Böses hatte auch die englische Nation vor, als Richard Löwenherz zum König gekrönt wurde. Ihn zog es in die Fremde, um im Heiligen Land Eroberungen zu machen, während seiner Krönung war der gefährliche Kreuzzug schon in Planung und Vorbereitung, neben Abenteuerlust dürfte auch Angst davor geherrscht haben, die von der Fledermaus-Erscheinung wie durch ein böses Omen sicher noch verstärkt wurde, und man brachte die Juden als Menschenopfer dar. So lassen sich auch die Pogrome im Rheinland deuten, zu denen wir oben jüdische Quellen zitiert haben - der Lynchmob hat sich zu einem Kreuzzug ins Heilige Land aufgemacht und lindert durch Menschenopfer seine Angst vor dem gefährlichen Unternehmen.
Die Kreuzzüge fallen ins Hochmittelalter und sind nicht die einzigen aggressiven Unternehmungen in dieser Zeit. Eroberungskriege führte man damals auch gegen die Natur: Das Hochmittelalter unterscheidet sich vom Frühmittelalter durch technische Neuerungen, die intensivere Ausbeutung der Umwelt ermöglichten, und durch Bevölkerungsanstieg, der zu vermehrter Urbarmachung von Wäldern führte, um der Natur Lebensraum abzuringen. Kein Zufall dürfte es sein, dass es im Frühmittelalter noch keinen Antisemitismus und keine Ritualmordvorwürfe gab (30). Seit Beginn des Hochmittelalters aber waren die Juden Sündenböcke, denen zugeschrieben wurde, was die Christen selbst gerne täten: das archaische Gewissen, das über den Raubkrieg gegen die Natur und andere Völker aufgebracht ist, mit Menschenopfern beschwichtigen. Man verfolgte die Juden als angebliche Ritualmörder, die Christenkinder schlachten und ihr Blut zu magischen Zwecken verwenden.  Und man verfolgte sie als Volk der Christusmörder, gab ihnen also die Schuld an jenem zentralen Menschenopfer der christlichen Religion, das die Christen nicht wirklich, sondern nur symbolisch, im Abendmahl, wiederholen dürfen. Die Juden, die man zur Strafe dafür schlachtete oder verbrannte, wirkten im Unterbewusstsein als Menschenopfer und linderten das Schuldgefühl.

Nachtrag März 2014:

Jakob Augstein ist wieder einmal von moralischem Furor ergriffen und heißt es gut, dass es Steuersündern wie Alice Schwarzer oder Uli Hoeneß "ans Leder geht", dass sie "moralische Vivisektionen" erleiden und auf dem "Scheiterhaufen einer erhitzten Moral" gelandet sind. Das ist doch nur bildlich gemeint - natürlich! Aber etwas komisch ist diese Ausdrucksweise schon, so dass der Psychoanalytiker verdrängtes Archaisches vermutet. "Vivisektion" bedeutet: Schwarzer und Hoeneß sollen geschlachtet werden. Und dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden, wie das Isaak und Old Shatterhand drohte. Wie gut, dass es ihnen "ans Leder" geht - Leder ist aber die Haut eines Tieres - in Augsteins Unterbewusstsein schlummert ein germanischer Opferpriester, der Menschen im heiligen Hain wie Opfertiere schlachtet und dann als holocausta verbrennt. Solche Fantasien fließen aus Augsteins Schuldgefühl, das diesen linken Old Shatterhand quält, weil er ein üppiges Millionenvermögen geerbt hat und in unserer technisch hochgerüsteten Zivilisation lebt, gedeiht und groß rauskommt.
Schwarzgeldbesitzer, Reiche überhaupt sollen die neuen Sündenböcke werden, die man auch braucht, wenn unseren Wohlstand bald die demographische Katastrophe bedroht. Menschen wie Augstein halten zugleich an dem hergebrachten Südenbock, den Juden, fest. Israel, der Jude unter den Staaten, ist in seiner antisemitischen Wahnwelt auch Schuld am Unglück der Schlecker-Frauen, die auf der Straße stehen:

"Pech für die Schlecker-Frauen: Mit Putzmitteln und Körperpflegeprodukten lässt sich kein Krieg führen. Würde der Staat Israel für die Durchsetzung seiner machtpolitischen Interessen auf Zahnpastatuben setzen und nicht auf Atomraketen, die berufliche Zukunft von rund 13.000 Drogistinnen wäre sicher."

Nicht Waffen, sondern Hygieneartikel wie Desinfektionsmittel, Seife und Zahnpasta haben die Juden nötig, die offenbar schmuddelig sind und Krankheiten verbreiten - der foetor judaicus, der Gestank der Juden, ein Klassiker der Vorurteile, lebt im SPIEGEL weiter.


1) Vgl. Zev Garber / Bruce Zuckerman: Why Do We Call the Holocaust „The Holocaust?“ An Inquiry into the Psychology of Labels, in: Modern Judaism 9 (2) 1989, S. 200:
“For –whether intended or not – when one adopts the ‘holocaust’ label, one also implies a particular religious correspondence between the Jews and the Nazis: If the former are the holocaust sacrifice, then it implicitly follows that the latter are the sacrificers, the officiants who offer up the sacrifice. In effect, one casts the Nazis into a quasi-“priestly” role.

In consideration of these  implications that can so easily tied to the term ‘holocaust’, one would think that this would be the last term that Jews would accept as the proper characterization of their genocide. Yet this is clearly not so.”

2) Elie Wiesel: Jewish Atheist: A Quarrel with God, in: Baltimore Jewish Times vom 9. April 1965, zitiert aus: Elie Wiesel: Against Silence. The Voice and Vision of Elie Wiesel. Selected and Edited by Irving Abrahamson. Band I, S. 243

3) Elie Wiesel: The First Survivor, Statement, Niles Township Jewish Congregation, Skokie, Illionois, 7. Dezember 1980, zitiert aus: Elie Wiesel: Against Silence. The Voice and Vision of Elie Wiesel. Selected and Edited by Irving Abrahamson. Band I, S. 385

4) Bericht des Salomo bar Simeon, in: Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während der Kreuzzüge. Im Auftrage der historischen Commision für Geschichte der Juden in Deutschland. Herausgegeben von A. Neubauer und M. Stern. Ins Deutsche übersetzt von S. Baer. Berlin: Verlag von Leonhard Simion. 1802. S. 96f.

5) Bericht des Mainzer Anonymus (Darmstädter Handschrift), in: Hebräische Berichte… S. 171-175

6) Bericht des Ephraim bar Jacob, in: Hebräische Berichte… S. 199

7) Quellen bei Helmut de Boor: Das Attilabild in Geschichte, Legende und heroischer Dichtung. Darmstadt 1963, S. 8

8) Ausführlicher hier - vgl. auch Jenet Adelman: Blood Relations. Christian and Jew in The Merchant of Venice, S. 110 und Fußnote 39

Auf die Akedah in Genesis 22 spielen auch Shylocks Worte in I,3 an:

"...Antonio shall be bound."

"Three thousand ducats for three month, and Antonio bound."

"Bound" bedeutet hier "vertraglich gebunden", "durch Vertrag (dem Gläubiger Shylock) verpflichtet" und spielt zugleich auf Isaaks Fesselung an: "... Abraham ... bound Isaac his son, and laid him on the altar ..."
Sagt Shylock also im ersten Akt "Antonio bound", malt er ihn sich zur Schlachtung vorbereitet aus. Und es gibt weitere Parallelen:
Dem Messer, das Abraham schon schwingt, um seinen Sohn zu töten, würde Shylocks Messer entsprechen, das er in der Gerichtsszene mitgebracht hat, (gleichsam) eifrig wetzt (IV,1,121), und dem Antonio seine Brust bereiten muss (IV,1,241). Auch der Engel, der eingreift und im letzten Moment Abraham am Schlachten des Opfers hindert, hat seine Entsprechung in der Gerichtsszene: Als rettender Engel, als deus ex machina erscheint Portia und vereitelt den Mord.

9) Auch der Koran erzählt in Sure 37, 100-107  die Geschichte von Abraham, der sich anschickt, seinen Sohn zu opfern, weil Allah es verlangt. Doch das Menschenopfer, zu dem Abraham seine  gehorsame Bereitschaft demonstriert hat, wird im letzten Moment durch ein Tieropfer ersetzt.

10) Vgl. Wolfgang Kraushaar: "Wann endlich beginnt bei euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?", S.312

11) Vgl. Wolfgang Kraushaar: Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, besonders S. 36f.

12) Wolfgang Kraushaar: Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, S. 257

13) Der römische Geschichtsschreiber schwärmt in Agricola für die von römischer Zivilisation unverdorbenen Kelten in Britannien, wozu Schuldgefühle und Verachtung für die eigene dekadent gewordene Kultur gehören.

14) Dazu erklärt Klaus Hülbrock, der Autor des Mescalero-Nachrufs, 2001 in der taz auf die Frage, warum er sich mit dem Apachenstamm der Mescaleros identifizierte:

„Weil er der schäbigste war. Ich habe als Junge Wildwest-Heftchen verschlungen, zu 70 Pfennig das Stück. Und diese Mescaleros waren von allen die Grausamsten, die Schrecklichsten, die am wenigsten Domestizierten. Da war es einfach naheliegend, diesen Namen zu nehmen. … Der Terror, der Schrecken, der von diesem Stamm ausging, wirkte am nachhaltigsten in der amerikanischen Geschichte der Indianerkriege. Von allen Apachen sind die Mescaleros die blutrünstigsten. Und heute haben die aus ihren Reservaten Spiel- und Skiparadiese gemacht. Die haben sogar ihrer Regierung angeboten, gegen Bares Atommüll zu lagern. Eine völlig unberechenbare politische und gesellschaftliche Größe sind diese Mescaleros. Das finde ich Klasse. Die Mescalero-Geschichte ist auch für die Linken ein Mythos, und daran sollte man weiterstricken.“

Laut wikipedia galten die Mescaleros unter Weißen schon zu Karl Mays Zeiten als besonders blutrünstig, so dass dieser Autor, „der entgegen dem Zeitgeist für die Sache der Indianer eintrat, bewusst einen Angehörigen des so negativ beschriebenen Stammes für seinen ‚Edlen Wilden‘“ Winnetou wählte. Wenn das zutrifft, steht der Nachruf auf Buback in der Tradition Karl Mays.

15) Die beiden wichtigsten Quellen sind Euripides‘ Drama Iphigenie in Aulis und Aischylos‘ Drama Agamemnon

16) Sophokles: Elektra 563ff., Hyginus: Fabulae 98, Bibliothek des Apollodor: Epitome III, 1,22

17) Ovid: Metamorphosen I,94ff. – Übersetzung: Michael von Albrecht (Reclam)

18) Ovid: Metamorphosen, I,132ff. – Übersetzung: Michael von Albrecht (Reclam)

19) Tacitus: Germania 39 – Übersetzung: Alfons Städele

20) Jacob Grimm: Deutsche Rechtsalterthümer Bd II, S. 39f.

21) Adam von Bremen: Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, Liber IV: Descriptio insularum aquilonis, Capitulum 27 / Taten der Hamburger Kirchenfürsten, Buch IV: Beschreibung der Inseln des Nordens, Kap. 27

22) „tabo“ lässt sich auch als „Leichenjauche“ übersetzen – vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Artikel Menschenopfer, Spalte 164

23) Jacob Grimm: Deutsche Mythologie – Anhang Nr 838

24) Pausanias: Beschreibung Griechenlands III, 16,9 – Übersetzung: Ernst Ziegler

25) Saga von Hakon dem Guten 14 – Übersetzung: Felix Niedner

26) Johann Gabriel Seidl: Wanderungen durch Tyrol und Steyermark – Erster Band, S. 74

27) Offizium des heiligen Simon von Trient; zitiert aus Josef Deckert, Vier Tiroler Kinder, Opfer des chassidischen Fanatismus, Wien 1893, S. 2f. – die deutsche Übersetzung stammt von Deckert.

28) Dies ist ein fester Bestandteil der Legende, den auch Josef Deckert (a.a.O., S. 101) ausmalt:
„Plötzlich, mitten in der Arbeit, fühlte sie auf ihrer rechten Hand einen warmen  Blutstropfen. 'Was ist das?‘ rief sie voll Bestürzung aus … Schnitter und Schnitterinnen liefen zusammen und sahen den Blutstropfen. Es war keine Einbildung. Man wischte ihn weg, man sah keine Verletzung an der Hand der armen Frau … „

29) Wörtlich übersetzt: „dieselben Lüfte durchkreist“, also „mehrfach an der gleichen Stelle ihre Kreise zieht“ - an dieser Stelle der Metamorphosen, die Richard of Devizes im Unterbewusstsein vorschwebte, wird auch "Lucifer" genannt, der in der Antike, also bei Ovid, den "Morgenstern" bezeichnet, aber in der mittelalterlichen Zeit des Chronisten ein Synonym für den Teufel ist.

30) Vgl. Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Band I

   
 
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