Auf den Begriff reverse colonization bin ich gestoßen, als ich mich mit den Hintergründen von Bram Stokers Roman Dracula beschäftigte; dieser Vampir-Klassiker ist literarische Vorlage für zahlreiche Dracula-Filme. Dracula, Einwanderer mit transsilvanischem Migrationshintergrund, landet mit seinem Geisterschiff in England, fasst dort Fuß und beginnt, Engländern das Blut auszusaugen – das charakterisiert Stephen Arata als reverse colonization. Der stolzen Kolonialmacht Großbritannien widerfährt, was sie selbst so vielen Völkern angetan hat, an deren Küsten sie mit ihren Kriegs- und Handelsschiffen landete, sie kolonisierte und die Menschen nicht nur ökonomisch, sondern auch sexuell ausbeutete – für beides steht das Blutsaugen: Der Vampir ist der Ausbeuter, durch das Blut, das er saugt, wird er stärker, sein Opfer schwächer. Das Hineinbohren der Zähne in den Körper des Opfers symbolisiert natürlich brutale sexuelle Penetration. Dass Dracula England heimsucht, lässt sich als ausgleichende Gerechtigkeit deuten, als Rache der Kolonisierten, die den Spieß umdrehen und Frauen und Kinder der Kolonialmacht ausbeuten – ja, auch Kinder. Lucy Westenraa, die Dracula zum Vampir gemacht hat, die also zu seiner Parallelgesellschaft gehört, verlässt ihre Gruft, lockt englische Kinder von ihren Elternhäusern weg zu sich, gewinnt durch aufmerksame Zuwendung ihr Vertrauen, bohrt ihre Zähne in ihr Fleisch und saugt Blut. Aus dem Roman sprechen Schuldgefühle, uneingestandene Schuldgefühle freilich und Strafbedürnisse, die verdrängt sind und sich ins Bewusstsein als unverstandener Alptraum drängen. Nun zu Rotherham: Warum haben englische Sozialarbeiter, Polizisten und andere Vertreter der Machtstruktur 16 Jahre lang Männer aus ehemaligen Kolonien bei der sexuellen Ausbeutung blutjunger weißer Landeskinder gewähren lassen? Als unbewusstes Motiv lassen sich auch hier Schuldgefühle und Strafbedürfnisse vermuten: Die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern in den Kolonien durch die Kolonialherren sollte abgebüßt werden, die englischen Polizisten, Sozialarbeiter und andere zumeist linke, aber mächtige Männer erleichterten so ihr Gewissen – aber auf fremde Kosten, wieder auf ausbeuterische Weise, denn nicht ihre eigenen Töchter, sondern Mädchen ihrer Unterschicht überließen sie dem rächenden Moloch als Sühneopfer.