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So, der Kaffee ist durchgelaufen. Sie schenkt Rolf ein, er nimmt sich zwei Stück Zucker. Auf dem Tisch liegen Aktenkopien und Disketten. Wovon sie immer überzeugt war, ist jetzt bestätigt: An John, den sie liebt, ist nichts faul. Triumphierend sieht sie zu, wie seine Hand umrührt, die nicht nur so zärtlich sein kann, sondern auch fremde Türen und Schubladen für sie aufbricht und Knast riskiert, und jetzt ist er wohlbehalten wieder hier und nicht in einem amerikanischen Gefängnis. Aktion erfolgreich durchgeführt! Darauf gleich ein Glas Wein mit ihm - obwohl: zum Anstoßen gibt es eigentlich keinen Grund. Dass mit John alles in Ordnung ist, hat sie nie bezweifelt. Aber gut, dass es erledigt ist, die Überprüfung. Die war sie schuldig. Nicht ihrem eigenen Herzen, aber ihren Angestellten. Und ihren Ahnen, den Gründern und Mehrern. Sie alle haben ein Recht, dass der Konzern, mit dem sie ihre Firma fusioniert, zuvor auf Herz und Nieren geprüft worden ist. Und dazu gab es keinen Besseren als Rolf. Wäre etwas faul, hätte er es herausgefunden, denn ein stärkeres Motiv als Liebe und Treue gibt es wohl nicht. Er ist mit der Firma beruflich groß geworden. Ach Rolf, du bist eine ehrliche Haut! Und wenn du dich verstellst, in fremden Geheimnissen herumstöberst und dabei mit einem Bein im Gefängnis stehst, so nur aus Liebe und Treue. Wenn sie ihn nicht hätte! Ihm könnte sie jederzeit ohne Bedenken die Firma anvertrauen, auch für ein oder zwei Jahre, falls sie einmal schwer erkranken sollte. Das zu wissen beruhigt.
Im Eisschrank wartet der Wein, ein Grauburgunder aus Baden, den mögen sie beide. Rolf ist heute aus Oakland zurückgekehrt, wo er als ihr Detektiv in Johns Vermögenslage und Geschäftsgebaren herumgeschnüffelt hat. Dazu musste er mehrmals das Gesetz übertreten, um an vertrauliche Unterlagen zu kommen, auch in staatlichen Behörden, ist mit falscher Identität aufgetreten und hat ihr sofort Bericht erstattet.
Das ist wirklich eine Prüfung seiner Ehrlichkeit und Verlässlichkeit. Denn Eifersucht ist eines der stärksten Motive, um ihr etwas vorzumachen, abgelichete Unterlagen, Daten auf Disketten zu manipulieren, um ihr ein Bild von John zu präsentieren, bei dem es einem graut. Also sie an seiner Stelle hätte das getan! Etwa so:
Johns Vermögenslage ist katastrophal, er steht kurz vor dem Bankrott, die US-Steuerfahndung ist ihm auf den Fersen, er steht mit einem Bein schon im Knast. Als rettenden Strohalm hat er sich mit der Mafia eingelassen und derart krumme Geschäfte mit ihr gemacht, dass sein Konzern, wenn er nicht als Konkursmasse endet, über die sich die Geier und Haie des Business hermachen, auf ewig von Verbrechern erpressbar bleibt. Mit so etwas willst du verschmelzen? (Natürlich nicht so direkt, sondern in Form von Anspielungen zwischen den Zeilen, dass man es herausinterpretieren kann! Und natürlich weniger dramatisch. Nicht so dick auftragen!)
So! Das war die Überprüfung. Die kann also abgehakt werden. Darauf gleich einen Schluck Wein mit ihrem Detektiv. Dann noch folgende Termine auf der Liste, die noch in Deutschland zu erledigen sind:
Einwohnermeldeamt: übermorgen
Aufsichtsrat: morgen vormittag, 9 Uhr
Arzt: heute nachmittag, in einer guten Stunde
Prokurist: morgen
Notar: übermorgen, 11 Uhr
(Das Brautkleid kauft sie drüben)
Dann Abflug! Der Zukunft steht nichts mehr im Wege.
So, jetzt ihm den Wein anbieten. Aber sie zögert. In Rolf steckt doch ein kleiner Junge, der traurig ist, weil seine Hoffnungen sich zerschlagen haben. Der Korb hat ihn weh getan, und richtig darüber weg ist er immer noch nicht, das spürt sie. Darauf soll er auch noch mit ihr anstoßen! Vielleicht schmeckt ihm dann der Wein wie Gift. Besser, sie trinkt alleine ihr Glas, wenn er gegangen ist.
Als er fort ist, holt sie den Wein aus dem Eisschrank. Bis zum Termin ist noch Zeit, eigentlich verachtet sie ja Menschen, die schon so früh zum Alkohol greifen. Die müssen sich Mut antrinken, aber heute ist eine Ausnahme. Ihr eifersüchtiger Spürhund hat nichts, aber auch rein gar nichts gefunden. Wenn das kein Grund zum Feiern ist!
Sie weiß, dass es ein Grauburgunder ist, sie hat ihn ja selbst für diese Gelegenheit ausgesucht, trotzdem liest sie noch einmal auf dem Etikett und leckt sich dabei die Lippen: Grauburgunder. Gewachsen auf Vulkanboden. In Baden. 13 % Alkohol.
Sie setzt den Korkenzieher an, dreht seinen Griff und lässt den Bohrer in den Korken eindringen. „Nicht zu tief!" fällt ihr plötzlich ein. Wenn die Metallspitze unten rauskommt und den Wein berührt, kann das den Geschmack beeinträchtigen. So, das ist wohl tief genug. Jetzt die beiden Metallbügel nach unten drücken, zwei Zahnräder übertragen die Kraft ihrer Hand auf den Bohrer und der Korken muss heraus. Au! Ist sie ungeschickt! Da ist ihr ein Stück Haut des Fingers zwischen Zahnräder und Bohrer geraten. Sie blutet! Und sie sieht im Flaschenhals: Da schaut ja doch die Metallspitze unten raus und ist in die Flüssigkeit gedrungen. Ihr wird schwindlig, alles dreht sich, dass sie nicht mehr stehen bleiben darf. Das hat sie noch nie erlebt, und das kommt so ohne Vorwarnung, urplötzlich! Erschrocken kriecht sie ins Schlafzimmer und lässt sich ins Bett fallen. Da ist sie sicher. Das beruhigt sie etwas und der Anfall lässt nach. Durch die Schlafzimmertür fällt ihr Blick auf das Telefon im Flur. Jemand könnte anrufen. John von drüben. Oder jemand aus der Praxis fragen, warum sie nicht kommt. Oder ihre Sekretärin aus der Firma. Da darf sie doch nicht drangehen! Die dürfen doch nicht mitkriegen, wie es ihr jetzt geht. Sie tastet sich zum Telefon und zieht den Anschluss aus der Buchse. So, der Saft ist raus. Sie legt sich wieder ins Bett. Und wenn jemand an der Haustür schellt, muss sie nicht aufmachen. Es ist Tag, sie hat kein elektrisches Licht brennen, man kann also nicht von draußen sehen, dass sie da ist. So ein Schwächeanfall ist nicht die Welt, Hauptsache, es erfährt keiner davon. Der Telefonapparat ist tot, zufrieden sieht sie vom Bett aus, dass sein Display, auf dem die Nummern der Anrufer erscheinen, erloschen ist, sie fühlt sich wohlig und heimelig so am hellichten Tage in ihrem Bett. My home is my castle, muss sie denken, ein feste Burg. Die Situation ist gerettet. Noch einmal steht sie auf, um in die Küche zu gehen, sie schreitet vorsichtig - die Schwindelanfälle bleiben aus, sie vermeidet es, die Flasche Wein mit dem aufgepflanzten Korkenzieher anzusehen - sie will sich Milch warm machen und mit Honig süßen. Das hat ihr immer ihre Mutter gemacht, wenn sie krank war als Kind, und einmal noch später, als sie den Liebeskummer hatte. Gift für die schlanke Linie, aber Balsam für die Seele. Ah, wie gut das schmeckt und wie es von innen wärmt! Sie legt sich ins Bett und wickelt sich in die warme Bettdecke, zieht die Knie bis an den Busen und umfasst sie mit den Armen. Sie fühlt sich trostbedürtig wie ein armes Kind und genießt ihr Selbstmitleid - sie hat sich so abgerackert die letzten Jahre, da darf auch mal die Chefin im Bett bleiben und sich gehen lassen. Tröstlich ist der Anblick des Telefonanschlusses, der aus der Dose gezogen ist. So kann niemand anrufen und ihren jämmerlichen Zustand mitkriegen. Oder auf den Anrufbeantworter sprechen und so mit seiner aufgezeichneten Stimme bei ihr in der Wohnung anwesend sein und sie verwirren. Dieser herausgezogene Stecker! In ihr steckt wie in jedem Menschen ein innerer Schweinehund, der aus dem Anblick des lahmgelegten Telefons ein behagliches Gefühl von Geborgenheit schöpft - schäm dich, Chefin! Aber sie wird ruhiger. Das Gefühl der Panik löst sich auf. Alles wird wieder gut.
Naja, der Arzttermin gehört zu den Angelegenheiten, die sie in Deutschland noch erledigen wollte vor der Abreise. Sie ist eine Frau der entschiedenen Schlüsse, die Probleme anpackt, statt sie unerledigt mit sich herumzuschleppen bis nach drüben.
Andererseits: In Oakland hat sie auch einen entsprechenden Arzt zur Hand. Kein Problem für sie. Sie muss an ihre Schwester denken, als sie zusammen in New York waren, und lacht innerlich. Greti bekam plötzlich ganz schlimmes Zahnweh und wollte sich nur von einem deutschsprachigen Zahnarzt behandeln lassen, Mann, war das ein Theater, bis sie einen aufgetrieben hatten. Greti, du Kind! Sie weiß noch, als die beiden als Kinder zum ersten Mal flogen, mit den Eltern nach Athen. Diese Atmosphäre schon am Flughafen! Das Gewirr von fremden Sprachen. Die Riesenvögel, die starten und landen. Neben ihr im Flieger saß Greti und hatte natürlich Flugangst. Um sie zu beruhigen, durfte Maxi der Stoffbär auf ihrem Schoß sitzen. „Greti und Maxi reisen zu zweit", erklärte Mama. Aus diesem „zu zweit" hatte sie liebevollen Spott herausgehört.
Sie liegt und ihr kommt eine Idee. Wenn sie nicht selbst mit dem eigenen Wagen zum Arzt fährt, sondern mit dem Taxi. Wenn sie dann wieder so einen Anfall kriegt, im Taxi oder in der Praxis, ist es nicht so schlimm. Sie schiebt es dann auf das, was beim Arzt gemacht werden muss, und jeder wird Verständnis haben, die Sprechstundenhilfe, die Assistentin, der Arzt, der Taxifahrer, alle! Sie hat eben kein Herz aus Stein. Das ist sogar gut für ihren Ruf. Sie steht auf und geht in Richtung Telefon, vorsichtig, ha, der Anfall bleibt aus! Sie stöpselt das Telefon wieder ein, das Display leuchtet wieder auf, so, jetzt den Taxiruf wählen!.. Da kommt der Schwindel wieder, sie flieht zurück ins Bett.
Ruhig liegen hilft! Hat vorhin auch geholfen. Sie wird schläfrig, war ja schon seit halb sechs auf den Beinen und hat so viel erledigt. Ihre Gedanken und die Bilder vor ihrem geistigen Auge machen sich selbständig, aber ihr Bewusstsein bleibt wach und registriert alles. Sie ist in einen Halbschlaf gefallen, denkt sie zufrieden. Das ist gut, daraus schöpft sie immer Kraft. Dann kann sie doch noch alles erledigen.
Vor ihrem geistigen Auge entsteht wie von Geisterhand gezeichnet etwas Längliches, Zartes, fein wie Elfenbein, unirdisch schimmernd. Etwas wird für mich geschrieben, fährt es ihr durch den Kopf. Lesen und verstehen! Nein, es schreibt nicht, sondern zeichnet. Das Feine, Längliche treibt nach unten einen winzigen Knochenfuß und verlängert sich zugleich nach oben, bildet ein Knie und verjüngt sich wieder zu einem dünnen Oberschenkelknochen. Ein Kinderskelett entsteht. Mit den Höhlen in seinem kleinen Schädel blickt es sie an wie ein Kind mit großen Augen, ach, hättest du ein Gesicht, wäre es hilflos und traurig, das Gesicht eines Kindes, das verlassen wird. Die kleine Hand streichelt ihre Wange ganz kurz und sacht, es ist eine schüchterne, bettelnde Berührung, trotzdem zuckt sie zusammen, ihr Schreck überträgt sich auf das Kleine, es huscht zurück und ist wieder in ihr, sie schreckt aus dem Halbschlaf hoch, blickt sich erschrocken um: nein, das Kleine ist nicht zu sehen, es ist wieder in ihr mit seiner Traurigkeit, von der sich ihre Mundwinkel senken und ihre Tränen fließen.
Sei doch nicht so traurig! Schau, ich weine deine Tränen! Wird es dir dann leichter? Ach, Weinen tut so gut, dann wird das Scheiden nicht so schwer. Wein dich aus, ich setz dich auch nicht hau-ruck vor die Tür. Komm, wir gehen durch die Wohnung, deren Licht du nicht erblicken wirst, und sehn sie uns durch meine Augen an, damit du Abschied nehmen kannst. Besser ist es, nicht geboren zu werden, die Menschen sind so gemein. Da, unter der Dachschräge wird nicht dein Bettlein stehen, du wirst nicht den Regen trommeln hören und nicht in deinem kleinen Plastiksandkasten spielen, den man mit einem Deckel verschließen kann, und wenn du einschlummerst, wirst du nicht als Letztes hören, wie Papa deinen Sandkasten zuklappt unten im Garten, damit der Regen dir deine Sandburg nicht kaputtmacht. Und hier dies Telefon, die Tasten sind rund, nie wirst du sie drücken und dich mit einem deiner Freunde verabreden.
Ein blutiger Finger wählt eine Nummer, Rolf meldet sich, eine Stimme ruft: Komm schnell und hilf! Ich trage dein Kind unterm Herzen.




   
 
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