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Wir Deutschen bekommen immer weniger Kinder und sterben aus. Müssen wir uns dafür schämen? Nein. Ein einzelner Mensch muss sich ja auch nicht schämen, weil er altert. Und Laub, das sich verfärbt und sich vom Winde davontragen lässt, ist auch nicht unwürdig, sondern spricht unseren Schönheitssinn an. Erlischt der Wille zum Kind, verwelkt ein Volkskörper, dann waltet ein Naturgesetz, dem alles Lebendige unterliegt: Jeder Organismus altert irgendwann und stirbt. Wir verachten ja auch nicht die Kultur der Ägypter, weil sie ausgestorben sind. Und Ovid bewundere ich, obwohl die Sprache, in der er dichtete, heute tot ist. Wäre das Römische Reich nicht untergegangen, gäbe es keine französische, englische, osmanische Kultur. Würde jede Pflanze ewig leben, könnten keine neuen nachwachsen, weil die alten ihnen keinen Platz an der Sonne gönnten. Steine freilich sind von Dauer, aber sie sind anorganisch, doch Leben ist Wandel: Geburt, Wachstum, Alter und Tod. Ja, auch der Tod gehört dazu, ohne ihn gäbe es keine Lebendigkeit. Das ist sein erhabener Sinn. Trotzdem scheint viele Deutsche die Erkenntnis zu kränken, dass sich durch ihre Kinderlosigkeit das Sterben unserer Nation vollzieht, dass wir Kinderlosen das Verwelken unseres Volkes verkörpern. Lieber sagt eine Frau, die verhütet oder abgetrieben hat: In diese Welt, in der ich Nachwuchs und Karriere nicht vereinbaren kann, setze ich keine Kinder! Sie sagt es energisch, selbstbewusst, und fühlt sich als handelndes Subjekt, nicht als Objekt, in dem sich ein Naturgesetz vollzieht, dem alles Lebendige, sei es eine Pflanze, ein Tier, ein Mensch oder ein Volk, unterliegt.
Nein, wir Deutschen müssen uns nicht schämen, aber Trauerarbeit leisten, denn der Verlust von Jugend und Gesundheit tut weh.
Ideal wäre es, in Würde zu altern. Vielen Völkern gelingt es nicht, was auch für viele Einzelmenschen gilt. Da stürzt sich ein Greis in amouröse Abenteuer und lässt sich von einer jungen Geliebten finanziell ruinieren, um nicht sein Alter fühlen zu müssen. Oder ein Volk stürzt sich in zweifelhafte militärische Unternehmungen, um jung und siegreich zu bleiben, ich habe mich
hier damit beschäftigt. Um in Würde zu altern, müssen wir uns mit unserem Verfall abfinden, ihm ins Auge blicken, erkennen, was noch geht, was nicht mehr geht, für Ersteres dankbar sein, wegen Letzterem Trauerarbeit leisten, statt unser Welken zu verdrängen und zu überschminken, wie das zum Beispiel in einem EMMA-Artikel geschieht, den ich mir jetzt vorknöpfe, weil er demonstriert, dass die Verleugnung des Alterns würdelos und lächerlich macht.
Titel und erster Satz stimmen den euphemistischen Tenor an, der fast den gesamten Artikel durchzieht:

Glücksfall Geburtenrückgang

…denn ihm haben wir es zu verdanken, dass wir älter werden dürfen, ohne uns gegenseitig totzutrampeln.

Das gilt für Volkskörper, die vor Jugendkraft und Gesundheit nur so strotzen. Da nehmen sich die zahllosen Menschen gegenseitig den Platz an der Sonne weg, es kommt zu blutigen Bürgerkriegen oder Erweiterungen des Lebensraums durch Eroberungskriege, Stichwort: Volk ohne Raum. Die Römer waren ein Beispiel dafür, sie expandierten in ihrer Anfangszeit, als viele Kinder den Namen Decimus bekamen, weil sie Nr 10 waren. Die Nazis wollten das wiedererwecken, aber heute sind wir Deutschen so weit davon entfernt, dass es Geschichte ist, wenn auch nicht vergessen. Nein, wir wären ja schon so froh, wenn jede deutsche Frau friedliche 2,1 Kinder im Durchschnitt hätte. Dann müssten wir uns auch nicht tottrampeln. Das tun Iren und Polen heute auch nicht. Unsere fehlenden Kinder haben wir durch Einwanderung ersetzt, und von dem Türken in der Straßenbahn fühle ich mich nicht niedergetrampelt und umgekehrt hoffentlich auch nicht.
Kennt ihr die Fabel vom Fuchs und den sauren Trauben? Ein Fuchs sieht Trauben und würde so gerne in ihren Genuss kommen. Aber sie sind ihm unzugänglich, sie hängen zu hoch. Pah, ich will sie gar nicht, sie sind ja sauer, erklärt er. Doch sein Selbstwertgefühl leidet darunter, sonst hätte er es nicht nötig, sich zu trösten, indem er die Trauben entwertet.
Kinder? Die werden uns tottrampeln, bei der Überbevölkerung der Welt! Der Autor des Artikels schreibt der EMMA-Leserin aus dem Herzen, indem er entwertet, was sie nicht hat. Was typisch ist. Der kinderlose Wiglaf Droste schreibt zum Thema Geburt:

Nach sechs bis acht Stunden heftiger Viecherei liegt die junge Frau, die eben zur Mutter mutiert ist, matt, aber glücklich in den Kissen, das Kind an die milchmächtige Brust gelegt. Auch die Hebamme, der junge Vater und die beste Freundin der Gebärenden, die nach Kräften mithalfen, hängen erledigt im Gestühl. Die Euphorie über den Eigenbeitrag zur Überbevölkerung wird durch körperliche und geistige Erschöpfung gedämpft.                                  (Wer schwappt, rumort nicht)

Ein Kind zur Welt bringen als „Viecherei“, „Eigenbeitrag zur Überbevölkerung“ – Wiglaf Droste, der Fuchs, stößt ins gleiche Horn, zu lesen war es wahrscheinlich auf der Wahrheits-Seite der taz, einem Stammtisch der Linken, wo man sich so richtig gehen lässt, was man auch nötig hat als Erholung für das übermenschlich anstrengende dauernde Gutsein. Wie müssen viele kinderarme Deutsche sich selbst verachten! Sonst hätten sie Schönfärbereien wie diese aus dem EMMA-Artikel nicht nötig:

Moderne Familien werden nicht kleiner, sondern größer. Die Einsamkeit wird weniger. 

Doch der demographischen Schreckenslogik zum Trotz wird die moderne Familie nicht kleiner, sondern größer. Wer zur Familie gehört, definieren nämlich nicht die Demographen, sondern die Familien selbst. Im Abstand von 50 Jahren wiederholte das Allensbacher Institut für Demoskopie die Frage „Wen rechnen Sie zu ihrer Familie?“
Während Ehegatten der Familie verloren gehen (die Nennungen fallen von 70 auf 58%), werden Eltern, (Ur)Großeltern, Onkel und Tanten und andere Verwandte heute häufiger zur Familie gezählt als vor einem halben Jahrhundert. Geburtenrückgang und Langlebigkeit führen dazu, dass Familien sich weniger in die Breite, sondern in die Länge dehnen, als „Bohnenstangenfamilien“. Auch Menschen ohne Kinder können, sich an Verwandte und Freunde anschließend, ihre Familie „machen“.

Auf die 60-jährige alter Jungfer wartet also gar kein einsames Alter. Sie hat zwar keine Kinder, aber ihre Mutter lebt noch. Unsere Familien verfallen gar nicht, sie ändern nur ihre Gestalt! Wir Deutschen sehen nicht alt aus! Nicht mehr der (Stamm)Baum mit seinen Ästen, Zweigen und Blättern ist Sinnbild der modernen Familie, sondern die Bohnenstange. Wie poetisch! Und wie verräterisch: Die Bohne steht nicht auf eigenen Füßen, sondern braucht eine Stütze, an der sie sich aufrecht hält. Ein treffendes Bild für die kinderlosen Alten, die nicht mehr von ihrem eigenen Fleisch und Blut gestützt und unterhalten werden. Ein treffendes Bild auch für den deutschen Volkskörper, der ja zum Pflegefall geworden ist, denn ohne Einwanderung würden unsere Wirtschaft, unser Gesundheitswesen nicht funktionieren. „Hey, Türke, mach mir die Stange!“ krächzt die Bohne.
„Auch Menschen ohne Kinder können, sich an Verwandte oder Freunde anschließend, ihre Familie machen“ – oder an Tiere! Wie erbaut doch der Anblick der vielen ältlichen Frauen mit Köter in unseren Parks! Er ersetzt das Kind, der Fotzenlecker – Wiglaf Droste, der nicht nur oft unter die Gürtellinie, sondern auch genial ins Schwarze trifft, verdanke ich diesen Begriff (1).
Familie? Die machen wir! Da sind wir souverän:

Was heute an den demographischen Klagemauern bejammert wird – Geburtenrückgang, Vergreisung, Migration -, sind also nicht Irrläufer oder Ausläufer der Evolution. Eher kündigt sich darin eine neue Entwicklungsstufe mit neuen Problemlösungen an. Gesellschaften stellen ihre Nachwuchssicherung um: von vielen, riskanten und kurzen: auf wenige, sicherere und längere Lebensläufe; von Quantitäten auf Qualitäten; von biologischer auf soziokulturelle Reproduktion; von Autarkie auf Arbeitsteilung.


Dies zu begreifen und zu akzeptieren fällt uns schwer. Es entspricht nicht unserer biologisch geprägten Vorstellung, dass der evolutionäre Erfolg einer Spezies, aber auch einer Kultur sich misst an der Zahl ihrer überlebenden Nachkommen. Der Gedanke, dass fortschreitende Arbeitsteilung sich weltweit nicht nur auf Güter und Dienste, sondern auch aufs Kinderkriegen erstrecken könnte, widerstrebt dem tief verwurzelten Vorrang, den wir eigenen Kindern geben. Dass Outsourcing nicht nur eine Option für die Produktion von Weizen, Oberhemden, Computerchips und elektronischen Telefonbüchern ist, sondern auch für die Reproduktion der eigenen Lebensform und ihrer lebendigen Träger, erscheint mehr als befremdlich.

Ach, von der Quantität zur Qualität! Wenn das kein Fortschritt ist! Unsere Altvorderen oder die Menschen der Dritten Welt mit ihrem Kinderreichtum: sie produzieren nur Quantität, ihre Kinder sind Massenware. Der deutsche Rentner, der seine Zeit vor dem Fernseher totschlägt und qualmt, der Langzeitarbeitslose, der Kohlehydrate in sich hineinstopft und mit Alkohol nachspült, das ist also unsere Qualität, auf die wir mit Recht so stolz sind! Und der obdachlose streunende Junge in Buenos Aires, der sich trotzdem abenteuerlich durchschlägt, unter zahllosen Erfolgserlebnissen und Kränkungen, oder das arme afrikanische Bauernpaar, das sich und seine Kinder trotzdem durchbringt – kann solch ein Leben nicht auch seine ihm eigene Qualität, seinen Wert haben und Achtung verdienen? Damit wir uns richtig verstehen: Schwieriger wird das Urteil über Qualität und Würde, wenn, um nicht zu verhungern, die Bauernfamilie ihre 10-jährige Tochter oder der streunende Junge sich prostituieren muss (trotzdem steht mir nicht das Recht zu einem donnernden Unwerturteil zu). Und wenn ein Langlebiger der Ersten Welt ein Seniorenstudium aufnimmt, dass seinen Horizonterweitert und ihn zu einem besseren Urteil über bestimmte Verhältnisse bringt, so ist das eine Art von Lebensqualität, für die ich Respekt habe. Keinerlei Respekt aber flößt mir ein, wenn die Dekadenten sich auch noch für das Maß aller Dinge halten.
Ach, und diese Sprache: „Gesellschaften stellen ihre Nachwuchssicherung um“ – kein vergreisendes Volk, das einem biologischen Gesetz unterliegt, spricht so, sondern selbstbewusste Macher, die ihre Zukunft souverän managen, nicht Objekt, mit dem etwas geschieht, sind wir, sondern Subjekt, das sein Schicksal mit intelligenten „Problemlösungen“ gestaltet.
Die outgesourcte Ware Kind! Shopping ist geil, und Spaß macht es auch, seine Einkäufe zu Hause auszupacken. Aber da soll es doch Kinder geben, die sich nicht auspacken lassen! Wie ärgerlich, diese muslimischen Mädchen, die so an ihrem Kopftuch hängen und auch von ihren Armen und Beinen nichts zeigen wollen – hoch hängende Früchte.
Jedes Volk altert einmal, wir Deutschen müssen uns nicht dafür schämen – aber viele von uns tun es, bewusst und mehr noch unbewusst. Was ich zitiert habe, ist Beweis.

1) Ich weiß nicht mehr, in welchem Artikel ich ihn gefunden habe, bin mir aber ziemlich sicher, dass er von Droste stammt. Und selbst wenn ich mich täusche – es wäre ihm ja zuzutrauen!

   
 
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