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WIND, STURM, GEWITTER


Als Archetypus ist der Wind ein ausgesprochen männliches Wesen, häufig ein Gott oder von einem Gott gesandt oder losgelassen, ein Wesen, das angreift,  in menschliche Schicksale - oft als Waffe eines strafenden Gottes - mit Gewalt eingreift, Frauen erotisch bestürmt und auch schwängert, gerne zum Sturm anschwillt mit Donner und Blitz - ein potenter Mann.

Ein Beispiel ist Homers Odyssee 12,403ff. Die Gefährten des Odysseus haben Rinder, die dem Sonnengott Helios heilig sind, geschlachtet und verzehrt. Für diesen Frevel vernichtet sie Zeus (der Kronide, d.h. Sohn des Kronos), indem er einen Sturm erregt, in dem die Winde wie auch Blitz und Donner Attribute seiner männlichen Potenz mit ihrer Zerstörungskraft sind:

Aber als wir die Insel verlassen, kein anderes Land mehr,
Nichts als Himmel und Wasser den Blicken sich zeigte, da ließ nun,
Über dem Schiffsraum dunkles Gewölk der Kronide sich ballen.
Finsternis stürzte herab auf die Wogen und gar nicht mehr lange
Lief unser Schiff seine Fahrt; denn plötzlicher, pfeifender Westwind
Rauschte daher im Sturm eines mächtigen, wilden Orkanes.
Beide vorderen Segel am Maste zerfetzte ein Windstoß,
...
Zeus aber donnerte weiter und warf seine Blitze ins Fahrzeug.
Dies ging ganz aus den Fugen, da Zeus es zerschlug mit dem Blitzstrahl.
(Zitiert aus der Tusculum-Ausgabe, Übertragung: Anton Weiher)

Auch in Puschkins Gedicht Aquilo entlädt sich ein Gewitter:

Warum, du dräuender Aquilo,
Beugst du das Schilf am Ufer nieder?
Warum jagst du zum fernen Horizont
Die kleine Wolke so zornig?

In schwarze Wolken hat sich vor nicht langer Zeit
Das Himmelsgewölbe gehüllt,
Und die Eiche hat sich über der Höhe
In anmaßender Pracht gerühmt...

Doch du hast dich erhoben, bist losgebrochen,
Als Gewitter toste dein Ruhm -
Sturmwolken hast du auseinandergetrieben,
Und die majestätische Eiche niedergerissen.

Lass doch das klare Antlitz der Sonne
Von jetzt an freudig glänzen,
Und den Zephyr mit der kleinen Wolke spielen,
Und das Schilf sich ruhig wiegen.

Das Gedicht hat einen autobiographischen Hintergrund. Die kleine Wolke ist Puschkin selbst. Wegen respektloser Äußerungen in Wort und Schrift gegen die orthodoxe Religion sowie das zaristische Regime und mehrere seiner Stützen ist Puschkin von Zar Alexander I. auf sein väterliches Landgut Michajlowskoje verbannt worden. Aquilo, der Nordwind, ist der Zar, eine mächtige, Furcht einflößende Vaterfigur, dessen Zorn sich als Gewitter zuerst gegen eine Eiche in "anmaßender Pracht", die für den besiegten Napoleon steht, richtete, um sich dann über Puschkin zu entladen und ihn weit weg nach Michajlowskoje zu fegen.

Als die Mongolen unter Kublai Chan versuchten, Japan zu erobern, fügten Stürme ihrer Invasionsflotte zwei Mal erheblichen Schaden zu und zwangen sie aufzugeben. Die Japaner glaubten, die Götter hätten ihnen mit diesen Stürmen beigestanden und nannten sie deshalb Kamikaze, das heißt göttlicher Wind.
Kamikaze nannten sie dann im Zweiten Weltkrieg die Selbstmordaktionen ihrer Todesflieger, die sich auf amerikanische Kriegsschiffe stürzten. Der Todespilot identifizierte sich mit einem Wind und fühlte sich unbewusst als Waffe, mit der die vaterländischen Götter Japan verteidigen.

In den drei obigen Beispielen verkörpert der Wind männliche Potenz. Deshalb leuchtet es aus psychoanalytischer Sicht ein, dass er auch sexuelle Bedeutung, vor allem phallischen Charakter haben kann, was im Folgenden ausgeführt wird:

Als männliches Wesen ist der Wind den Frauen zugetan - und viele Frauen dem Wind. Diese Vorstellung lässt sich nicht als Männerfantasie abtun, weil sie archetypisch, also angeboren ist; auch Frauen haben sie. Ein Beispiel bietet der Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Marina Zwetajewa, die ihren Briefpartner so heftig begehrte, dass es ihm zu heiß wurde und er den Briefwechsel abbrach. Am 14. Juni 1926 schreibt sie ihm:

"Rainer, gestern abend ging ich noch hinaus, Wäsche abnehmen, denn Regen kam. Und nahm den ganzen Wind - nein, den ganzen Nord in die Arme. Und er hieß Du. (Morgen wird’s der Süd sein!) Nach Haus nahm ich ihn nicht, er blieb auf der Schwelle. Ins Haus ging er nicht, doch nahm mich aufs Meer mit, sobald ich einschlief."

Viele Frauen genießen es in der warmen Jahreszeit, wenn ihnen der Wind um die Beine weht. Sie verspüren ein lustvolles, erotisches Gefühl wie zum Beispiel Marilyn Monroe:


Als Liebhaber (oder Vergewaltiger) vermag der Wind auch zu zeugen. Frauen werden von ihm schwanger. Dazu zwei Beispiele: 

Eduard Mörike: Jung Volkers Lied

Und die mich trug in Mutterleib,
Und die mich schwang im Kissen,
Die war ein schoen frech braunes Weib,
Wollte nichts vom Mannsvolk wissen.

Sie scherzte nur und lachte laut,
Und liess die Freier stehen.
Moecht lieber sein des Windes Braut,
Denn in die Ehe gehen!

Da kam der Wind, da nahm der Wind
Als Buhle sie gefangen:
Von dem hat sie ein lustig Kind
In ihren Schoss empfangen.

Ovid lässt in seinen Metamorphosen (VI 702ff) Boreas, den Nordwind, Orithyia rauben und befruchten:

Das sind die Worte, die Boreas spricht, oder ähnliche stolze;
Und dann schwingt er die Flügel: ihr Wehen durchbraust die gesamte
Erde, es schaudert die weithin sich dehnende Fläche des Meeres.
Über die Gipfel der Berge hin schleppt er den staubigen Mantel,
Fegt den Boden und, ganz in Dunkel sich hüllend, umfängt er
Orithyia, die bange Geliebte, mit fahlem Gefieder.
Während er fliegt, entbrennen noch heißer die Flammen der Liebe.
Erst als der Räuber zum Volk und der Stadt der Ciconen gelangt ist,
Zieht er die Flügel zurück und hemmt die Fahrt durch die Lüfte.
Und dort ward die acteische Jungfrau des eisigen Fürsten
Gattin und Mutter durch ihn...
(Übersetzung: Hermann Breitenbach, Ausgabe: Reclam Stuttgart)

Auch weibliche Tiere befruchtet der Wind. Boreas nimmt in Ilias 20, 223-229 Pferdegestalt an und zeugt mit den Stuten des Erichthonios zwölf Füllen, die ohne Halme oder Ähren zu knicken über die Felder und sogar übers Meer dahinstürmen - diese Fähigkeit haben sie vom Vater geerbt.

Auch die Geier wurden, so glaubte man im Ägypten der Antike - vom Wind befruchtet, womit der Glaube zusammenhing, es gebe nur weibliche, keine männlichen Geier. Die weit verbreitete Überzeugung von der Windbefruchtung der Geier benutzten die Kirchenväter, um das Dogma von der jungfräulichen Geburt glaubhafter zu machen. Wenn Geier vom Wind schwanger werden, was damals als sichere Erkenntnis galt, so kann das doch auch bei einer Frau geschehen. Die Parallele zwischen den Geierweibchen und Maria wirkte auch dadurch stimmig, dass es der Heilige Geist ist, von dem Maria empfängt. "Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das von dir geboren wird, Gottes Sohn genannt werden" - so wird es Maria von dem Engel Gabriel in Luk. 1,35 verkündet. Der Heilige Geist heißt im griechischen Urtext pneuma hagion, was auch Der Heilige Wind bedeutet. "Der Heilige Wind wird über dich kommen..." könnte die Verkündigung auch übersetzt werden (1). Dem Dogma der jungfräulichen Geburt, der Zeugung ohne sterblichen Mann, liegt die archetypische Vorstellung vom Wind als Phallus Gottes zugrunde, wozu auch der
Sonnenpenis gehört - ist die Sonne doch in vielen Religionen eine hohe oder gar die höchste Gottheit. In der antiken Mythologie werden sterbliche Frauen oft von Göttern geschwängert; das Christentum hat diese Vorstellung im Falle Marias beibehalten, aber desexualisiert.

Ein männlich-potenter Wind begegnet auch in Heinrich Heines Gedicht Die Nacht am Strande. Ein Mann hat in einer stürmischen Winternacht ein Stelldichein mit einer schönen Fischertochter, die allein in der Hütte am Strand ist, weil Vater und Bruder auf See sind und fischen. Dieser Mann, der „Fremdling“, der auf Liebe aus ist, wird mit dem Wind identifiziert:

Schreitet ein Fremdling, mit einem Herzen,
Das wilder noch als Wind und Wellen.

Die Tür der Hütte stößt er auf wie ein Windstoß:

Aber plötzlich, die Tür springt auf,
Und es tritt herein der nächtige Fremdling

Das zarte Mädchen erschreckt sich und hat Angst, sie steht „schaudernd“ „gleich einer erschrockenen Lilie“, wird also mit einer Blume verglichen, die archetypisches Symbol für Entjungferung ist – im Fremdwort aus dem Lateinischen dafür, deflorieren < de-flor-are steckt flos, floris „Blume, Blüte“; die Blume pflücken heißt entjungfern – die Fischertochter fürchtet also sexuelle Gewalt von dem Mann. Und Heine vergleicht sie nicht mit irgendeiner Feld-, Wald- und Wiesenblume, sondern mit einer besonderen Blume, einer Lilie, die traditionelles Symbol für die Jungfrau Maria ist; auf Gemälden alter Meister hält in der Verkündigungsszene der Engel, der Maria ihre Schwängerung durch den Heiligen Geist/Wind ankündigt, oft eine gepflückte Lilie (Beispiele hier und hier) oder die abgepflückte Lilie steht in einer Vase (Beispiele hier und hier) – ist also Symbol für Entjungferung und Schwängerung der künftigen Gottesmutter. Diese Deutung dürfte ein dogmatischer Katholik ablehnen, weil er an die unbefleckte Empfängnis und Jungfräulichkeit Marias glaubt. Dem ist entgegenzuhalten: Die Gottesbrautschaft ist ein Archetypus, eine allen Menschen angeborene uralte Vorstellung. So hat der oberste Gott der Griechen Zeus immer wieder sterbliche Frauen befruchtet, oft in Gestalt eines Tieres, zum Beispiel Leda als Schwan oder Europa als Stier, und zahllose Kinder gezeugt, und dabei ging es immer natürlich zu, es war immer eine sexuelle Vereinigung.
Das Christentum, das ein verkrampftes Verhältnis zur Sexualität hat und sie als niedrig, animalisch verachtet, hat daraus einen asexuellen Vorgang gemacht: So ist es in der Bibel der Heilige Geist, also etwas Unfleischliches, mit dem Gott seine auserwählte Braut schwängert. Dass diese „unbefleckte Empfängnis“ ursprünglich ein Sexualakt, eine wirkliche Entjungferung war, daran erinnert die Lilie. Erinnern wir uns: Der Heilige Geist heißt auf Altgriechisch Pneuma hagion, was sich auch als „Heiliger Wind“ oder „Göttlicher Wind“ übersetzen lässt – der Wind aber hat als Archetypus phallischen Charakter, ist ein potenter männlicher Gott und Befruchter oder dessen Geschlechtsorgan; diese Doppelbedeutung von Pneuma hagion erinnert ebenfalls an den ursprünglich animalisch-sexuellen Charakter der Befruchtung durch (einen) Gott.
Was ist jetzt aber mit dem Wind in Heines Nacht am Strande? Ist er sexuell potent wie zum Beispiel Boreas bei Ovid, der Orithyia raubt und schwängert? Oder gleicht er mehr dem Heiligen Geist? Für ersteres sprechen diese Zeilen
:

Und über dem Meer, platt auf dem Bauch,
Liegt der ungestaltete Nordwind,
Und heimlich, mit ächzend gedämpfter Stimme,
Wie’n störriger Griesgram, der gut gelaunt wird,
Schwatzt er ins Wasser hinein,

Der Nordwind, wie bei Ovid ein rauer Geselle, hat hier also ebenfalls phallischen Charakter, er vermählt sich mit dem Meer, das als Urschoß, aus dem das Leben kommt, immer weiblich ist, was auch ein großartiges Heinesches Apercu zu der Seemacht Venedig aussagt:

Jeder, der heiratet, ist wie der Doge, der sich mit dem adriatischen Meer vermählt. Er weiß nicht, was drin ist, was er heiratet: Schätze, Perlen, Ungetüme, unbekannte Stürme.

Doch was ist mit dem Mann, dessen Herz „wilder noch“ als der „Wind“ ist und der die Tür zur Fischertochter aufstößt wie ein Windstoß und sie in Furcht versetzt? Identifiziert er sich mit dem Wind? Nein, denn er beruhigt das Mädchen, erinnert zwar an die Antike, als männliche Götter mit Menschentöchtern „zeptertragende Königsgeschlechter und Helden“ zeugten, bittet dann aber um heißen Tee mit Rum zur Vorbeugung gegen Husten und Schnupfen – versichert damit also, dass er keinem dieser archaischen Götter und keinem urwüchsigen Naturelement gleichen will,  sondern ein Mensch der Zivilisation ist, der sich auch zivilisiert benimmt und deshalb nicht zu fürchten ist.
Dadurch hat Heine den Archetypus Wind, der ihn zu diesem Gedicht inspiriert hat, in einem entscheidenden Punkt abgewandelt, so dass es aus der Tradition schlägt. Nehmen wir als Beispiel Mörikes oben zitiertes Gedicht Jung Volkers Lied. Das lyrische Ich ist stolz darauf, keinen gewöhnlichen Mann zum Vater zu haben, sondern eine Naturpotenz, die in Naturreligionen immer eine Gottheit ist; seiner Abstammung von einem Windgott ist er sich mit Wohlgefallen bewusst, und dieses Wohlgefallen teilt der Leser – man kann also von Identifizierung mit dem Wind sprechen. Auch für Marilyn Monroe gilt das. Sie lässt sich voller Lust mit dem Wind ein, statt ihn zu verteufeln oder lächerlich zu machen, aus ihrem Leben zu verbannen und sich als keusche Lilie zu stilisieren. Nicht so Heine in der Nacht am Strande - er identifiziert sich nicht wie Ovid oder Mörike mit der göttlichen Naturkraft Wind, sondern wertet sie ab, indem er sich flapsig über ihn äußert. Da der Wind für Sexualität steht, zeigt sich in diesem Gedicht eine Haltung, die mit der des Christentums verwandt ist: Sexualität wird abgewertet (2). Mit seiner Ironie, die den Boreas zum Griesgram herabwürdigt, zerstört Heine für sich selbst und für den Leser die Stimmung, in die ihn die Inspiration durch den Archetypus versetzt hat; er mag sich von der archetypischen Vorstellung nicht ergreifen lassen und der Leser soll das auch nicht (2a). Sein Fischermädchen gleicht deshalb nicht Orithyia, nicht Jung Volkers Mutter, sie ist kein Naturkind, sondern eine Lilie, eine kleine Jungfrau Maria – der Katholizismus, dem Heine später anheimfiel, ist hier schon präexistent. Heine, den die Linken als Anti-Spießer verehrten, offenbart hier eine Feindschaft gegen natürliche Sexualität, die auch sein Urteil über Jessica, eine Dramengestalt in Shakespeares Kaufmann von Venedig prägt (3). Heine ergreift die Partei des habsüchtigen jüdischen Wucherers Shylock, dessen Besitzfixiertheit (Freudianer sprechen von Analcharakter) sich auch auf seine Tochter Jessica erstreckt, die pubertiert und flügge ist und die er an sich binden und in seinem Haus einsperren und bunkern will wie seine Dukaten und Juwelen. Weil Jessica mit einem jungen Mann durchbrennt, spricht Heine über sie sein „Verdammungsurteil“ aus, denn er ist überzeugt: Ein jüdisches Mädchen tut so etwas nicht. Sein Vorwurf: sie verrate das Ideal der „Züchtigkeit“ und Enthaltsamkeit, wodurch sich die Juden seiner Meinung nach auszeichnen und über das Körperlich-Animalische zu einem geistig hochstehenden Volk erheben:

Das leichtfertige Herz ward allzusehr angezogen von den heiteren Tönen der Trommel und der quergehalsten Pfeife. Hat Shakespeare hier eine Jüdin schildern wollen? Wahrlich nein; er schildert nur eine Tochter Evas, einen jener schönen Vögel, die, wenn sie flügge geworden, aus dem väterlichen Neste fortflattern zu den geliebten Männchen. …
Bei Jessika ist besonders bemerkbar eine gewisse zagende Scham, die sie nicht überwinden kann, wenn sie Knabentracht anlegen soll. Vielleicht in diesem Zuge möchte man jene sonderbare Keuschheit erkennen, die ihrem Stamme eigen ist, und den Töchtern desselben einen so wunderbaren Liebreiz verleiht. Die Keuschheit der Juden ist vielleicht die Folge einer Opposition, die sie von jeher gegen jenen orientalischen Sinnen- und Sinnlichkeitsdienst bildeten, der einst bei ihren Nachbarn, den Egyptern, Phöniziern, Assyrern und Babyloniern, in üppigster Blüte stand, und sich … bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Die Juden sind ein keusches, enthaltsames, ich möchte fast sagen, abstraktes Volk …

Nun fragt sich: Warum tritt Heine in der Nacht am Strande wie so oft als Stimmungskiller auf und verdirbt sich selbst und dem Leser den Genuss des Archetypus, indem er den Nordwind als sexuelle Naturpotenz der Lächerlichkeit preisgibt, wodurch er sich von seinen Vorgängern wie Homer, Ovid, Mörike unterscheidet und aus der Tradition fällt? Er ist der Fuchs, dem die Trauben zu hoch hängen.  Deshalb macht er das Unerreichbare runter. Denn Heine war Playboy, der nicht Vater werden wollte, wovon zum Beispiel sein Gedicht  Als ich, auf der Reise, zufällig  zeugt. Weil er keine Kinder will, kann er oft nicht im Einklang mit der Natur lieben und dichten, was einer der Gründe für seine Depressivität ist – er ist Vertreter der urbanen Zivilisation, ein moderner Mensch, der Natur entfremdet und deshalb unglücklich. Seine Nacht am Strande offenbart, wie mächtig der Archetypus Wind ihn ergreifen will – doch bei dem Aspekt des Zeugens, der zu diesem Archetypus auch gehört,  ist es mit der Romantik aus, die aggressive entzaubernde Spitze gegen den zeugenden Nordwind, den „störrigen Griesgram“ setzt er der Ergriffenheit entgegen, um nicht von ihr hingerissen zu werden. Denn Vater will er nicht werden, er müsste dann ja die Fischertochter heiraten und erleben, wie das Mädchen Mutter wird und nicht mehr „zart“, „weiß“, „schlank“, „fein“ ist (4), er müsste erleben, wie der Ehealltag Einzug hält und der romantische Zauber verfliegt, müsste Frau und Kind ernähren, wozu er einen Brotberuf ergreifen und werden müsste, was er so verachtet: Philister – so nannten die Romantiker damals den Etablierten, den Biedermann, den Spießer, der seine Ungebundenheit an den Nagel gehängt hat und vor seinem Chef gehörig ducken muss.
Für Heines Weigerung, sich und den Leser vom Archetypus Wind ergreifen zu lassen, haben wir jetzt eine unschöne Deutung gegeben. Es bietet sich jedoch auch eine andere Erklärung an, die Heines Distanz zur Naturkraft Wind in einem günstigeren Licht zeigt.  Mit Wind und Sturm haben sich die Deutschen seit Aufkommen ihres militanten Nationalismus gerne identifiziert, besonders im Dritten Reich, wo der germanische „Sturm- und Rauschgott“ (5) Wotan wieder zu Ehren kam . C.G.Jung spricht deshalb in seinem zu Recht umstrittenen Aufsatz Wotan vom „Archetypus Wotan“, der die Seelen der nationalsozialistischen Deutschen beherrscht:

Hätten jene Deutschen, die 1914 schon erwachsen waren, gedacht, was sie 1935 sein würden? Solches aber sind die erstaunlichen Wirkungen des Windgottes, der weht, wo er will, und von dem man nie weiß, woher er kommt und wohin er geht, der alles ergreift, was ihm in den Weg kommt, und alles umwirft, was keinen Stand hat. Wenn der Wind bläst, so wackelt alles, was äußerlich oder innerlich unsicher ist.                      (§ 391)

Und in einem Interview erklärt er:

Again, you take the widespread revival in the Third Reich of the cult of Wotan. Who was Wotan? God of wind. Take the name “Sturmabteilung” – Storm Troops. Storm, you see – the wind (6) 

Die Deutschen waren unter Hitler von dem Wind-Sturm-Archetypus, verkörpert durch Wotan, ergriffen, sie identifizierten sich mit dem Wind, so dass Goebbels ihnen aus dem Herzen sprach und sie mitriss, als er sie in seiner Sportpalastrede mit dem Sturm verglich: „Nun Volk steh auf und Sturm brich los!“
Diesen Satz hat Goebbels geringfügig abgewandelt aus einem patriotischen Gedicht von Theodor Körner (1791-1813),
Männer und Buben, übernommen, das zum Kampf gegen die französischen Besatzer aufruft. Die Wind-Sturm-Gewitter-Metaphorik, die Körner in diesem Gedicht agitatorisch einsetzt, war also schon zu Heines Zeit Ausdruck des deutschen Nationalismus und Militarismus, der immer aggressiver wurde, bis er unter Hitler seinen Höhepunkt erreichte (7).
Dass sich Heine in der Nacht am Strande mit dem Wind, dieser Verkörperung des furor teutonicus, nicht identifizieren und nicht ergriffen sein Loblied singen will, sondern durch respektlosen Spott Distanz erzeugt, könnte neben persönlichen auch respektable politische Gründe haben – am Ende seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland warnt er prophetisch vor dem Ausbruch des deutschen Sturms:

… so wird der Naturphilosoph dadurch furchtbar sein, dass er mit den ursprünglichen Gewalten der Natur in Verbindung tritt, dass er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann, und dass in ihm jene Kampflust erwacht, die wir bei den alten Deutschen finden … Das Christentum – und das ist sein schönstes Verdienst – hat jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen.

Der Gedanke geht der Tat voraus wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. … Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.

Die „Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen“ und deren erneuten Ausbruch Heine fürchtete, hat er auch in der Nacht am Strande nicht vergessen, denn der Nordwind, mit dem er sich nicht identifizieren mag,

  erzählt viel tolle Geschichten,
Riesenmärchen, totschlaglaunig,
Uralte Sagen aus Norweg       (8)

Die Lilie als christliches Symbol wirkt in dem Gedicht mit seiner wildromantischen norddeutschen Landschaftsstimmung wie ein „Talisman“ gegen altgermanische Brutalität, die vom Christentum „einigermaßen besänftigt“, aber noch nicht richtig überwunden war. Dieser Zähmung der altgermanischen Brutalität diente auch die christliche Abwertung der Natur, auch der Natur im Menschen, der Sexualität, damit die Germanen sanfter, vergeistigter wurden – und zu dieser Degradierung des Natürlichen, Physischen gehörte auch die Sublimierung des befruchtenden und manchmal vergewaltigenden (Boreas bei Ovid) „göttlichen Windes“, des Windgottes, zum „Heiligen Geist“ – leider haben zivilisierte, verfeinerte und geistig höher stehende Völker weniger Kinder als urkräftige Barbarenstämme – deshalb wurde das Römische Reich von den Germanen überwunden, deshalb sterben überzivilisierte Völker aus und als letztes Aufbäumen gegen diese Tendenz (9) kam es unter Hitler zum Rückfall in eine Barbarei, in der Männlichkeit und Kinderzahl mehr zählten als Humanität und Bildung.

1) Zur Windbefruchtung der Geier und der Benutzung dieser Fabel durch die Kirchenväter vgl.: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Stichwort: Geier, vor allem die Spalten 432f. und 461f.

2) Hatte das Christentum eine heidnische Naturreligion unterdrückt, wurden die natürlich-animalischen Eigenschaften der alten Gottheiten vom neuen christlichen Gott abgespalten und verteufelt: Sie wurden Dämonen – zum Beispiel Pan zum gehörnten und bockfüßigen Teufel. Auch in Heines Gedicht wird das Sexuelle abgespalten und aus der Hütte hinaus auf das ungezähmte Naturelement Meer verlagert, auf dem der Nordwind liegt; er wird zwar nicht zum unheimlichen Dämon, aber zur Witzfigur.

2a) Die von Heine abgelehnte Identifizierung mit der Naturkraft Wind geschieht trotzdem: im Unterbewusstsein. Denn Vater und Bruder des Mädchens sind auf dem Meer, über dem der Nordwind "totschlaglaunig" wütet - wie leicht könnte die von ihm in Errregung versetzte, aufgewühlte See die beiden verschlucken. Dann könnten sie das Mädchen nicht mehr beschützen, der "Fremdling" müsste nicht mehr ihre Rache fürchten und könnte die Grenze, die er dem Mädchen gegenüber respektiert, ohne Angst überschreiten. Diese Totschlaglust des Nordwinds, dem die beiden Fischer ausgesetzt sind, lässt sich durch den klassischen Freudschen Ödipuskomplex erklären: Der Sohn begehrt in seinem Unterbewusstsein sexuell seine Mutter, während er seinen Vater, der ihn als eifersüchtiger Rivale daran hindert, hasst, töten will und zugleich fürchtet, denn vom Vater droht die Strafe der Kastration. Richtet der Jüngling seine Libido von Mutter (oder Schwester) weg auf ein fremdes Mädchen, können dieser ödipale Hass und diese ödipale Kastrationsangst auf diejenigen Männer übertragen werden, die auf das Mädchen aufpassen - meistens sind das ihr Vater oder Bruder. Diese ödipale Totschlaglust des "Fremdlings" ist zusammen mit seinem rohen sexuellen Begehren verdrängt und hinaus aufs Meer, in die ungezähmte Natur verlagert, auf den Nordwind projiziert, so dass es in der Fischerhütte manierlich zugeht.

3) Heinrich Heine: Shakespeares Mädchen und Frauen, Kapitel: Jessika

4) sondern ein „plumpes Fischweib“, wie er im folgenden Gedicht Poseidon das Fabelwesen Amphitrite nennt, das den Dichter auch noch auslacht, weil er kein richtiger brutaler Mann wie der homerische Held Odysseus ist, sondern nur ein „Poetlein“

5) C.G.Jung: Wotan, in: Gesammelte Werke 10, § 373

6) C.G.Jung: Diagnosing the Dictators – Interview, das C.G.Jung dem US-amerikanischen Journalisten H.R.Knickerbocker 1938 gab; abgedruckt in C.G.Jung Speaking. Interviews and Encounters. 1977, ND 1993, S. 118

7) und heute immer noch nicht vollständig abgeebbt ist. Die Sturm-Metapher benutzt auch Anders Breivik in einem Brief an die NSU-Terroristin Beate Zschäpe:
„Wir beide sind unter den ersten Regentropfen, die den gewaltigen, reinigenden Sturm ankündigen, der auf Europa zuzieht.“

8) Die totschlaglaunigen Riesenmärchen aus dem germanischen Norden sind auch ein Seitenhieb auf die deutschen Romantiker, die damals Dichtung bewunderten, in der die Menschen noch wenig verbildet durch Christentum und Zivilisation waren, also Märchen, Sagen, alt- und mittelhochdeutsche Rittergeschichten - beliebt war natürlich Germanisches wie die Edda, aber nicht nur: Vorchristlich-Naturreligiöses fanden Romantiker wie die Brüder Grimm, die nicht deutsch-national borniert waren, auch in keltischen oder serbischen Märchen, in Ovids Metamorphosen, bei Shakespeare oder Homer. In solcher Dichtung geht es natürlicher, also oft auch totschlaglaunig zu, doch wie Heine die Natur, auch die Natur im Menschen, die Sexualität, abwertet und das Christentum als Zucht- und Zähmungsmittel aufwertet, reizt mich zur Polemik.

9) Max Scheler hat diese im Nationalsozialismus gipfelnde Gegenbewegung gegen Vergeistigung des Menschen auf Kosten seiner Natürlichkeit bereits 1929 festgestellt, beschrieben und "Resublimierung" genannt - vgl. seinen Aufsatz Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs. Der Antagonismus zwischen Vergeistigung und biologischer Natürlichkeit ist auch ein Hauptthema in Heines Börne-Buch, in dem die Schädlichkeit hypertropher Vergeistigung auf Kosten des Körperlichen festgestellt wird: "Wann wird die Harmonie wieder eintreten, wann wird die Welt wieder gesunden von dem einseitigen Streben nach Vergeistigung..." (Helgoland-Tagebucheintrag vom  8. Juli)

Weitere Beispiele:

James Joyce: Araby (bicycle-pump)

   
 
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